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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1095–1097

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Coors, Michael

Titel/Untertitel:

Altern und Lebenszeit. Phänomenologische und theologische Studien zu Anthropologie und Ethik des Alterns.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XI, 356 S. = Hemeneutische Untersuchungen zur Theologie, 78. Lw. EUR 84,00. ISBN 9783161591860.

Rezensent:

Gunda Schneider-Flume

Michael Coors legt Studien zur phänomenologischen und theologischen Beurteilung von Alter(n) und Lebenszeit vor. Nach der Einleitung zum Thema Altern und Ethik enthält die Arbeit in einem ersten Teil philosophische Ausführungen zum Thema Alter(n) von Thomas Rentsch, Edmund Husserl, Hermann Schmitz, Maurice Merleau-Ponty, Bernhard Waldenfels und Paul Ricœur. Im zweiten Teil der Arbeit werden die Alternsvorstellungen von Wolfhart Pannenberg und Karl Barth dargestellt. Abschließend werden Leiblichkeit und Zeitlichkeit des Menschen im Alter(n) kurz diskutiert. Leider wird weder bei den sechs philosophischen Darstellungen noch im Blick auf die theologischen Autoren mitgeteilt, warum gerade diese ausgewählt wurden. 2018 wurde die Arbeit an der Universität Greifswald als Habilitationsschrift für Systematische Theologie an­genommen.
In der theologischen Anthropologie spielt das Thema Alter und Altern »an sich« lediglich eine marginale Rolle, es geht vielmehr um den Menschen als Geschöpf im Verhältnis zum Schöpfer, als Sünder, der der Rechtfertigung bedarf, durch Christus zurechtgebracht wird und am Ende des Lebens im Sterben auf Gottes Gnade hofft. Der christliche Glaube hat für das gesamte Leben eine zen-trale Bedeutung.
C. definiert Altern als »leibliches Widerfahren von Zeit« (19). Die aufeinander folgenden Abhandlungen der sechs philosophischen und zwei theologischen Entwürfe stehen in der Gefahr, in der Folge aufeinander ermüdend zu wirken. Die Darstellung von Rentsch und den übrigen philosophischen Entwürfen ebenso wie die der Anthropologie von Pannenberg und Barth, und das gilt ebenso für die Darstellung dieser Rezension, müssen vermeiden, etwas festzuhalten, was der kritische Leser besser selbst einer aufmerksamen Lektüre unterzieht.
Rentsch beschreibt Altern als »Radikalisierung der menschlichen Lebenssituation bzw. der menschlichen Grundsituation« und in diesem Sinne als ein »Werden zu sich selbst« (44). Die Elemente dieses Werdens sind: Körperwerdung, Zeitwerdung sowie Vereinzelung und Fremdwerden in der Welt (44). Im Prozess des Alterns geschehe die Ausbildung der Identität eines Menschen, erst im Tode sei sie abgeschlossen. (45) Zugleich sei die Formel des »Werdens zu sich selbst« Ausdruck für die Tatsache, dass erst im Alter deutlich wird, was Menschsein ist: Der Mensch ist ganz auf sich selbst festgelegt.
Wenn Altern als leibliches Zeiterleben zur Sprache gebracht werden soll, muss gefragt werden, wie von Zeit im Zusammenhang mit der Leiblichkeit zu reden ist, und im Blick auf die Frage nach der Bedeutung der theologischen Wirkung muss erkennbar werden, ob und wie die Rede von Gott in der Zeit wirkt. Das geschieht bei C. nicht, Gottes Wirken bleibt in der gesamten Ausführung weitgehend ausgespart. »Altern ist eine Form leiblichen Zeiterlebens« stellt C. fest (85). Er will sich nicht auf Theunissens Vorstellung der »Herrschaft der Zeit« einlassen, vielmehr folgt er der Erkenntnis Ricœurs, dass Zeit in Erzählung zur Sprache gebracht werde. Ricœurs Erzähltheorie zeige, dass sich in der Praxis des Er­zählens bereits eine Antwort auf die Frage nach dem Zeiterleben finde. Gottes Wirken in der Zeit wird allerdings nicht erwähnt. Ricœurs Erzähltheorie wird breit entfaltet. Weil Ricœur sich in seiner Erzähltheorie immer wieder auch auf Kants Kritik der Urteilskraft bezieht, fügt C. dazu einen Exkurs ein (128–141). Mit Hilfe von R icœurs Erzähltheorie verbindet C. Erzählung, Zeit und Altern: »Indem ich meine Geschichte erzähle, mich also zu einer Figur einer Erzählung mache, konstruiere ich meine personale Identität in der Zeit …« (169).
