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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1106–1108

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Schweyer, Stefan

Titel/Untertitel:

Freikirchliche Gottesdienste. Empirische Analysen und theologische Reflexionen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 608 S. m. zahlr. Abb. = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 80. Geb. EUR 58,00. ISBN 9783374067107.

Rezensent:

Johannes Zimmermann

»Freikirchliche Gottesdienste sind gut besucht, aber schlecht er­forscht« (17). In diese Forschungslücke will Stefan Schweyer, selbst freikirchlicher Theologe an der FTH Basel, mit seiner an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Fribourg (Schweiz) eingereichten Habilitationsschrift vorstoßen. Forschungsgegenstand sind Freikirchen in der deutschsprachigen Schweiz. Zu­nächst bietet er ein kleines Kompendium zur Freikirchenforschung, insbesondere zu freikirchlichen Gottesdiensten; ein Seitenblick geht zur Evangelikalismusforschung in der Schweiz (Ka­pitel 2; 21–98).
Für sein eigenes Vorhaben wählt der Vf. einen empirischen Zugang. Im Zentrum des Forschungsdesigns stehen teilnehmende Beobachtung, Videoaufzeichnungen und Gruppeninterviews, ergänzt durch schriftliche Quellen. Der Fokus des Vf.s ist gerichtet auf die »Wechselwirkung von gottesdienstlicher Praxis und Gottesdienstverständnis in freikirchlichen Kontexten« (99), und zwar aus Sicht der »Produzierenden«.
Ziel ist nicht eine statistische Katalogisierung der freikirchlichen Gottesdienstlandschaft, die »Fallauswahl erfolgt nach den Grundsätzen der Maximierung von Unterschieden und der theoretischen Sättigung« (126). Dazu beschränkt sich der Vf. auf »repräsentative Denominationen mit typischen Gottesdiensten« (127). Die damit verbundene Unterteilung in vier Submilieus (konser-vativ – klassisch – pfingstlich-charismatisch – neocharismatisch) er­weist sich in der Durchführung als plausibel und für die Interpretation als höchst produktiv. Sie trägt auch der Erfahrung Rechnung, dass es sich aus der Gottesdienstgestalt allein kaum ableiten lässt, um welche freikirchliche Denomination es sich handelt.
Dabei stehen Freie Evangelische Gemeinden exemplarisch für »klassische Freikirchen«, die »Schweizerische Pfingstmission« für pfingstlich-charismatische Freikirchen, die »Gemeinde für Chris-tus« für den konservativen Typus in der Tradition der Brüderbewegung. Der Vf. ergänzt einen vierten Typ, für den ICF-Gemeinden stehen; er bezeichnet sie angesichts der Differenzen zum pfingstlich-charismatischen Gottesdienst als »neocharismatisch«. Hier ist die Suche nach einer geeigneten Bezeichnung noch im Fluss, an-derenorts werden sie »Lifestyle-Gemeinden« genannt (A. Kick/H. Hemminger, ezw-Texte 265 [2020]).
In einer Galerie von 16 knappen Gottesdienstporträts werden die untersuchten Gottesdienste vorgestellt (Kapitel 4; 131–153); allein schon diese Skizzen vermitteln einen Eindruck von der Vielfalt und Unterschiedlichkeit freikirchlicher Gottesdienstformen einschließlich der »Andersartigkeit im Vergleich zu den Großkirchen« (149).
In zwei Durchgängen folgt danach die Präsentation der Ergebnisse mit ausführlichen empirischen Analysen: In Kapitel 5 geht es um die einzelnen Elemente bzw. Sequenzen der Gottesdienste (156–354), danach folgen thematische Erörterungen (Kapitel 6; 355–428). In Kapitel 7 (»Theologische Reflexionen«) werden einzelne Themen theologisch vertieft (429–540). Aus der Fülle des Materials greife ich einige für freikirchliche Gottesdienste charakteristische Ergebnisse heraus:
Auffallend sind zunächst die Umbrüche der freikirchlichen Gottesdienstlandschaft durch die Praise&Worship-Kultur, die »Freikirchen aus allen Denominationen erreicht hat und auf die Gottesdienstgestaltung prägend einwirkt«; von 122 Liedern sind 92 diesem Bereich zuzuordnen. Dadurch »hat sich seit den 1990er Jahren ein ›Standardmodell‹ freikirchlichen Gottesdienstes etabliert, das zwei Hauptbestandteile umfasst: Worship und Predigt« (192). Der Vf. sieht darin die »Entwicklung […] von einer verkündigenden zu einer lobpreisenden Singkultur« (197).
