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Ausgabe:

Dezember/2021

Spalte:

1125-1140

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Dietrich Korsch

Titel/Untertitel:

»Wir sind alle schuldig.«

Paradoxien der Identitätspolitik1



Der einst in der Entwicklungspsychologie Erik H. Eriksons2 popu­lär gewordene Begriff der Identität hat neue Prominenz gewonnen. Nun dient er nicht mehr zur Beschreibung von individuellen psychodynamischen Prozessen, sondern ist, unter beträchtlicher me­dialer Verstärkung, zu einem Leitbegriff geworden, der die soziale und politische Ausbildung von Gruppenkohärenzen bestärken soll. Darum ist eine Reflexion auf die Genese und die Leistungsfähigkeit des nun so gebrauchten Identitätsbegriffs sinnvoll.

I Identität, Differenz, Gleichgeltung

Begriffe sind in die Sprachgeschichte verflochten. Als Abbreviatur von Gedanken helfen sie zur raschen Orientierung.

Der Begriff »Identität« besagt zweierlei. Einmal eine Selbigkeit mit sich selbst. Diese ist aber nur möglich, sofern der gemeinte Sachverhalt von allen anderen Sachverhalten unterschieden ist. Beides gilt nur miteinander. Eine aussondernde Abgrenzung lässt sich nicht ohne die Annahme einer Selbigkeit des Sachverhalts vornehmen; diese bewährt sich in der Unterscheidung von allem anderen. Der Begriff selbst enthält damit einen Gedanken, den Gedanken nämlich, dass Identität stets eine Nicht-Identität aufruft. Formelhaft gesprochen: Identität ist Identität von Identität und Differenz. Damit finden wir uns sogleich in eine Geschichte der Begriffsbildung verstrickt, die, wenn man sie näher betrachtet, scheinbar endlos ist. Denn die Abgrenzung des ausgesagten Sachverhalts von allen anderen müsste ja auch von Seiten eben all dieser anderen Sachverhalte vollzogen sein, um die Vollständigkeit der Differenzen zu ermessen – und so erst den anfänglichen Begriff der Identität zu erfüllen.

Nun kann man sich diese Endlosigkeit auch ersparen, indem man auf das Verfahren reflektiert, dem wir dabei folgen. Immer nämlich arbeiten wir mit denselben Schritten, die wir im ersten Fall gegangen sind. Wir können also im Voraus wissen, was sich einstellt: erneut das Zugleich von Identität und Differenz, das sich lediglich durch wechselnde empirische Bestimmungen unterscheidet; und das ist Grund genug, auf den fortschreitenden Versuch zu verzichten, alles Mögliche durchmessen zu wollen. Allerdings hat dieser Gewinn auch seinen Preis. Denn wir müssen, wenn wir die reflektierende Perspektive auf unser Vorgehen einnehmen, unterstellen, dass wir in der Reflexion, die wir anstrengen, dazu in der Lage sind, in unserem Bewusstsein die Einheit von Identität und Differenz aufgehoben zu wissen, die uns in der empirischen Anwendung immer nur in fortlaufende Bestimmungsvorgänge verwickelt. Unser Bewusstsein erweist sich, wenn wir so verfahren, als dazu fähig, die unendlichen Differenzen, die mit dem Begriff der Identität verbunden sind, zu vereinen. Nicht im Sinne einer tatsächlich vorgenommenen empirischen Ordnung aller möglicher Sachverhalte, gleichwohl aber im Sinne eines nicht aussichtslosen Bestimmungsprozesses. Der Ankerpunkt dieser Zuversicht liegt in der Einheit des Bewusstseins, das in dieser seiner Verfassung gewissermaßen das Modell vorgibt, nach dem die Wirklichkeit zu verstehen ist, weil sie selbst ein durch Gegensätze verbundenes Ganzes ist.

Was uns dieser Überlegungsgang skizzenhaft vor Augen ge­führt hat, ist das, was bei Hegel »Geist« genannt wird.3 Im bewussten Umgang mit der Wirklichkeit erschließt sich deren wahrer Charakter, und dessen Beschreibung verweist uns auf eine aufzuhebende Differenzierung im Begriff des Wirklichen überhaupt. Tatsächlich findet bereits in der empirischen Wahrnehmung eine Zuordnung von Phänomenen statt, die mit dem Modell von Identität und Differenz arbeitet. Das ist ein endloser, aber kein sinnloser Prozess, weil die differenzerprobte Einheit des Bewusstseins die Klammer vorgibt, mit der Wirklichkeit vernünftig und zielgerichtet umgehen zu können.

In dieser Hegelschen Grundidee, wie man sie nennen könnte, steckt also eine Spannung von Schon und Noch-Nicht; es eröffnet sich eine Geschichte, die auf eine gegliederte Einheit des Verschiedenen im Ganzen hinausläuft. Es ist unübersehbar, dass diese Idee der Ausdruck des bürgerlichen Zeitalters ist, wie es in der Französischen Revolution seinen politischen Anfang genommen hat. Es gibt eine künftige Einheit ohne festgelegte Hierarchien; diese ergibt sich aus einem Prozess der wechselseitigen, alles einschließenden Bestimmung; und das Modell dieses Verfahrens wird vom menschlichen Bewusstsein entwickelt, das nichts anderes tut, als seiner eigenen Verfassung zu folgen, die es eben als einheitsstiftend erfasst hat. Vorgegebene, sich selbst vollziehende Einheit und prozessuale, zu entwickelnde Weltbestimmung sind miteinander verbunden, ja ineinander verzahnt, und die Einheit von gegenständlicher Erkenntnis und selbstbewusster Selbstbestimmung ist der Motor dieser Bewegung.

Dieser Grundidee ist freilich eine verschwiegene Voraussetzung unterlegt: dass nämlich in dem sich vollziehenden Prozess schon jetzt, bereits vor der zueinander wachsenden Einheit des Differenten, die Geltung anzutreffen ist, die immer schon anzunehmen ist. »Präsenz«, also wirksame und erfüllte Gegenwart, ist die Annahme, die in jedem Schritt des Bestimmungsprozesses unterstellt werden muss und ohne die das In- und Miteinander von Bewusstsein und Welt nicht zu haben ist. Diesen Gedanken stark gemacht zu haben, kann man Schellings ursprüngliche Einsicht nennen. Schelling, der Tübinger Stiftsgenosse und Berliner Nachfolger Hegels, hat sie seit seiner Natur- und Identitätsphilosophie abgewandelt in allen Phasen seines Werkes zur Geltung zu bringen versucht. Stets ist es um das erfüllte »Schon«, das daseiende »Jetzt« zu tun, und als solches wird es in wechselnden philosophischen und historischen Kontexten zur Aussage gebracht. Die späteste Variante, die Positive Philosophie Schellings, wollte berücksichtigen, dass es für das Bewusstsein dieser Präsenz selbst historischer Voraussetzungen bedarf, die nach ihren Grundbegriffen am ehesten religionsgeschichtlich zu entfalten wären.4 Die in Hegels dialektischem Prozess zu unterstellende Präsenz ist also nicht einfach vorhanden oder ergibt sich gar erst aus ihm, sondern besitzt in ihrem Vorkommen und in ihrer Wirksamkeit eine eigene Bedeutung, die zum Thema gemacht werden muss. Dem tendenziell utopischen Zuschnitt der bürgerlichen Philosophie Hegels wird so ein präsenzbezogenes Modell entgegengehalten. Auch dieses freilich verdankt seinen Rang seinem historischen Ort. Denn auch das Hegelsche Konzept einer philosophisch orientierten bürgerlichen Ge-schichte war alles andere als die Vorhersage einer automatisch sich einstellenden Verwirklichung. Ethisch-politisch kann auch bei Hegel der vernünftige Appell an die handelnden Personen nicht ersetzt werden. Um diese Impulse aber auszuführen, dafür bedarf es einer Präsenzvergewisserung im Handeln selbst; der Vollzug von Selbstbestimmung ist und bleibt die Triebkraft der Verwirklichung.5

Wichtig zu sehen ist, dass beide Akzente ins klassische Bürgertum um 1800 gehören: der implizit normative Impuls, wie er sich bei Hegel ausgesprochen findet, und die verborgen affirmative Präsenz, wie sie bei Schelling artikuliert wird. Ohne die Präsenzzusage wäre die bürgerliche Normativität eine utopische Ausflucht; und das Bewusstsein, jetzt schon eine individuelle Geltung für sich be­anspruchen zu können, bevor der Prozess universeller Vermittlung abgeschlossen ist, zehrt durchaus von dessen Verheißung. Das Individuelle wird zum vollends anerkannten Besonderen, indem es sich als Teil des Allgemeinen weiß; es ist aber schon es selbst, ohne seinen Wert erst vom und im Allgemeinen zugesprochen zu be­kommen.

