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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1110–1111

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Goertz, Stephan, u. Magnus Striet[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Johannes Paul II. Vermächtnis und Hypothek eines Pontifikats.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2020. 224 S. = Katholizismus im Umbruch, 12. Kart. EUR 26,00. ISBN 9783451387234.

Rezensent:

Oliver Schuegraf

Unter dem Titel »Vermächtnis und Hypothek« legt das gut 220 Seiten umfassende Taschenbuch »philosophische und theologische Analysen und Deutungen« (8) des langen und epochalen Pontifikats Johannes Paul II. (JP II; 1978–2005) vor. Dazu untersuchen fünf Autoren und eine Autorin maßgebliche Brennpunkte des Pontifikats und die Auswirkungen der von JP II getroffenen Weichenstellungen bis heute. Erschienen ist das Buch als Band 12 der Herder-Reihe »Katholizismus im Umbruch«. Diese möchte angesichts der derzeitigen Umwandlungsprozesse im römischen Katholizismus einen Raum zur Diskussion anbieten, was einen sich der Moderne stellenden Katholizismus ausmacht.
Eröffnet wird der Band mit dem Beitrag »Ein durch und durch global agierender Papst« von Daniel Deckers. Der FAZ-Redakteur spannt einen weiten Bogen an Themen wie die Sexualmoral oder die Personalpolitik des Papstes, aber auch die Bedeutung des Kirchenrechtes. Der Autor sieht im Zentrum des Pontifikats einen biopolitischen Kampf gegen eine Kultur des Todes, die JP II immer wieder anprangert. Zugleich ziehen sich die Versäumnisse des Pontifikats im Hinblick auf sexuelle Gewalt im Raum der Kirche wie ein roter Faden durch den Aufsatz.
Magnus Striet zeigt in »Johannes Paul II. und das Ende einer Lehramtsepoche« auf, wie Lehrentscheidungen des Papstes JP II durch frühe Positionierung des Moraltheologen Karol Wojtyla (z. B. gegen Kant) geprägt sind. Insgesamt kommt der Mainzer Fundamentaltheologe zu dem Ergebnis, dass die anhaltende Verehrung des Papstes über das Charisma seiner Person funktioniert, jedoch dessen autoritativ eingeschärfte Lehräußerungen (z. B. in der Sexualmoral) zumindest in manchen Teilen der römisch-katholischen Kirche abgelehnt bzw. einfach ignoriert werden. Die Zerreißproben, ausgelöst durch seine lehramtliche Härte, dauern bis heute an, so dass die römisch-katholische Kirche in heterogene Milieus auseinanderzufallen drohe.
Für JP II – so Stephan Goertz in »Freiheit? Welche Freiheit?« – ist Freiheit eine geordnete, nicht autonome Freiheit, die durch die von Christus offenbarte und im kirchlichen Lehramt bewahrte Wahrheit gedeutet wird. Entsprechend charakterisiert Goertz die Moraltheologie JP II als ekklesionome Christozentrik, dergemäß sich der Mensch den moralischen Geboten im freien Gehorsam zu unterwerfen habe. Auch Eberhard Schockenhoff greift die Frage nach der lehramtlichen Sexualmoral JP II auf und untersucht seine »Theo-logie des Leibes« in Bezug auf Entstehungskontext, Zielsetzung und Anwendung auf konkrete Fragen (voreheliche Sexualität, Verhütung, Gender). Darüber hinaus formuliert der Freiburger Mo-raltheologe kritische Anfragen an die Argumentation JP II und kommt zu dem Ergebnis, dass letztlich die selbstgesetzten Ansprüche nicht überzeugend eingelöst werden können.
Um die theologischen Neuaufbrüche in Lateinamerika geht es in Gerhard Kruips »Der polnische Papst und die unverstandene Theologie der Befreiung«. Im Durchgang durch die geschichtlichen Entwicklungen wird deutlich, dass es JP II mit seinen kontextuellen Erfahrungen eines kirchenfeindlichen Sowjetkommunismus nicht gelungen ist, in einen echten, lernbereiten Dialog mit der Befreiungstheologie und dem kirchlichen Kontext, für den sie da sein will, einzutreten. Stattdessen verfolgten der Papst und die Glaubenskongregation einen lehramtlichen Zentralismus mit entsprechenden Maßregelungen.
Mit dem Aufsatz »Versöhner zwischen den Religionen« von Johanna Rahner wird eine weitere Schwerpunktsetzung des Pontifikats JP II bilanziert, und diese Bilanz fällt unter den sechs Beiträgen des Bandes am positivsten aus. Für Rahner hat JP II im Umgang mit dem Judentum, dem Islam und der Religionsfreiheit die Grundeinsichten des Konzils konsequent und bahnbrechend weiterentwickelt und mit dem interreligiösen Friedensgebet von Assisi theologisches Neuland betreten.
Insgesamt ist festzuhalten, dass der Band eine kompakte und gut lesbare kritische Bilanz des Pontifikats JP II liefert. Immer wieder werden Weichenstellungen in Erinnerung gerufen, die bis heute die römisch-katholische Kirche prägen und beschäftigen. Im Zentrum steht dabei der ernüchternde Blick auf die Konfliktfelder Morallehre, Lehrautorität, Rolle der Frau und Missbrauch. Die Analysen und Deutungen können sich dabei nur auf die veröffentlichten Texte des Papstes (Schriften aus seiner Universitätszeit, Lehrschreiben, Ansprachen …) stützten, da die eigentlichen Akten des Pontifikats der Forschung noch nicht zur Verfügung stehen. Zudem soll darauf hingewiesen werden, dass ein Bilanzieren aus rein deutscher Perspektive vorgelegt wurde.
Weltkirchliche Stimmen, z. B. aus Polen oder Lateinamerika, kommen nicht selbst zu Wort. Abschließend mögen zwei exemp-larische Zitate deutlich machen, dass der Band treffend mit »Vermächtnis und Hypothek« überschrieben ist und zudem dem Anliegen der Reihe gerecht wird, Diskussionsraum für einen »Katholizismus im Umbruch« anzubieten: Laut Deckers sollte es »hinreichend klargeworden sein, dass das Thema Sexualmoral wie die Frage des Zugangs von Frauen zu Diensten und Ämtern in der Kirche und die nach der Lebensform der Priester den Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland in eine Konfrontation mit dem ideologisch hoch aufgeladenen Pontifikat Johannes Paul II. führen, die jeden Versuch massiv erschwert, sich aus dem langen Schatten des Papstes zu befreien« (51). Und Goertz zieht das Fazit: »Sich von der atemberaubenden Selbstsicherheit Johannes Pauls II. bei der Verkündigung der von ihm definierten definitiven Wahrheiten zu emanzipieren, stellt für die katholische Kirche eine Aufgabe dar, der sie sich stellen muss, will sie im Inneren ein größeres Maß an Freiheit gewinnen. Ohne diese Freiheit gibt es keine neue Zeitgenossenschaft.« (113)