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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1112–1113

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Jürgens, Benedikt, u. Matthias Sellmann [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Wer entscheidet, wer was entscheidet? Zum Reformbedarf kirchlicher Führungspraxis.

Verlag:

Freiburg u. a.: Verlag Herder 2020. 368 S. = Quaestiones disputatae, 312. Kart. EUR 50,00. ISBN 9783451023125.

Rezensent:

Frank Weyen

Starke Worte kennzeichnen die Autoren, allen voran Matthias Sellmann und Benedikt Jürgens vom Theologischen Arbeitskreis der katholisch-theologischen Fakultät der Ruhr-Universität-Bochum und dem ›Zentrum für angewandte Pastoralforschung‹, in dem alle wissenschaftlichen Autoren des Sammelbandes: Jürgens, Benedikt; Sellmann, Matthias; Jansen, Ludger; Pyschny, Katharina; Schäfers, Kirsten; Brand, Aleksandra: Wer entscheidet, wer was entscheidet? Zum Reformbedarf kirchlicher Führungspraxis (Quaestiones disputatae 312), Freiburg/Basel/Wien 2020, sich an der RUB zusammengefunden haben. So zeigt schon das Geleitwort der Herausgeber, wohin die kritische Reise gehen soll: Ohrfeigen werden auf-gespürt, die der Kurie in Rom und dem bischöflichen Lehramt verabreicht worden seien, jedenfalls dem Lehramt, das seinen kulturellen Bruch mit dem Vatikanum II als Stärkung der Amtsvollmacht des Bischofs gefunden haben mag (18–20). Hierin, in der Amtsvollmacht des Bischofs, machen die Herausgeber den Ur­sprung aller ›strukturellen Übel‹ der römischen Kirche nach innen und in der Außendarstellung in die gesellschaftliche Öffentlichkeit hinein aus (10).
Ausgehend von einer medialen Empörungsbewirtschaftung oder einer hohen Skandalisierungsquote in den Diskursarenen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit stoßen die Herausgeber ihre Analysen in die Kurie hinein (9). Der scheinbare ›Heilsweg‹ eines »Synodalen Weges« wird hier mit verbaler Liebe protegiert (15), zu dem dieser Band einen Beitrag leisten will (21). Und so sind es denn auch Herausforderungen ›epochalen Ausmaßes‹, vor die die Herausgeber ihre eigene Kirche gestellt sehen. Diese werden vor allem im Bereich der Führung der Kirche verortet und kulminieren im Fokus des Bandes unter den Kontainerbegriffen ›Führen und Entscheiden‹ (13). Wohl wissend, dass Führen und Entscheiden an anderer geschwisterlicher Stelle anders verortet worden ist und auch nicht ohne strukturelle Flecken und Runzeln vonstatten gehen. Daher sehen die Herausgeber vier (Reform-)Dimensionen, in und von denen ›Ohrfeigen‹ verteilt worden seien und um die es innerhalb der ›neu‹ zu führenden Kirche zu gehen scheint: Ak-teure, Rechtskreise, Verantwortlichkeiten und Ressourcen (9). »Die Kirche […] hat […] ein Defizit an Praxis, an Hermeneutik und an Verschaltung beider Pole im Themenfeld von ›Führen und Entscheiden‹ auf der Höhe bürgerlich liberaler Gesellschaft« (12), führen die Herausgeber thetisch aus.
Der Band will dem Thema an sich Raum geben, Dialoge stimulieren, Handlungskorridore betreten, Theorie/Praxis-Allianzen schmieden, Sprachfähigkeiten er­zeugen sowie Lösungsphanta-sien anreichern. (14) »Die systemischen Energien, die der Machtmissbrauch und sein Management jetzt erkennen lassen müssten, wären auf ein neues Level von regelgeleiteter Absorptionsfähigkeit hin zu fokussieren und nicht auf die Abwehr von Realität oder die Einordnung neuer Fakten in überkommene Schemata.« (21)