Indem sich die Moderne in ihrer Grundstruktur so deutlich und so offen zugleich auslegt, wird ihr Projektcharakter klar. Sie gibt eine kräftige Verheißung, die nicht nur realisiert werden soll, sondern die auch verwirklicht werden will. Sie ist aber, bis jetzt, nicht erfüllt worden.

Das erste Manko trat sogleich auf, noch in der Französischen Revolution, als Freiheit und Gleichheit sozial und ökonomisch beschränkt wurden. Diese politische Restriktion wurde vertieft und verstetigt durch die Wirtschaftsverfassung des Kapitalismus und dessen widersprüchlich-einheitliche Verwirklichung des bürgerlichen Imperativs von Freiheit und Gleichheit. Indem die Arbeitskraft zur Ware wurde, breitete sich die Warenwirtschaft bis in die innersten menschlichen Lebensverhältnisse aus. Alle sind nun gleich als Agenten des Warentauschs; ob dabei Gegenstände und Dienstleistungen oder Lebenszeit und Lebenskraft getauscht werden, fällt unter den Tisch. Alle sind nun frei, weil zum Warentausch niemand gezwungen werden kann; wie jedoch diejenigen, die tauschen, in ihrem Leben beschaffen sind, spielt für den Vor gang des Tausches keine Rolle. Die Konsequenz ist eine widersprüchliche Verwirklichung der Individualisierung. Alle Menschen sind Individuen, als Subjekte des Tausches vereinzelt. In dieser Funktion aber sind alle als Individuen einander gleich, weil jegliche Besonderheit wegfällt. Die Allgemeinheit, die einmal als Ort verwirklichter Individualität gedacht war, ist in ein leeres Abstraktum ununterscheidbarer Gleichheit verwandelt. Der digitale Kapitalismus hat diese Struktur lebensweltlich verankert. Individualisierung vollzieht sich als Aufhebung der Individualität. Kein Wunder, dass damit nur diejenigen zufrieden sein können, deren Stellung im Wirtschaftsprozess ihnen Herrschaft und Wohlergehen sichert.

Die logische Struktur des Gegensatzes von Kapital und Arbeit, der den Prozess der Abstraktion vorantreibt, ist das Eine. Gerade um seiner Widersprüchlichkeit willen setzte sich diese Struktur aber historisch durchaus gewaltsam durch; das ist die andere Seite. Sie vollzog sich in der anfänglichen Ausbeutung und Unterdrückung der Menschen in Europa, die zu Lohnarbeitern gemacht wurden, also in dem Geschehen, das Marx die »ursprüngliche Akkumulation« nannte. Menschen wurden mit Gewalt zu solchen ge­macht, die nichts mehr haben als die Arbeitskraft, die sie eintauschen können. Menschen wurden aber auch selbst, vor allem, wenn sie außerhalb Europas lebten, zur Ware gemacht. Die zeitliche Koinzidenz von Kapitalismus mit Kolonialismus und Rassismus als dessen Rechtfertigungsstrategie besitzt sachliche Gründe. Die Ausdehnung der kapitalistischen Wirtschaftsweise ins Weltformat zog die Vergegenständlichung gewaltsam unterdrückter Menschen weltweit nach sich. Sie zu solchen zu stempeln, denen man Derartiges antun dürfe, dazu dienten die erfundenen Rassismen, die dem historischen Geschehen eine naturalistische Basis unterlegen wollten. Dem modernen Rassismus kommt daher vom Begriff her eine eigene Stellung in der Geschichte zu. Und er gewinnt durch seinen manifesten Widerspruch zur Idee der Moderne von Freiheit und Gleichheit aller Menschen seine Schärfe, ja, sein besonders hässliches Antlitz.6

Überboten wird dieser Rassismus des 18. und 19. Jh.s nur noch durch die Vernichtung des europäischen Judentums durch den deutschen Nationalsozialismus. Ohne jene Vorgeschichte des kolonialen Rassismus wäre die Shoah vermutlich nicht möglich gewesen; ohne die kapitalistischen Mechanismen, die in dieser Epoche wirksam wurden, auch nicht: Die Vergegenständlichung von Menschen ist eine Vorstufe ihrer Ausrottung. Vor diesem Hintergrund ist das historische Geschehen der Shoah als einzigartig zu beurteilen in der bisherigen Menschheitsgeschichte. Es gehört in dieser Besonderheit zum steten Hintergrund aller heutigen Debatten, in Deutschland zumal.

Hatte sich im Begriff von Identität um 1800 die Geschichte des aufstrebenden Bürgertums verheißungsvoll versammeln können und den Gedanken der Identität als Einheit von Identität und Differenz im Allgemeinen entfaltet, so wird im 20. Jh. das Scheitern dieser Idee manifest. Freilich: genau dieser Idee; insofern tragen auch die, wie wir sogleich sehen werden, veränderten Begriffskonstellationen noch in ihrer Negation die Züge jener Verheißung. Denn es ist jener moderne Präsenzgedanke, der die Aufmerksamkeit auf sich zieht – auch und gerade dann, wenn das Fortschritts- und Ganzheitsversprechen der Moderne nicht mehr geteilt werden kann.7

Auf eigentümliche Weise versammeln sich unter der Flagge der modernen Präsenzbehauptung ganz unterschiedliche, scheinbar ge­gensätzliche gedankliche Konstellationen. Die gewiss prominenteste wurde von Heidegger vertreten; und zwar in beiden Phasen seiner Philosophie. In der frühen Konzeption von »Sein und Zeit« war es die Prinzipialisierung der Individualitätsstruktur, die für unmittelbare Präsenz einstehen soll. In der späten »Seinsphilosophie« sollte diese vereinzelte Subjektivität in die umgreifende Ganzheit des Sprachgeschehens aufgenommen werden. Beides war für Heideggers Philosophie nur im Absehen von der modernen Ges­chichte möglich, deren Resultat sie ja ist, und endete in einem willkürlich ahistorischen Sprung zurück in die vorsokratische Philosophie.

An die Stelle seiner positivierenden Besetzung des Bruchs der Moderne trat bei Derrida der Versuch, die in ihm aufscheinende Differenz unter dem Namen der différance offen zu halten. Derridas Zurückhaltung ist aller Ehren wert, und der Widerstand gegen die Vertröstung durchs Allgemeine nur zu gut nachzuvollziehen. Im Hintergrund der gedanklichen Bemühungen bleibt aber das Insistieren auf der unmittelbaren Präsenz erhalten; und das ist eine Insistenz, die sich nun ihrerseits gegen alle Versuche der Vermittlung sperrt und also auf verschwiegene Weise ebenfalls differenzlogisch verfasst ist.

