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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1102–1104

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Deeg, Alexander, u. David Plüss

Titel/Untertitel:

Liturgik.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2021. 672 S. = Lehrbuch Praktische Theologie, 5. Kart. EUR 54,00. ISBN 9783579059914.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Die beiden Liturgiewissenschaftler Alexander Deeg aus Leipzig und David Plüss aus Bern legen mit diesem Buch ein reichhaltiges und vielperspektivisches Werk vor, das den evangelischen Gottesdienst umfassend, zuverlässig und auf dem neuesten Stand der Fachdiskussion behandelt.
Nach einleitenden Bemerkungen zu den liturgiewissenschaftlichen Methoden und Wahrnehmungen (15–77) werden biblische (79–107), liturgiegeschichtliche (109–160), liturgietheologische (161–238) sowie anthropologisch-soziologische (239–294) Perspektiven geboten, bevor die liturgischen Formen, Elemente u. a. (319–441) sowie die liturgischen Praktiken wie Beten, Singen, Lesen etc. (443–487) geschildert werden.
Dazwischen findet sich ein kleines, besonders interessantes Ka­pitel über die »Wirkkräfte und Kontexte« des Gottesdienstes (295–318), in dem die »wirksamen« Aspekte der Liturgie gegen die Betonung der »darstellenden« stark gemacht werden, wie sie in weiten Teilen der evangelischen Liturgiewissenschaft im An­schluss an Schleiermacher betont werden; hier bietet sich Stoff zur konzeptionellen Auseinandersetzung und Weiterarbeit.
Es folgen noch drei Kapitel zur Sprache und zu weiteren Medien der Liturgie (490–535, u. a. zur Digitalität), ein kurzer Abschnitt zu einer Typologisierung von Gottesdiensten unter der Metaphorik der »Klangfarben des Gottesdienstes« (537–550), bevor ökumenische und interreligiöse Fragen den Ausblick markieren (551–569). Hier wie in dem gesamten Werk wird besonders auf den Stand des jüdisch-christlichen Dialoges eingehend Bezug genommen.
Es ist selbstverständlich unmöglich, den Gedankengang im Einzelnen zu referieren. Darum versuche ich im Folgenden den Reichtum und die differenzierte Argumentation mit sieben Merkmalen zu charakterisieren. Damit meine ich nicht, das Buch ausschließlich auf diese Attribute festlegen zu können.
Das Lehrbuch ist zunächst (1.) das erste Werk, das nicht nur im ökumenischen Horizont konzipiert, sondern tatsächlich ökumenisch geschrieben worden ist, indem es aus der Perspektive der beiden maßgeblichen liturgischen Traditionen im deutschen Protes-tantismus verfasst wurde: aus der lutherischen und der reformierten. Das hat nicht nur inhaltliche Konsequenzen, sondern wirkt sich auch auf den Argumentationsstil aus. In diesem Buch wird be­trachtet, abgewogen und gewichtet, aber es werden keine Zensuren verteilt. Der furor theologicus ist ferne, denn die gottesdienstliche Realität ist vielfältig: »Entsprechend werden wir – wo immer möglich – auf den generischen oder kollektiven Singular verzichten und von Gottesdiensten im Plural sprechen.« (23) Kurz und bündig heißt es: »Eine ideale biblische Zeit gab es nicht.« (95) Wenn nötig, wird aber auch deutlich Position bezogen – etwa beim Eintreten für den priesterlichen Charakter des Segens (und gegen die reformierte Tradition der Bitte um den Segen, 487).
Die Autoren plädieren (2.) für eine starke Verbindung zwischen der Liturgie und dem Gottesdienst im Alltag der Welt; ihre Liturgik ist bei aller Vermittlung von Spezialwissen alltagsorientiert. Im Zusammenhang des Abendmahls heißt es unter Bezug auf Ernst Lange: »Der Gottesdienst ist keine Sonderveranstaltung am Sonntag, sondern mit dem Leben der Christenmenschen in der Welt verknüpft.« (405) Dieses Prinzip wird schon in der Einleitung zu Kapitel 3 (»Wahrnehmungen«, 43–47) und Kapitel 6 (»Theologie der Gottesdienste«) hervorgehoben: »Nicht nur, wenn Christenmenschen sich explizit zu einem Gottesdienst versammeln, geschieht Gottesdienst.« (161, dort kursiv)
Das Buch gehört (3.) – und das ist gut so – in den breiten Strom des ästhetischen Paradigmas der Praktischen Theologie. Treffend heißt es zu Beginn des 11. Kapitels zur Medialität der Liturgie: »Daher kann es in einem Gottesdienst niemals darum gehen, vermeintlich feststehende Gehalte durch möglichst geeignete Medien zu ›transportieren‹.« (490) Dahin gehören auch die – für mich besonders erfreulichen – Bezugnahmen auf das Gesangbuch. Evangelische liturgische Bildung beruht wohl viel stärker darauf als auf Ordinarium und Proprium. Auch die am Schluss entwickelte Metaphorik der »Klangfarben« des Gottesdienstes stehen für die ästhetische Orientierung. »Klassik«, »Jazz«, »Rock und Pop«, »Volksmusik« (542–550) als liturgische Paradigmen und Stile sind anregend – und die Zuordnungen fordern selbstverständlich auch zur Diskussion heraus.