In einem zweiten Teil der Arbeit geht C. auf die theologische Anthropologie ein. Zunächst wendet er sich der Anthropologie von Pannenberg zu. Er verweist treffend auf die bekannte Tatsache, dass die »Anthropologie in theologischer Perspektive« so angelegt sei, dass sie die Anthropologie zur Grundlage der Theologie mache (205). Die Anthropologie leiste den Gottesbeweis, indem sie den Weg von der Religiosität des Menschen zu Gott zeige. Die Exzentrizität und die Weltoffenheit des Menschen vervollkommnen sich zur Gottoffenheit.
Schließlich geht C. auch auf die Anthropologie von Barth ein. Barth erzähle die Anthropologie als Sein und Leben des einzigen »wirklichen Menschen« Jesus Christus. Demgegenüber stehe der vorfindliche Mensch, auch das ein Mensch, aber mit allen denkbaren Defiziten. C. verweist darauf, dass bei Barth ebenso wie bei Pannenberg die Reflexion auf die Existenz des Menschen als Leib und Seele und die Reflexion auf die Zeitlichkeit des Menschen auseinanderfallen (284). Barth stelle fest, das Leben im Alter sei das Leben i m besonderen Bewusstsein der Gnade, noch weiter Zukunft zu haben. Weisheit liege in der Einsicht, dass der alte Mensch nicht nur jetzt im Alter, sondern immer schon »faktisch ganz allein von Gottes freier, unverdienter Barmherzigkeit gelebt hat.« (282) Anders als C. vermag Barth das gesamte menschliche Leben als von Gott gewirkt zu verstehen. Altern »an sich« kommt bei Barth nur am Rande vor und wird vom Tode her verstanden, es ist Prolepse des Todes (287).
Am Ende geht C. noch einmal auf das Thema Leiblichkeit und Zeitlichkeit des Menschen ein und verweist auf Fragen der (Medizin-)Ethik. War bei Rentsch Altern als Werden zu sich selbst gedeutet worden, so stellt C. dagegen im Blick auf das hohe Altern dieses als eskalierenden Prozess des Fremdwerdens des Leibes dar. Zum Abschluss seiner Ausführungen bringt C. einen kurzen eschatologischen Ausblick. Im Kontext des Verständnisses von Barth interpretiert er Zeit von Gott als dem Schöpfer der Zeit her, der in Jesus Christus eine neue Zeit habe anbrechen lassen (310).
Im Zusammenhang der Medizin-Ethik skizziert C. das Bemühen der Anti-Aging-Medizin, den Tod herbeizuführen. Das müsse abgelehnt werden. Ein anderes Schema stellt Altern als Prozess des Vergehens analog von Naturerfahrungen dar. Altern kann sowohl als leibliches Vergehen wie auch als Reifung der Persönlichkeit in der Nähe zu Rentschs Verständnis des Werdens zu sich selbst verstanden werden. C. aber ist es wichtig zu betonen, dass menschliches Altern, anders als Rentsch es versteht, sich nicht aus sich selbst heraus »abrundet«. Angesichts des Todes verweist C. allein auf Gottes Urteil.
Nach C. bedarf die medizinethische Diskussion über Sterben und Tod der Reflexion auf die Verletzlichkeit des Menschen, der auf Zeit angewiesen sei, die leiblich widerfahre. Ausgespart bleibt bei C. im Blick auf das Leiden am Alter(n) ein Hinweis auf die Kraft von Ostern. Hat der christliche Glaube eine Bedeutung für die Erfahrung des Abnehmens der menschlichen Kräfte im Alter? Eine Ethik, die sich im Blick auf das Alter(n) »als Ethik der Vulnerabilität« versteht, müsste auf die Angewiesenheitsstruktur, »die das ganze menschliche Dasein nicht lediglich beschränkt, sondern […] auszeichnet« (328), positiv antworten mit dem Hinweis auf die »Geschichte Gottes« an Ostern. Dafür aber müssten wohl auch die beiden Teile der Arbeit, der philosophische und der theologische, miteinander ins Gespräch gebracht werden.
Kritisch ist festzuhalten, dass C. in der gesamten Arbeit auf einen klaren Hinweis auf die tröstliche Wirkung der Gotteskraft auf menschliche Angst und Schwäche verzichtet. Insofern fehlt in dieser Darstellung von sechs philosophischen und zwei theologischen Entwürfen eine leitende theologische Dimension.