Der Versuchung, die unbestimmt gelassene différance auszufüllen, unterliegt auch, aus anderen Quellen sich speisend, der Konstruktivismus. Er ist die schlichte Konsequenz der Tatsache, dass die différance als wahrgenommen erscheint, wenn nicht gar als gesetzt behauptet werden muss – und daher scheint es folgerichtig, diesen Setzungscharakter konsequent zu beanspruchen und auszubauen. »Alles ist konstruiert«, lautet dann die Parole, die nicht nur die Tatsache des Denkens als Tat-Sache behauptet, sondern auch das Gedachte als Resultat des Denkens verpflichtend machen will und so Existentialismus und Technizismus um­standslos vereint. Identisch ist danach allein das in gleicher Weise und mit demselben Resultat Gedachte und Gemachte.

Damit kommt, von anderer Seite her und einer voluntaristisch-naturalistischen Aneignung Nietzsches folgend, Foucaults Idee des Diskurses überein, nach dem alles, was ist, sich den Umständen verdankt, unter denen davon gesprochen wird. Identität liegt nicht auf der Gegenstandsebene, sondern wird durch Machtverhältnisse gestiftet – in die man selbst, alternativlos, immer schon verstrickt ist und die man insofern auch nur perpetuieren kann.8

Diese geschichtlichen Wandlungen des Identitätsbegriffs muss man sich vergegenwärtigen, wenn man in die aktuellen Identitäts-Diskurse eintritt – in ihren logischen Strukturen und historischen Verwerfungen. Identitätsbildung vollzieht sich nun nicht mehr als partikulare Aneignung des Allgemeinen, sondern als Ausbildung eines unmittelbar geltungsbeanspruchenden Selbstseins. Sie ist der Reflex der widersprüchlichen Einheit des objektiven Eindrucks »alles läuft, auch ohne mich« und der subjektiven Empfindung: »auf mich kommt es unbedingt an.«

II Identitätsbildung und ihre Paradoxien9


Für die gegenwärtige Identitätsbildung ist die negative Einsicht von der Abstraktheit des Allgemeinen leitend – aus historischen Gründen, wie wir gesehen haben. An diesem historischen Ort nun entsteht »Diversität« als der Wert, der heute allenthalben akzeptiert und propagiert wird. Diversität ist, so betrachtet, das Zerfallsprodukt eines nicht mehr bindenden Allgemeinen – und hat in dieser Funktion dessen Verbindlichkeitsanspruch geerbt.

Als Bezugspunkt der Diversität erweist sich das eigene, jeweilige, je-meinige individuelle Dasein in Gestalt des Leibes. In seiner ihm eigenen Leiblichkeit begegnet jeder Mensch dem übriggebliebenen Rest des Allgemeinen. Sie ist das, was bei der Reduktion des Individuums aufs Tauschsubjekt vorerst übrigbleibt. In ihr ist aber der allgemeine Geltungsanspruch präsent, dem zuzustimmen ist – darum ist jeder Mensch zur Aneignung seiner Leiblichkeit genötigt.10

Wenn man es nun unternimmt, die individuelle Selbstbestimmung vom Leib her zu denken, dann zeigen sich sogleich zwei miteinander verzahnte, in ihrer Richtung aber gegeneinander strebende Bezüge. Das erste Moment besteht darin, sich als Leib selbst zu erhalten, also nicht in einer Vielfalt von Körpern unterzugehen. Dazu muss ich mich spüren – und zwar auf eine Weise, die mich mir selbst im Unterschied zu anderen fühlbar macht. Diese Weise ist das Begehren. Denn im Begehren weiß ich mich auf anderes bezogen – aber nun eben so, dass es »für mich«, »um meinetwillen« da sein soll. Leiblichkeit und Begehren sind nicht voneinander zu trennen; erst durch das Begehren (von anderem – für mich) wird der Körper, in dem ich lebe, zu »meinem Leib«. Es ist das umfassende Phänomen der Sexualität, in dem die grundlegende Figur des Begehrens eine zu bearbeitende Gestalt gewinnt. Selbstsein im begehrenden Bezug zu Anderem, das ist die erste Dimension individueller Selbstbestimmung vom Leib her.

Allerdings bleibt die Leiblichkeit zugleich als Horizont der Be­stimmung durchaus erhalten. Daraus resultiert das andere, ge­genläufige Moment individueller Selbstbestimmung vom Leib her. Auch die ganz individuell vorgenommene, selbstbestimmte Ge­stalt der Sexualität verlässt nämlich die leiblichen Möglichkeiten nicht und endet stets in einer neuen Form von Leiblichkeit, die zugleich überindividuell ist, ohne unmittelbar allgemein zu sein. Gerade durch die hochgesteigerten Individualisierungsprozesse hindurch bestätigt sich die grundsätzliche Alternativlosigkeit des leiblichen Daseins insgesamt. Es ist diese Gemeinsamkeit leiblich invarianter Existenz, die auch die Bedingung dafür darstellt, dass die Wahl der Formen des Begehrens und Begehrtwerdens überhaupt zu einem Ziel gelangen kann. Die leibliche Existenz ist nun aber nicht unmittelbar allgemein, sondern stellt sich stets in empirischen Besonderungen anthropologischer, geographischer, sozialer Art dar. Im Ausgang von der individuellen leiblichen Selbstbestimmung geraten daher diese verschiedenen Ausprägungen zum Bezugshorizont des eigenen Selbstseins – statt eines so unerreichbaren wie unerwünschten Allgemeinen. Empirisch besondere Formen der Leiblichkeit werden so für die Zwecke der Identitätsbildung formatiert.

Die Logik der Identitätsbildung vom Leib her enthält individuelle und soziale Komponenten; sofern sie in Absetzung vom Allgemeinen erfolgt, aber gleichwohl dessen verpflichtende Rolle übernommen hat, verstrickt sie sich in unabwendbare Paradoxien.

Identitätsbildung als individuelle Selbstbestimmung vom Leib her konzentriert sich auf die Sexualität unter dem Leitbegriff des Begehrens.11 Mit dem Begehren hat es eine doppelte Bewandtnis. Einerseits ist das Begehren, in anthropologischer Perspektive, mit jedem Moment des Lebensvollzugs verbunden; es reicht vom Begehren nach Nahrung über das Begehren nach leiblicher Vereinigung mit dem anderen Menschen wie nach sozialer Anerkennung durch denselben. Der andere Aspekt ist der historische. Auch und gerade da, wo das individuelle Subjekt in das abstrakte Tauschsubjekt transformiert wird, kann vom Begehren als Triebkraft nicht abstrahiert werden; im Gegenteil, es muss gerade und zu­mindest an das Begehren angeknüpft werden, um Tauschprozesse am Laufen zu halten. Gleichzeitig wird die triebhafte Sexualität gesellschaftlich zu zähmen versucht, wo immer sie sich nicht der Gewalt der Abstraktionsvorgänge unterwirft. In dieser Konstella-tion kommt der Geschlechtlichkeit eine bedeutende, kontrovers bestimmte Rolle für die Identitätsbildung zu.

Beide Gesichtspunkte, der logische und der historische, erweisen das Begehren als nicht negierbar. Niemand kann sich dafür oder dagegen entscheiden, zu begehren. Das zeigt gerade die härteste Askese, die die Macht des Begehrens so ernst nimmt wie nichts sonst; ebenso wie die kommerzialisierte Werbung, die auf die unmittelbare Ansprechbarkeit des Begehrens setzt. Die Paradoxien auf diesem Feld gründen in der modernen geschichtlichen Zumutung, dem Verpflichtungscharakter der Selbstbestimmung folgend nun gerade diese nicht-negierbare Verfassung des individuellen menschlichen Lebens als Gegenstand der Wahl zu betrachten. Daraus resultiert die Absicht, sich zur leibgeschichtlich evolutionär dominanten Zweigeschlechtlichkeit wählend verhalten zu sollen. Der Brückengedanke dafür besteht darin, das Geschlecht als »Konstruktion« zu verstehen, das »konstruktiv« verändert werden kann und soll. Es ist deutlich zu sehen, wie hier die begrifflichen Mittel des Konstruktivismus zum Einsatz gelangen, die sich nach dem Ende verbindlicher Allgemeinheitsoptionen ausgebildet ha­ben. Was »man« mir angetan hat, muss ich mir nun »selbst« antu n– nämlich »mich« zu »konstruieren«. Die eigentümliche Erweiterung dieses konstruierenden Umgangs mit der eigenen Geschlechtlichkeit besteht darin, diese nicht zum Ausgangspunkt für eine individuelle Fortgestaltung zu nehmen, sondern sie, sozusagen regres-siv, als erst noch bestimmungsbedürftige Grundlage zu fingieren.