Das Buch argumentiert (4.) in seinem theologischen Kern dialektisch. Das 6. Kapitel (161–238) formuliert grundlegende Spannungsverhältnisse zwischen Präsenz und Absenz Gottes sowie zwischen Wort und Kult. So bekommt es fundamentale Interpretamente in den Blick. Ich hätte es mir gut vorstellen können, die erste entfaltete Kategorie, die »Versammlung« ebenfalls dialektisch zu formulieren als die Spannung zwischen Individualität und Gemeinschaft. Das würde nicht nur die liturgische, sondern auch die kulturelle und bildungstheoretische Dialektik berücksichtigen, denn die Sprache bzw. die Symbolfunktion des Menschen ist immer kollektiv vermittelt und individuell angeeignet zugleich.
Das Buch ist (5.) nicht nur praktisch-theologisch, sondern auch praktisch im Sinne von konkreten Gestaltungshinweisen. Es finden sich nicht nur essentielle Hinweise wie der auf das Sprechen der Einsetzungsworte zum Abendmahl versus populum (403), sondern auch gute Ideen wie der Wechsel der liturgischen Farbe coram publico, während des Gottesdienstes (530). Man merkt dem Buch an, dass die beiden Autoren wissen, von welcher Praxis sie schreiben. Die verhandelten Diskurse und Theorien haben nicht nur akademische Relevanz.
Besonders sympathisch ist mir (6.) der Geist der Sophrosyne: Die Autoren urteilen im Hinblick auf die fachlichen Kontroversen durchgehend besonnen. Hier wird niemand niedergemacht. Es herrscht eine Hermeneutik der Nachdenklichkeit, keine Hermeneutik des Verdachts oder der Unterstellung. Ein schöner Grundsatz für alle Exegeten und Historiker lautet: »Wissenschaftlich betriebene historische Recherchen legitimieren die gängige Praxis nicht, sondern irritieren diese – in heilsamer, weil erhellender Weise.« (38) Drei Beispiele eines besonnenen Urteils: Bei den Gottesdiensttheologien wird geprüft und das Gute behalten, anstatt die anderen Autoren nur zu kritisieren (176–215). – Ganz in Schleiermachers Sinne wird zwischen der Geltung des darstellenden und des wirksamen Prinzips abgewogen, anstatt aus der Dialektik eine Alternative zu machen (296). – Beim Abendmahl gilt es nach Deeg und Plüss unterschiedliche Feierformen zu gestalten, anstatt nach dem umfassend Richtigen zu fahnden (404).
Die Autoren urteilen nicht nur besonnen im Hinblick auf Kontroversen, sondern auch (7.) in sympathischer Weise gelassen, was die Analyse der Gegenwart angeht. Die gegenwärtige Soziologie – von Rosa bis Reckwitz – ist deutlich präsent, aber jegliche Weise von Alarmismus oder Reformeuphorie liegt ferne. Die Überzeugungsfähigkeit von Liturgie und Liturgik werden auf dem Platz entschieden und dort wird man immer mit den sprichwörtlichen Mühen der Ebene konfrontiert. Nicht so sehr der Teufel, sondern mehr die historische Präzision und die ästhetische Prägnanz stecken im Detail. Für diese Herausforderungen lässt sich aus dem Lehrbuch, das sich zudem sehr angenehm lesen lässt, einiges lernen.
Hervorzuheben sind die verschiedenen Beigaben im Anhang, die das Lehrbuch zu einem Arbeitsbuch werden lassen. Hier finden sich eine Übersicht zu den wichtigsten Agenden und Gottesdienstbüchern, eine hilfreich kommentierte Literaturliste zur evange-lischen Liturgiewissenschaft sowie eine Zusammenstellung der wichtigsten Fachzeitschriften und Internetressourcen (571–585). Da vielen Studierenden die Liturgik immer noch wie eine Geheimwissenschaft vorkommt, ist besonders auch das »Liturgiewissenschaftliche Glossar« (587–604) positiv zu vermerken. Ein detailliertes, keine Wünsche offen lassendes Literaturverzeichnis (605–645) und die einschlägigen Register (647–671) schließen den Band ab.
Das Buch bietet einen umfassenden, umsichtigen und im Urteil noblen Entwurf evangelischer Liturgiewissenschaft, der nicht zuletzt aufgrund seines differenziert darstellenden und abwägenden Charakters überzeugt. Wer dieses Lehrbuch heranzieht, ist theoretisch auf der Höhe der Fachdiskussion und wird darüber hinaus auch manche Anregung für die Gottesdienstgestaltung mitnehmen können.