Neben dem Blick in die Systemtheorie als möglichen Lösungsansatz für die Analyse (295–320) der derzeitigen Lage der römischen Kirche und Anleihen bei Dirk Baekers Führungs- und Leitungsverständnis (327–334) kommen die Herausgeber zu den wesentlichen Problemlagen, die die Situation ihrer Kirche in der beginnenden Digitalen Moderne kennzeichnen: das Lehramtsverständnis und die sich daraus ergebende katholische Tradition einer eigenen Hermeneutik (339–345). Charmant jedoch ist die Forderung, dass eine Rückbesinnung auf die Unterscheidung zwischen Lehramt, Tradition ( norma normata) und Schrift (norma normans, 350.354) auch dem römischen Katholizismus gut zu Gesicht stehen könnte. Denn den Weg aus einer lehramtlichen Sackgasse beschreiben die Herausgeber, indem sie sagen: »Es [das Lehramt] könnte sich vielmehr darauf beschränken darauf zu achten, dass niemand in der Kirche seine eigene Position verabsolutiert und gerade dadurch die Verbindung der Gemeinschaft aller Gläubigen untereinander, aber eben auch mit dem transzendenten und sich eindeutig bestimmenden immer wieder entziehenden Heiligen zu verdeutlichen.« (345) Mit Volkhard Krech sind die Herausgeber konstruktiv auf dem Weg einer Bestimmung pfarramtlichen Handels unter dem Gesichtspunkt der Interaktion unterwegs. Dass der Pfarrberuf in beiden Konfessionen eine Vermittlungsinstanz zwischen Kirchenorganisation und individuellen seelsorglichen Problemlagen sei, weist der römischen Kirche den Weg, der möglicherweise auch aus ihrem strukturellen Dilemma herausführen könne, jenseits aller Polemik, vorrationaler Moralvorstellungen, Empörung und me­dialer Skandalisierung (349). Denn bei aller Verfehlung Einzelner gelte es dennoch gerade jetzt Schaden von der römischen Kirche abzuwenden (352).
Die auffällige Fixierung dieses Bandes auf die Leitungsgruppe der Bischöfe lässt eine Leerstelle offen, die der Hinweis auf dem Synodalen Weg eingangs erhoffen ließ: das Prinzip der Demokratie unter synodalem Gesichtspunkt. Hierauf gehen die Autoren trotz Ankündigung leider nicht ein und lassen auch den berechtigterweise kritischen Blick in die Schwesterkirche vermissen (außer 365) sowie auch empirische Forschungsfragen. Die Beseitigung des ge­genwärtigen Verständnisses vom bischöflichen Lehramt, das teils umstritten entscheidet, was entschieden werden soll, oder auch der Zölibat sind möglicherweise zu einfach zu beseitigende Konsensziele. Das, was daraus folgt und danach in das entstehende Entscheidungs-Vakuum vorstoßen wird, muss heute skizziert werden, um dann handlungsfähig zu bleiben und wiederum Schaden von der Kirche Jesu Christi abzuwenden.
Die rechtlichen Grundlagen grundiert die Rechtswissenschaftlerin Judith Hahn mit ihrer Darstellung der kirchenrechtlichen Lage nach Vatikanum I und Vatikanum II. In ihrem Beitrag ar-beitet sie heraus, dass die Rechtslage in der römischen Kirche scheinbar Unklarheiten birgt. »Dass Rechtsverbindliches möglichst sicher und eindeutig zu sein habe, ist schließlich nicht nur ein Gebot des weltlichen, sondern […] Anforderung an kirchliches Recht (271). […] Rechtliche Klarheit hindert das Lehramt ja nicht, sich ergebnisoffen der Vollmachtsfrage zu widmen und […] das Recht bei Bedarf weiterzuentwickeln« (272).
Den Entwurf einer Strukturskizze für den Synodalen Weg in der römischen Kirche anzubieten, wäre ein lohnenswertes Ziel dieses Buches gewesen. Die vorgelegten Analysen dürften den Bischöfen und der Kurie kaum Möglichkeiten lassen, sich mit den Vorteilen synodaler Elemente auseinandersetzen zu wollen. Eine neuartige Struktur ›bottom-up‹ mit einer überkommenen institutionellen Struktur ›top-down‹ zu verknüpfen ist zwar ein kirchentheoretisch lohnenswertes Ziel für einen Synodalen Weg, aber zugleich dürfte dies, wie im Protestantismus abzulesen, ein täglich neu auszuhandelnder Prozess zweier konkurrierender Struktursysteme werden. Hier hätte das Buch vermittelnd und skizzierend der überkommenen Führungs- und Entscheidungsstruktur einen Weg hin zur Teilung der Macht anbieten können. Jenseits aller Empörungsbewirtschaftung und Skandalisierung.