Dabei stellen sich notwendigerweise zwei Paradoxien ein. Die erste nenne ich die der beschränkten Wahl. Die naturgeschichtlich evolutionäre Voraussetzung der Zweigeschlechtlichkeit hat zur Folge, dass sich alle möglichen Wahl- und Selbstbestimmungsakte in dem Spannungsfeld bewegen müssen, das durch die beiden Pole des Männlichen und Weiblichen vorbezeichnet ist. Dabei kann jedoch – selbst wenn man sich für die am tiefsten eingreifende Veränderung entscheidet, welche medizinische, internistische wie chirurgische Behandlungen erforderlich macht – nur ein Wechsel des biologisch-sozialen Geschlechts gewählt werden. Oft unter einer lebensgeschichtlich kontingenten Nötigung mit großen Leidensanteilen wird die gewählte eigene Sexualität ein Projekt der eigenen Selbstveränderung, das freilich in seinem Resultat der Logik der Zweigeschlechtlichkeit nicht entkommt. Eine »dritte Position« kann sich nur in fortgesetzten Momenten des Wechsels der äußeren Erscheinung ereignen, in denen eine Identität zu suchen wäre. Wenn man nicht Phantasien des »Transhumanismus« mobilisieren will, von denen freilich bereits grundbegrifflich abzusehen ist, dass sie abwegige post-anthropologische Träumereien darstellen.12 Denn noch diesem Begehr wäre die Grundkraft des Begehrens eingeschrieben, das in der Form seiner Vernichtung realisiert werden soll.

Die zweite Paradoxie ist die der unerreichten Individualität. Die erklärte Absicht ist ja die individuelle Selbstbestimmung am Ort des intimsten Selbstseins eines Menschen. Nun ist es unzweifelhaft, wie wir gerade unterstrichen haben, dass die Macht des Begehrens einen Grundzug humaner Existenz darstellt. Das Begehren ist aber nicht alles; vielmehr gehört gerade zu den Bedingungen seiner dauerhaften Befriedigung seine kulturelle Gestaltung. Menschliche Selbsterhaltung gelingt nicht ohne Kultur, also das gestaltende Verhalten zu sich selbst. Dieses stellt sich als ge­schichtliche Abfolge von Handlungen der Selbstbestimmung dar, die bei jedem Menschen, gleich welchen Geschlechts und in jeder geschlechtlichen Ausrichtung, individuell besonders sind. Sich regressiv auf die Voraussetzung der eigenen Sexualität zurückzubeziehen, reicht aber als Moment geschichtlich-kultureller Selbstbestimmung nicht aus; ein solches Verhalten verfehlt vielmehr die gesuchte Individualisierung. Denn im Ergebnis lassen sich auch sexuelle Identitäten nur wieder allgemeinbegrifflich fassen. Das Kürzel LBGTQX (oder welche Erweiterungen man dieser Formel noch immer hinzufügen mag) ist ja nichts anderes als die Summe von – zwar im Umfang begrenzten, aber doch logisch unvermeidlichen – Begriffen mit überindividueller Bedeutung, die auch durch weitere Vervielfältigung niemals »alle« einschließen kann.13

Man braucht sich aus diesem Grund gar nicht in sprachwissenschaftliche Kontroversen über eine Geschlechtsaffinität der Sprache zu verstricken, um einzusehen, dass der Versuch einer semantischen Repräsentation von Diversität die Individualität der gemeinten Personen niemals erreichen kann, zumal die »gendergerechte Sprache« Differenzen von Herkunft und Hautfarbe, religiösen Prägungen und politischen Überzeugungen ohnehin nicht sprachlich abbilden kann. Allgemeinheit kann schon logisch niemals durch die Aufsummierung von Besonderheiten erreicht werden; die Anerkennung von Individualität ist vielmehr in allen Fällen nur durch die – situationsbezogen adäquate – individuelle Verwendung der Sprache zu erzielen. Anerkennung ist eine Frage des praktischen Umgangs mit der Sprache, nicht der Vervielfältigung von Bezeichnungen.14

Die Paradoxien der sexuellen Identität resultieren aus der individuellen Aneignung der eigenen Leiblichkeit. Ihnen entsprechen Paradoxien der kollektiven Identität, sofern sich auch diese über leibvermittelte Phänomene aufzubauen versucht. Die leibbezogene Selbstbestimmung führt, vom Interesse an der eigenen Individualität her, in partikulare Bestimmungshorizonte, etwa in die community gleicher sexueller Orientierung. Gerade der Ausgang von der leiblichen Besonderheit muss nach gegebenen, nicht selbstgesetzten Horizonten suchen; die Partikularisierung des Selbstbestimmungshorizontes stellt sich als Naturalisierung desselben dar. Affirmativ wahrgenommen wird darin, was der eigenen Individualität Stabilität verleihen soll. Dabei kommt es zu einer eigentümlichen, höchst brisanten Doppelcodierung der körper- lichen Erscheinungsweise, wenn die ideologisch-gewalttätige Subsumtion von Menschen etwa unter ihre Hautfarbe (also der historische und bis heute andauernde Rassismus) zu einem selbst affirmierten Identitätsmoment gemacht wird, »race« also als Dis­tink-tionsmarker und Wertträger dient.15

Man muss diese in sich widersprüchliche Verquickung verschiedener Vorgänge beachten, um die Mehrdeutigkeit von »Rassismus« zu verstehen. Wird nämlich die partikulare Erscheinungsweise menschlicher Gestalt zum Selbstbestimmungshorizont in­dividueller Subjekte gemacht, dann erfolgt dadurch unvermeidlich eine Vertauschung der Erscheinung mit dem Wesen. Die Natura-lisierung der Selbstbestimmung führt zur Essentialisierung der erscheinenden Oberfläche. Diese Verwesentlichung trägt eine er­hebliche Sprengkraft in sich. Denn sie vereint die beiden Grundmerkmale der dynamischen Abstraktionsgeschichte der Moderne: selbstb ezüglich zu sein und zugleich einen Unbedingtheitsanspruch zu erheben. Das Besondere behauptet sich unmittelbar-absolut als das Allgemeine. Daraus resultiert eine zugleich subjektiv-selbstbewusste als auch moralisch-kritische Spitze. Sie ist der Hintergrund für die drei an dieser Stelle auftauchenden Paradoxien.

Die erste ist die Paradoxie von Macht und Schuld. Indem sich die anthropologisch-sozialpsychologische Funktion der Identitätsvergewisserung mit einem kritisch-moralischen Anspruch aufs Allgemeine verbindet, stellt sich die Zuordnung zum eigenen, partikularen Kollektiv immer als Ab- und Ausgrenzung von Anderem dar. Die neue Identitätssuche wiederholt, nun unter der Leitbeurteilung der Moral, die Ausstoßung, lediglich unter umgekehrten Vorzeichen. Damit wird die universalistisch-moralische Ablehnung der Begriffe »Rasse« und »Rassismus« jedoch partikularisiert. Die Machtfrage wird als Schuldfrage codiert. Denn es geschieht unter den Bedingungen der Gleichgeltung, also des identischen Präsenzrechts der Verschiedenen, dass »Diskriminierung« nicht als Unterscheidung, sondern zu Recht als Benachteiligung an den Pranger gestellt wird. Diejenigen, von denen man sich unter Rekurs auf die leibgeschichtlich vermittelte Natürlichkeit abgrenzt, werden zu­gleich moralisch diskreditiert.