Ebenfalls fast durchgehend zu finden ist eine Gottesdienst-Moderation (15 von 16 Gottesdiensten). Die insbesondere durch Willow-Creek inspirierte Gästeorientierung markiert einen dritten Umbruch, der allerdings nur teilweise prägend ist, insbesondere im klassischen und neocharismatischen Submilieu.
Bei den Gebeten dominiert die Subjektivität der Akteure mit einer »Präferenz frei formulierter Gebete« (271), die als besonders authentisch gelten; »In den 16 analysierten Gottesdiensten gab es keine gemeinsam gesprochenen Gebete« (245), sondern allenfalls Berichte, dass gelegentlich das Vaterunser gesprochen werde. Bittgebete »betreffen vornehmlich die eigene Gemeinschaft und deren Umfeld« (229). Unter Verweis darauf, dass viele Lieder Gebete darstellen, versteht der Vf. »die Zurückhaltung gegenüber gemeinsam gesprochenen Gebeten […] eher als ästhetische Abgrenzung von großkirchlichen Liturgien«, die »nicht im Kern theologisch be­gründet« (246) sei.
Immer wieder finden sich überraschende Querverbindungen: Die freie Beteiligung der Gottesdienstteilnehmenden findet sich am ehesten in konservativen und pfingstlich-charismatischen Gottesdiensten – letztere unterscheiden sich hier markant von den »durchgestylten« neocharismatischen Gottesdiensten (419). »In konservativen und neocharismatischen Freikirchen werden häufiger Differenzen zu anderen Freikirchen benannt« (422).
Mit seiner Arbeit wagt der Vf. einen Spagat: Auf der einen Seite steht die Rekonstruktion des Selbstverständnisses der freikirchlichen Akteure aus einer klar von Sympathie geprägten Haltung, auf der anderen Seite sein theologischer Kompass mit ökumenischer Orientierung, der immer wieder zu kritischen Rückfragen führt und darauf zielt, typisch freikirchliche Einseitigkeiten in liturgischen Spannungsfeldern durch eine »Logik der Erweiterung« (540) zu überwinden. Der Spagat gelingt insgesamt, nur gelegentlich hat man den Eindruck, dass die reflexive Distanz etwas größer sein könnte. So etwa bei der Moderation, wo der Vf. nach langen Ausführungen zu den Bestandteilen der Moderation nur vorsichtig anmerkt: »Die analysierten Beispiele lassen erahnen, dass die Kritik an zu viel Moderation durchaus berechtigt ist.« (309)
Beim Kriterium des Alltagsbezugs des Gottesdienstes kritisiert er die freikirchliche Logik: Die »Alltagsrelevanz des Gottesdienstes wird durch eine alltagskulturelle Gottesdienstgestaltung gesteigert« (430). Dagegen stellt er die formative Kraft des Gottesdienstes mit Auswirkungen auf den Alltag. Freilich bleibt er damit noch im Bannkreis der Funktionalität des Gottesdienstes für den Alltag. Dabei ließe sich gerade am freikirchlichen Lobpreis als doxologischem Element die Zweckfreiheit gottesdienstlichen Handelns aufzeigen: Das Gotteslob hat seinen Zweck in sich selbst, es braucht sich nicht durch andere Zwecke und damit auch nicht durch den Alltagsbezug ausweisen.
Kapitel 8 (»Ein- und Ausblicke«) bietet eine gute Zusammenfassung der Charakteristika freikirchlicher Gottesdienste als eigener liturgischer »Familie«; zugleich werden deren »Baustellen« aufgezeigt. Obwohl immer wieder die Distanz zu »großkirchlichen« Gottesdiensten deutlich wird, steht am Ende die Hoffnung, dass die Arbeit einen Beitrag in den Freikirchen zur »Überwindung antiliturgischer Reflexe und zur Erweiterung des gottesdienstlichen Handlungsspektrums« (555) leistet; der Vf. hofft auf eine »›freikirchlich-ökumenische Liturgik‹, die den Schatz freikirchlicher Traditionen mit ökumenischer Weite verbindet« (558).
Die Arbeit mit ihrem eindrücklichen Panorama freikirchlicher Gottesdienstlandschaften schließt nicht nur eine wichtige Forschungslücke, sondern bietet in einer durch hohe Dynamik und rasche Veränderungen gekennzeichneten »Szene« zugleich einen hilfreichen und keineswegs auf die Schweiz begrenzten Vergleichsrahmen zur Einordnung partikularer Erfahrungen. Das gilt auch im Blick auf die Predigtlänge: Die durchschnittliche Predigtdauer der untersuchten Gottesdienste beträgt rund 38 Minuten, »die Streuung reicht von 26 bis 47 Minuten« (270).