Das funktioniert allerdings nur unter zwei Voraussetzungen. Deren erste ist, dass die Beschuldigten auf ihre eigene Schuld an­sprechbar sind. Es wird ihnen zugemutet, den Unterschied anzuerkennen zwischen der angeblich alles Individuelle wohlgeordnet einschließenden Allgemeinheit – und der partikularen und gewalttätigen Wirklichkeit, unter der sich die bürgerliche Gesellschaft realisiert. Würde man diese Schuldeinsicht nicht voraussetzen können, wäre der Widerstand eine reine Machtfrage, mit der die Übermächtigen konfrontiert würden. Hier die moralische Perspektive einzuspielen, die sich dem Universalismus verdankt, ist ohne Zweifel ein erheblicher Fortschritt – wenn sie denn konsequent durchgehalten wird.

Die Folgerichtigkeit dieser Sichtweise setzt nun aber voraus, dass auch die, die den Gegenmacht-Anspruch erheben, sich selbst moralisch beurteilen. Das heißt, dass sie wahrnehmen, de facto auch selbst in einem prekären Verhältnis zum Allgemeinen zu stehen; dass auch sie sich selbst ihre Unfähigkeit eingestehen müssen, im Ausgang von der eigenen Identität die Überwindung des Ge­gensatzes, die Realisierung eines befriedeten Allgemeinen vollbringen zu können. Doch dieses Selbsteingeständnis, wiewohl logisch stets verborgen präsent, kann so lange nicht artikuliert werden, wie das widersprüchliche Syndrom von Machtfrage und Schuldfrage weiterbesteht, also Partikularität und Wesentlichkeit miteinander vereint werden sollen. Wer in seiner neuen Selbstzuordnung auch für sich selbst das allgemeine moralische Urteil akzeptieren müsste, das er über andere fällt, würde mit sich selbst zerfallen. Die Hartherzigkeit und Unerbittlichkeit aktueller Diskurse ist geprägt von dieser Paradoxie, moralisch über andere zu urteilen, aber nicht über sich selbst.

Solange sich freilich im Appell an das Schuldbewusstsein noch die implizit gemeinsame Anerkennung der Universalität der Moral regt, kann in den Prozessen der sozialen Ausschließung die pure Vernichtung des anderen einstweilen vermieden werden.16

Das zweite Paradox ist die genaue Folge des ersten; es besteht in der Vervielfältigung der Ausschließungsprozesse. Wenn es sich denn so verhält, dass das Schlechte als das Andere im Interesse des moralisch Guten ausgeschlossen werden soll (womit potentiell auch den Subjekten, die für das Schlechte verantwortlich sind, ihre moralische Legitimation entzogen wird), dann ist, wiewohl verdrängt, das Schlechte im Modus des Ausgeschlossenen auch bei den Guten präsent. Das hat aber zur Konsequenz, dass sich abermals das rein Gute gegen diesen negierten Rest des Schlechten erhebt, um auch dieses kontaminierte Gute noch auszuschließen. Und nicht nur das: Das Verfahren des Ausschlusses der anderen muss geradezu stillschweigend damit rechnen, selbst zur Rechenschaft gezogen zu werden – und weiß vorab, dass dagegen nichts einzuwenden sein kann. Das hat aber zur Folge, dass sich die Differenzen, die sich über den Gut/Schlecht-Dual bilden, stets aufs Neue fortsetzen. Solches kann man weithin empirisch beobachten, etwa in den inneren polemischen Ausdifferenzierungen des LGBTQX-Komplexes oder in den Color-Abstufungen unter den People of Color. Dagegen kann man sich zwar durch ein Festklammern an der eigenen moralischen Güte und unter Verdrängung des eigenen Schlechten zu wappnen versuchen – doch diese Versuche scheitern immer wieder, weil der Re-Import des Ausgeschlossenen und die Pluralisierung der Differenzen nicht zu bremsen sind.

Das dritte Paradox ist die regressive Naturalisierung des Moralischen. Denn auch die Ab- und Ausgrenzung der Schlechten im Namen der Moral vollzieht sich in einem Akt der Zuordnung zu einem leibgeschichtlichen Kollektiv. Schuld ist dann nicht eine Frage der individuellen moralischen Verantwortung, sondern die Ausprägung eines natürlich-sozialen Wirkzusammenhangs. Auf bestürzende Weise wird so im Namen eines Antirassismus der Begriff »race« ahistorisch universalisiert. Alte weiße Männer sind aber allein aufgrund ihrer geschichtlich-natürlichen Zuordnung so wenig moralisch schlecht wie young queer people of color stets moralisch einwandfrei. Vielmehr ist es unerlässlich, die Moralität aller Menschen nicht nach ihrer Gruppenzurechnung, sondern nach ihrem individuellen Verhalten zu beurteilen, weil Gutes und Schlechtes immer schon miteinander verbunden und sprachlich im Prozess der Suche nach Zustimmung über das moralische Urteil voneinander zu scheiden sind. Solange jedoch die widersprüchliche Konstellation von Macht und Schuld weiterbesteht, gibt es kein Entkommen aus der Paradoxie.

III »Wir sind alle schuldig.«


Der hohe Wert der Diversität ist nicht durch Lust an beliebiger Vielfalt motiviert, sondern gründet in der Gleichgeltung des Verschiedenen ohne Zuordnung zu einer alles Einzelne einschließenden und in seinem Recht anerkennenden Allgemeinheit. Darin spiegelt sich das moderne Bewusstsein von der unbedingten Präsenz des Absoluten im Einzelnen. Die Folge dieses Wertes der Diversität ist die Aufwertung von Minderheiten; sie besitzen ihr Recht aus sich selbst, nicht erst aus ihrer Teilhabe am Allgemeinen, in der zwischen Minorität und Majorität, Regel und Ausnahme unterschieden würde. Diese Aufwertung schließt die Förderung von eigenen Identitätsbildungen unabhängig von Mehrheiten ein. Damit fällt aber auch ein besonderer Blick auf die geschichtlichen Umstände, die zu einer Verhinderung ihrer Anerkennung beigetragen haben. Selbstfindung und Selbstartikulation neuer Identitäten besitzen daher stets auch eine historisch-polemische Gestalt.

Allerdings vermag die Höchstgeltung von Diversität die Dialektik des Gegensatzes von Identität und Differenz auch nicht zu unterlaufen; im Gegenteil. Das zeigt sich in zwei Konsequenzen: Die moralische Aufladung politischer Konflikte verschärft die Differenzen, statt zu ihrer gegenseitigen Anerkennung zu führen. Das ist der intersubjektive Effekt. Und auch die Förderung der Diversität führt niemals zur Individualität; das ist der subjektive Mangel. Beides wird aber, mehr oder weniger deutlich, empfunden. Denn alle gegenwärtigen Handlungen stehen unter dem historischen Vorzeichen einer Erwartung gelingender Vergesellschaftung, entkommen also dem utopisch-bürgerlichen Imperativ nicht, der sich bis in die letzten Verästelungen der Selbstkonstruktion hinein fortsetzt. Darum kann das Nicht-Gelingen – subjektiv wie objektiv – als Schuld bezeichnet werden.

Nötig zu unterstreichen ist freilich, dass es sich bei diesem doppelten Versagen nicht um moralische Schuld handelt, die durch eigenes, gebessertes Verhalten vermieden oder aufgehoben werden könnte. Vielmehr steckt die hier erkannte Schuld in den Verhältnissen (spät-)modernen Lebens selbst, sofern wir uns in ihnen be­wegen. Sie ist die Konsequenz der beibehaltenen Idee der Gleichgeltung – nach dem Verlust einer befriedigenden, weil befriedenden Allgemeinheit. Auf eigentümliche Weise ist dieses moderne Schuldbewusstsein allenthalben ansprechbar; die identitätspolitischen Diskurse würden ohne diese Voraussetzung gar keine Resonanz erzeugen können.

Dass es sich nicht um moralische Schuld handelt, kann man auch daran erkennen, dass der Schuldvorwurf in der Regel nicht dazu führt, dass er angenommen wird. Im Gegenteil, zumeist führt er dazu, sich angesichts der überindividuellen Verursachung für nichtbetroffen zu erklären oder den Vorwurf mit dem tu-quoque-Argument zurückzugeben. Allerdings zeigt sich gerade darin, dass der Vorwurf, mitschuldig zu sein, tatsächlich eine umfassende Reichweite gewinnen kann. Wir sind alle schuldig – und können doch nichts ändern, weil eben die schuldverursachenden Umstände ja historisch produziert sind oder aktuell reproduziert werden – oder beides zugleich gilt.

Wie ist mit dieser Situation umzugehen? Gibt es einen Umgang, der den Sachverhalt nicht verleugnet und der dennoch dem uns innewohnenden modernen Imperativ der Selbstbestimmung folgt? Ja, den gibt es. Er besteht in dem individuellen Bekenntnis: »Ich bin schuldig.« Als individuelles Bekenntnis handelt es sich um eine eigene Tat, die nicht erzwungen werden kann. Dieses Bekenntnis fällt genau dann nicht unter den allgemeinen und oft propagierten Sachverhalt des Verschuldens aller, wenn es als Bezugspunkt seines Verfehlens nicht das Schuldigbleiben gegenüber der Realisierung des Allgemeinen nimmt, sondern die fehlende Anerkenntnis der Präsenz des Absoluten im eigenen Leben. Damit wird aber nun genau der Akzent aufgenommen und individuell angeeignet, der für die Auszeichnung des Besonderen in seinem Geltungsanspruch maßgeblich war.

»Ich bin schuldig«, das ist eine Selbsteinsicht, die mir niemand aufnötigen kann, die mir aber auch nicht genommen werden kann. Das individuelle Schuldbekenntnis ist, so betrachtet, die Quelle meiner eigenen Individualität. Die mit der Aussage confiteor ergo sum verbundene Gewissheit steht auf dem gleichen Rang wie das cartesische cogito ergo sum. Es handelt sich überdies um die einzige Aussage dieser Art, die ohne Weiteres unmittelbar allgemein sein kann. Denn die Einsicht »wir sind alle schuldig«, die sich nach diesem Maßstab der nichtergriffenen Präsenz des Absoluten im eigenen Leben bildet, besitzt einen individuellen Allgemeinheitscharakter eigener Art; sie ist hermeneutisch, nicht kategorisch zu nennen.

Das nichterzwungene selbsttätige Bekenntnis »ich bin schuldig« lässt nämlich den Subtext erkennen, nach dem bereits im fortlaufenden Prozess der Allgemeinheitsbildung ein unbedingtes Selbstsein angenommen wird. Mit einem solchen Selbstsein darf man ja genau dann rechnen, wenn eine Beziehung des Individuellen zum Absoluten gedacht wird, die sich nicht der Vermittlung durch das Allgemeine verdankt. Der Grundgedanke der aktualen Präsenz, der in unserer Analyse des modernen Identitätsgedankens auftauchte, ist dann nicht das vorweggenommene Resultat eines noch ausstehenden Ganzheitsprozesses, sondern der Ort der Ge­genwart des Absoluten, noch verborgen im allgemeinen Universalitätsversprechen integrativer Vollkommenheit. In der Gnadenlosigkeit aktueller identitätspolitischer Kontroversen ist es die Religion, die daran erinnert.

Wenn es sich so verhält, dann ist es eindeutig, warum allen Versuchen, sich seiner eigenen Identität durch internen Selbstbezug auf die leibliche Unmittelbarkeit oder durch externe Beheimatung in partikularen Kollektiven zu vergewissern, ein Erfolg grundbegrifflich versagt bleiben muss. »Schuld« erscheint zwar in der Differenz zum Allgemeinen, sie besitzt ihren Grund aber im Absehen vom Absoluten in der eigenen Existenz und dem Versuch, dessen Präsenz selbst herzustellen. Damit kommt eine tiefere Verfassung der humanen Existenz in den Blick. Was bedeutet diese Differenz im Begriff der Allgemeinheit?

Negativ muss man sagen: Es ist ausgeschlossen, die gegenwärtige Diversität erneut in eine übergeordnete Allgemeinheit zu­rückzuführen. Das ist der verlockende, aber aussichtslose Traum der konservativen Kulturkritik, die die Gegenwart als Abfall von einem vormalig funktionierenden Ganzen imaginiert, sei dieses nun politisch oder religiös begründet. Mit diesem Traum verschwindet auch die Aussicht, etwa »Gott« als Grund eines gesellschaftlich anzustrebenden Allgemeinen verwenden und einen »Ab­fall der Moderne von der Religion in den Relativismus« umkehren zu können.

»Ich bin schuldig«: Die christliche Religion ist in der Lage, diesen Sachverhalt begrifflich genau zu identifizieren, weil sie in ihrer zentralen Idee, dem Bild Christi, von der Präsenz des Absoluten in einem individuellen Menschenleben ausgeht – und zugleich alle Menschen auf diese Präsenz bezogen weiß. Die Theologie des 20. Jh.s hat herausgearbeitet, dass sich das christliche Gottvertrauen schon immer auf ein Anerkanntsein individuellen Lebens durch Gott gründete. Dass damit, wie wir nun sehen, ein Unterschied der Gottesgewissheit im eigenen Leben vom identitätsversprechenden Allgemeinen markiert wird, kann freilich erst unter modernen Be­dingungen erkannt werden.17

Nimmt man die Religion als Diskursfeld für eine Identitätskonstitution in den Blick, die sich nicht durch äußere Schuldzuschreibung auszeichnet, dann ergeben sich daraus drei nicht unerheb-liche Konsequenzen. Erstens rückt die historisch empfundene Schuld am Versagen der Moderne in die Perspektive existentieller Schuld. Es geht nicht um das Fehlschlagen dieses oder jenes Versuchs der Identitätsfindung über das nicht präsente Allgemeine. Es ist vielmehr die Grundausrichtung des eigenen Selbstseins betroffen. Im Versagen, in der Nichtidentität, in den unauflösbaren Konflikten dokumentiert sich diese Verkehrung der Existenz. Das ist der moderne Gehalt des traditionellen religiösen Ausdrucks »Sünde«.

Zweitens zeigt aber gerade diese Möglichkeit der Selbstdeutung die dann erst recht bestehende Beziehung zum Absoluten an. Das Schuldbewusstsein, einmal aufgedeckt, erweist sich als kräftiger Anker des Gottesverhältnisses. Denn in ihm ist enthalten, dass die Beziehung Gottes zum menschlichen Subjekt so grundlegend und unverrückbar ist, dass sie selbst durch den menschlichen Widerspruch nicht außer Kraft gesetzt wird. Das ist es, was die religiöse Sprache »Vergebung« nennt.

Drittens wird schließlich auch der Lebensumgang mit den Differenzen im widersprüchlichen Allgemeinen angeleitet. Es bleibt bei der Einsicht in die Unvollendbarkeit der bürgerlichen Allgemeinheitsidee; der Verdacht einer geheimen Totalität in dieser Konzeption muss zu Recht lautwerden, trotz aller verheißungsvoller Aussichten. Es tritt aber auch nicht der permanente Widerstreit einander ausschließender und bekämpfender Partikularidentitäten an deren Stelle, also die postmoderne Schwundstufe moderner Ganzheitskonzeptionen. Vielmehr kommt die Möglichkeit der un­bedingten Anerkennung der Verschiedenen in den Blick. Sie alle gründen, in ihrem Herkommen als mit sich identische Individuen, in der Unmittelbarkeit des Absoluten zu jedem Einzelnen. Daher, nirgendwoher sonst, begründet sich deren je eigene Identität, die für die verschiedenen individuellen Ausdrucks- und Sozialformen offen ist.18

IV Schuld und Verzeihung


Nun ist in der Moderne die Ausdifferenzierung der Religion als eigenes Kommunikationssystem eine – ebenso wie alles andere – nicht mehr zu widerrufende Tatsache. Es kann daher nicht erwartet werden, dass auch eine gedanklich schlüssige religiöse Rekonstruktion nicht-antagonistischer Identitätsbildung unmittelbar akzeptiert wird. Diesem Umstand widmet sich unsere letzte Überlegung.

Sie beginnt mit einer einfachen Beobachtung. Es gibt nämlich im tatsächlich gelebten Leben, in und unter allen seinen Bestimmungen, das außerordentliche Phänomen der Verzeihung.19 Verzeihung fügt sich nicht dem Gesetz des Tausches, der gleich um gleich abrechnet, nur Gutes mit Gutem und Böses mit Bösem vergilt. Vielmehr wird in der Verzeihung Ungleiches aufeinander bezogen und miteinander ausgeglichen.

Die Logik der Verzeihung ist komplex. Verzeihung vollzieht sich erstens als Sprachspiel von Bitte und Gewährung; sie kann nicht verlangt, schon gar nicht erzwungen werden. Sie setzt zweitens Selbstunterscheidungen auf allen Seiten voraus. Derjenige, der um Verzeihung bittet, ersucht darum, nicht mit seinen Taten identifiziert zu werden; und wer die Verzeihung gewährt, entspricht ge­nau dieser Bitte, vermag also auch für sich selbst die Unterscheidung nachzuvollziehen, um die gebeten wurde. Dafür ist aber ein Abstandnehmen von den eigenen Taten nötig, eine tiefgreifende Selbstkritik.

Dieser Vorgang ist weiterhin nur dann möglich, wenn es ein gemeinsames Drittes gibt, unter Bezug auf welches die Selbstunterscheidungen möglich werden: Wir sind voneinander durch die Geschichte unserer Taten getrennt, aber im Blick auf unser Personsein miteinander verbunden. Es erscheint nicht überflüssig, diesen Bezug auch aktiv zu artikulieren; daran erweist sich, wie gründ-lich die Unterscheidung von Person und Tat durchgeführt wird. Schließlich gilt viertens, dass die primäre sprachliche Handlung die Bitte um Verzeihung ist. Als Bitte ist sie immer riskant, auch wenn ihr eine appellative Kraft innewohnt. Die Bitte geht ins Offene und sucht darin neue Verbundenheit über aufgerissene Gräben hinweg.

Die Beobachtung dieses außerordentlichen Geschehens besitzt nun Rückwirkungen auf die eigene Selbstauffassung. Denn da, wo Verzeihung erbeten und gewährt wird, wird de facto von einer Verfassung des humanen Daseins Gebrauch gemacht, die sich der Dominanz der Schuld widersetzt – und zwar gerade dann und darin, dass die Permanenz der Schuld eingesehen wird. Wenn Verzeihung tatsächlich gewährt wird, dann ratifiziert die eigene Selbsterfahrung, dass sie auch grundbegrifflich nötig ist, indem bereits jeder Beobachter sich selbst als schuldig erkennt. Wenn Verzeihung gewährt wird, dann bildet sich dadurch allerdings zugleich auch eine stabilere und flexiblere Identität, die mit den eigenen inneren und im Handeln äußerlich auftretenden Differenzen umzugehen und in ihnen zu bestehen weiß.

Der Vergleich zwischen der Tausch- und der Verzeihungs-Logik legt nun klar, dass schon lebenspraktisch mit dem Gleichheitstausch nicht durchzukommen ist. Der Tausch kann daher als Grundprinzip der Identität gar nicht in Betracht kommen, so unnachsichtig er auch in der Moderne als Resultat des nichtrea-lisierten inklusiven Allgemeinen durchgesetzt wurde. Es spricht umgekehrt vieles dafür, das Außerordentliche der Verzeihung nicht als Außergewöhnliches zu verstehen, sondern als das verborgene Zentrum humanen Daseins. Das bedeutet aber, dass eine Identitätspolitik, die mit dem kategorischen Ausschluss des Anderen arbeitet, keine Aussicht auf gelingende Identität besitzt.

Das heißt nun für eine Beurteilung der Identitätspolitik, wie wir sie analysiert haben: Der Schritt zu dieser Art von Identitätsbildung ist unter den aktuellen Umständen der modernen Gesellschaft völlig nachzuvollziehen. Sie ist gleichwohl aussichtslos. Und sie ist das, weil sie sich dem Gesetz der abstrakten Identität, wie es im Gesetz des Tausches gleich um gleich festgeschrieben ist, auf bedrückende Weise unterwirft – und ebendiese Unterwerfung un­ter das Abstrakte zum Ausgangspunkt einer inhaltlich gefüllten, konkreten Individualität machen will. In solchen Wendungen erweist sich vollends die Gewalt der modernen Vergesellschaftung als Folge der gescheiterten Verheißung der Ideale der bürgerlichen Gesellschaft. Das zu verstehen, dazu ist nicht mehr und nichts anderes vonnöten als eigene, selbstkritische Einsicht. Einsicht, die darin der grundsätzlichen Maxime der Aufklärung treu bleibt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, auch gegen die faktisch-historischen Konsequenzen der Aufklärung.

Hat diese Einsicht praktische Folgen für die Lebensführung, die von der Aufgabe, eine eigene Identität zu finden, nicht entlastet ist? Ja. Solche Folgen ergeben sich, wenn man das Außerordentliche als das Grundlegende versteht. Sie zeigen sich sowohl auf dem Feld der individuellen Identitätsbildung als auch im Zusammenhang der intersubjektiven Zugehörigkeiten.

Die eigene Identität baut sich im Spannungsfeld von Leib und Seele auf; das Begehren, also das Spüren des leiblichen Triebs, ist dessen Inbegriff. Die Identität entsteht jedoch nicht aus diesem Spannungsfeld. Die Leib-Seele-Differenz kann und muss in ihrem unüberwindlich bleibenden Charakter anerkannt werden. Es tritt vor das eigene Bewusstsein die Fremdheit des Begehrens in seiner unkontrollierten Herkunft aus dem Organismus. Sich mit ihr gleichwohl zu befreunden, sie als eigenes, individuell mir zugehöriges Fremdes zu akzeptieren, ist die Bedingung dafür, ihr nicht nur fremdbestimmt zu unterliegen, sondern sie zu gestalten. Denn es gehört unabweislich zum Lebensvollzug, die Elemente des eigenen Daseins zu kultivieren, also mit ihnen ordnend und zielbestimmt umzugehen. Die Maßgabe der kulturellen Gestaltung der individuell-leiblichen Subjektivität erwächst eben aus der Einsicht in das Gegründetsein der eigenen Existenz in dem unmittelbaren Bezug zum Absoluten, welcher der Garant des unbedingten Einzelseins ist, und aus dem Bewusstsein der Notwendigkeit der Verzeihung, die diesen Bezug auch in den Fällen lebensgeschichtlichen Versagens aufrechterhält. Dass damit dem Anderen, als des sen Gegenüber mein eigenes Leben auftaucht, eine bedeutende Funktion für die Gestaltung meiner eigenen Identität zuwächst, versteht sich von selbst und soll hier nur noch einmal unterstrichen werden.

Die intersubjektive Identität, die ja als Horizont der leibseelisch-individuellen Identität stets mit am Platz ist, nimmt ebenfalls die Erfahrung der empirisch unaufhebbaren Differenzen als Merkmal der conditio humana an. Erfahrungen der Abhängigkeit, Erfahrungen unterschiedlicher Wertschätzung, Erfahrung von Entbehrung und Mangel – sie alle und noch mehr sind nicht grundsätzlich zu beseitigen. Aber zu verändern. Und sie müssen verändert werden – gemäß dem Grundsatz der durch die Präsenz des Absoluten im Individuellen gegebenen unbedingten Anerkennungspflichtigkeit. Das bedeutet: Die unterdrückenden Asymmetrien – in Wirtschaft und Gesellschaft, in Kultur und Religion – stehen unter dem Imperativ, in Verhältnisse der Reziprozität verwandelt zu werden. Also in Verhältnisse gegenseitiger Anerkennung, die jedem sein eigenes Leben zu führen erlauben. Dazu gehört in erster Linie die Gleichheit im Recht; jeder hat das unbedingte Recht, Rechte zu haben. Damit kann grundlegend die wechselseitige Anerkennung auf formaler Ebene gewährleistet werden. Hinzu tritt die wirtschaftliche Teilhabe, die für die Erhaltung und Entfaltung des Lebens erforderlich ist. Es ist also die Frage der Wirtschaftsverfassung aufgerufen; der moderne Kapitalismus erscheint dabei als bestimmendes Umfeld der aktuellen Situation, verlangt aber gerade aufgrund seiner eigenen Konsequenzen kritisch revidiert zu werden. Möglich ist die Gleichheit im Recht und der Ausgleich in der Wirtschaft aufgrund der Differenz des eigenen Selbstseins zu seiner aktuellen geschichtlichen Selbstdarstellung.

Nicht verhehlen darf man sich freilich, dass auf diese Grundbestandsmerkmale der Identität sich einzustellen durchaus auch einen politischen Kampf nötig macht. Einen Kampf, der sich gegen die abstrakte Vergleichgültigung einzelnen Lebens ebenso richtet wie gegen globale Abhängigkeitsverhältnisse – und beides im Ge­folge der modernen Geschichte. Kann man die Mächtigen dazu bringen, sich von ihren Taten zu distanzieren und dann um Verzeihung zu bitten? Nötig wäre es. Möglich ist es, wenn sich die Einsicht durchsetzt, dass Identität bereits gestiftet ist, wenn sie angestrebt wird.

Was wird bei alldem aus der Allgemeinheit, die ja zu Recht als unverzichtbarer Horizont der individuellen Gleichgeltung aufschien? Nein, sie verschwindet nicht; sie erweist sich aber als anders konstituiert. Nicht durch den Prozess der Abstraktion aufgebaut, die das Besondere sich einverleibt und das beharrlich Individuelle ausschließt, sondern eben durch die Teilhabe des schlechthin Individuellen am Absoluten. Diese Teilhabe ist die einzige Möglichkeit, Allgemeinheit und Einzelsein miteinander zu vereinbaren. Das geschieht aber auch schon, wenn das Außerordentliche der Verzeihung als das Grundlegende anerkannt wird. Und das gilt unabhängig davon, ob man diesen Vorgang religiös auszeichnet oder nicht. Ob er freilich ohne diejenige religiöse Begründung und Vergewisserung auskommt, die von der Präsenz des Absoluten im Individuellen weiß, ist zu fragen.

Abstract


Recent debates on identity often neglect their wider historical and theoretical background. The article reconstructs the framework both for the prominence and the paradoxes that emerge in the discourses by going back to their roots in classical bourgeois thinking, which give evidence for the emergence of key concepts as »body«, »sex/gender«, and »race« and explain the inevitability of actual contradictions. The concept of »reconciliation« however, as present in religion and in everyday life, can be regarded as a counterpart of the conflictual controversies. Two reviews of recent books in ThLZ 146 (2021), 965–968.1083–1087, posit the author’s view in the context of actual debates.

Fussnoten:

1) Vortrag anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Evangelische Theologie der Universität Hamburg an Frau Prof. Dr. Susan Neiman und Herrn Prof. Dr. Klaus-Michael Kodalle am 21. Mai 2021. Die Literaturhinweise sind zugefügt, um Kontexte der Argumentation sichtbar zu machen.
2) Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus (1959), 29. Aufl., Frankfurt a. M. 2020. Dazu: Peter Conzen, Erik H. Erikson, Grundpositionen seines Werkes, 2. Aufl., Stuttgart 2020.
3) Jetzt umfassend: Thomas Oehl, Arthur Kok (Hgg.), Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte, Leiden/Boston 2021.
4) Zu Schellings Spätphilosophie: Dietrich Korsch, Der Grund der Freiheit, München 1980.
5) Zum Verhältnis von Hegel und Schelling: Dieter Henrich, Andersheit und Absolutheit des Geistes, in: Ders., Selbstverhältnisse. Gedanken und Auslegungen zu den Grundlagen der klassischen deutschen Philosophie, Stuttgart 1982, 142–172.
6) Vgl. Egon Flaig, Weltgeschichte der Sklaverei, 3. Aufl., München 2018, 177–197.
7) Als klassisches Beispiel der historisch-politischen Kontextualisierung des Denkens: Jürgen Habermas, Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik, in: Ders., Theorie und Praxis, Frankfurt a. M. 1971, 228–289.
8) Zu Heidegger, Derrida und Foucault vgl. den kritischen Überblick bei Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1985, 158–190.191–247.279–343, sowie zur Kritik des Konstruktivismus: Christoph Türcke, Natur und Gender, München 2021, 81–120.
9) Ich folge hier der Logik des Gedankens und verzichte aus Platzgründen auf eine Literaturdebatte. Eine kritische Analyse einzelner Beiträge aus den gegenwärtigen Kontroversen findet sich in meinen Rezensionen ThLZ 146 (2021), 965–968.1082–1087.
10) Grundlegend zur Anthropologie der Leiblichkeit: Thomas Fuchs, Leib – Raum – Person. Entwurf einer phänomenologischen Anthropologie, 2. Aufl., Stuttgart 2018.
11) Vgl. Jule Jakob Govrin, Begehren und Ökonomie. Eine sozialphilosophische Studie, Berlin/Boston 2020 – so aufschlussreich für die Begriffsgeschichte (203–208) wie widersprüchlich in der aktuellen Deutung (314–318).
12) Vgl. Thomas Fuchs, Jenseits des Menschen? Kritik des Transhumanismus, in: ders., Verteidigung des Menschen, Frankfurt a. M. 2020, 71–118.
13) Cinzia Sciuto, Sie sind cisgender! Ein Essay über Geschlecht zwischen Identität und Stereotypen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.07.2021, Nr. 170, 6.
14) Eigentümlicherweise fehlen diese logischen Überlegungen in dem ansonsten durchaus ordentlichen Buch von Fabian Payr, Von Menschen und Mensch*innen. Zwanzig gute Gründe, mit dem Gendern aufzuhören, Wiesbaden 2021. Durch die fehlende Distanz kann sich auch dieses Buch, wie viele andere, nicht vom Genre der polemischen Betroffenheitsliteratur freimachen.
15) Zum Hautfarben-Rassismus: Flaig, Weltgeschichte (s. Anm. 6), 124–139.
16) Die Absurdität und Bedrohlichkeit solcher Ausschließungsprozesse doku-

mentiert so anschaulich wie betroffen das Buch von Helen Pluckrose und James Lindsay, Cynical Theories. How Activist Scholarship Made Everything about Race, Gender and Identity – and Why This Harms Everybody, Durham/NC 2020.
17) Vgl. Hans-Georg Geyer, Metaphysik als kritische Aufgabe der Theologie, in: Ders., Andenken. Theologische Aufsätze, Tübingen 2003, 7–21.
18) Zu den theologischen Begriffen von Sünde und Vergebung vgl. Dietrich Korsch, Negative Anthropologie? Luthers Auffassung vom Menschen als Sünder, in: Michael Moxter (Hg.), Konstellationen und Transformationen reformatorischer Theologie, Leipzig 2018, 299–314.
19) Vgl. Klaus-Michael Kodalle, Verzeihung denken. Die verkannte Grundlage humaner Verhältnisse, Paderborn 2013. In anderer Ausrichtung zum selben Thema: Martha Nussbaum, Zorn und Vergebung. Plädoyer für eine Kultur der Gelassenheit, Darmstadt 2017.