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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1077–1081

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Koch, Ernst

Titel/Untertitel:

Musik der Menschen und Musik der Engel. Frömmigkeitsgeschichtliche Beiträge zur lutherischen Musikkultur. M. e. Bibliographie der Schriften des Autors. Hgg. v. S. Michel u. J. Schilling.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. 231 S. m. Abb. Kart. EUR 38,00. ISBN 9783374067978.

Rezensent:

Martin Ohst

Wie der nicht abreißende Strom ihrer immer neuen Aufführungen und Einspielungen zeigt, sammelt sich um die Werke von Heinrich Schütz und Johann Sebastian Bach eine weltweite Hörergemeinde, die Menschen mit den unterschiedlichsten kulturellen Provenienzen und Orientierungen umfasst: Omnipräsent auf Papier als gedruckter Notentext, auf Tonträgern und in den unermesslichen Weiten der digitalen Kommunikation, sind die Kompositionen Bachs und Schütz’ sowie die ihrer Lehrer, Zeitgenossen und Schüler immaterielles Weltkulturerbe par excellence. Im gehobenen Radio- und Zeitungsfeuilleton wird gern betont, dass die Universalität dieser Musik schon in ihren Ursprüngen angelegt sei – durch ihre Verwurzelung in der angeblich über den Streit der Konfessionen, wenn nicht gar der Religionen erhabenen Bibel und durch die mannigfachen Einflüsse außerdeutscher, zumal italienischer Kompositionskunst, die Schütz, Bach und ihre Zeitgenossen empfangen und verarbeitet haben. Wider Willen bezeugt die Beflissenheit, mit der das unentwegt betont wird, ein unterschwelliges Unbehagen an dem Umstand, dass diese scheinbar über alle Be­grenzungen erhabene Musik doch unlöslich in einem ganz be­stimmten Geschichts-, Kultur- und Frömmigkeitsraum und dessen theologischer Reflexionsgestalt verwurzelt ist, nämlich in den Territorien Mitteldeutschlands und dem hier kulturprägenden Christentum der lutherischen Reformation, das sich scharfkantig v on der Papstkirche wie vom reformierten Protestantismus ab-setzte: Schütz und Bach haben – mit anderen Zeitgenossen – dem Luthertum des konfessionellen Zeitalters seine musikalische Ausdrucksform geschaffen. Diese dezidiert kirchen- und frömmigkeitsgeschichtliche Sicht auf Schütz und Bach vertreten die in diesem Band versammelten Studien von Ernst Koch; in souverän-unaufgeregter Darstellungskunst präsentieren sie die gedanklich durchgearbeiteten Ergebnisse tief bohrender und weit ausgreifender Gelehrsamkeit.
K. gehört als Vertreter einer Generation wichtiger evangelischer Kirchenhistoriker nicht zu denen, deren Stimmen man auf den Gassen hört, wo die Tagesaktualitäten verhandelt werden. Dennoch – oder gerade deshalb? – hat er in einem langen, außergewöhnlich produktiven Gelehrtenleben ein beeindruckendes Œuvre geschaffen, in dessen Gesamtgestalt auch seine unterschiedlichen beruflichen Stellungen ihre Spuren hinterlassen haben. Anlässlich seines 90. Geburtstages hat Johannes Schilling seinen Lebensweg und sein Lebenswerk feinfühlig gewürdigt (»Ernst Koch – doctor pietatis«, 9–23). Zusammen mit den beiden Bildern, glücklich gewählten Momentaufnahmen, die K. ganz wunderbar charakterisieren, und der mehr als 700 Titel umfassenden Bibliographie seiner bisherigen Veröffentlichungen (184–226) haben die Herausgeber K. sowie allen, die ihn bereits kennen und schätzen, ein wertvolles Geschenk bereitet. Und über diesen Kreis hinaus geben sie auch anderen die Möglichkeit, sich von K. inspirieren und anleiten zu lassen – zu einer zutiefst menschenfreundlichen Historiographie, welche die Personen, denen sie sich auf dem Wege durch die Quellen nähert und von denen sie berichtet, jeweils in ihrer ganz besonderen Weise der Lebensdeutung und Lebensgestaltung selbst zu Wort kommen lässt, statt sie als bloße Exempel für allerlei Theorien und Absichten zu instrumentalisieren. Die Bilder geschichtlichen Lebens, die K.s unaufdringliche Darstellungskunst vor den Augen des Lesers entstehen lässt, laden freundlich dazu ein, sich von K. auf Erkundungsgänge mitnehmen zu lassen und mit- und weiterdenkend an seinen Beobachtungen teilzunehmen. Und wenn man das tut, dann packt einen immer wieder die Lust, K. auf dem Weg in die von ihm opulent präsentierten, sorgsam und liebevoll interpretierten Quellen zu folgen.
Schon an den eröffnenden »Beobachtungen zum theologischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext der Musikalischen Exequien von Heinrich Schütz« (24–36) lässt sich das alles exemplarisch ablesen. Der Aufsatz eruiert die theologische Leitkonzeption, die in der Auswahl der verwendeten Texte waltet. Einleitend weist K. auf die Naturphänomene und Geschichtsereignisse hin, derentwegen im späten 16./frühen 17. Jh. die Sorge um das Lebensende und die Lebensvollendung die Menschen besonders intensiv umtrieb. Sodann führt er mit wenigen, meisterhaften Pinselstrichen vor, wie tief das reformatorische Neuverständnis der Christlichen Religion in das hergebrachte Arsenal der eschatologischen Vorstellungen und Lehren eingriff: Christliches Leben ist, im Glauben verstanden als »Schicksalsgemeinschaft mit dem gestorbenen und auferweckten Christus«, auf dem Weg zum »unzerstörbaren Leben mit Gott« (26). Diese Gemeinschaft ist nicht mystisches Zergehen, sondern Kommunikation, Austausch – der ›fröhliche Wechsel und Streit‹ k lingt ebenso an wie die communicatio idiomatum. Und so ist auch die Vollendung dieser Gemeinschaft kommunikativ gedacht – eben als »bewegte Kommunikation zwischen Menschen, Engeln und Gott« (27). Vorgreifend sei bemerkt, dass sich hieraus eine Eigentümlichkeit im Gottesdienstverständnis des alten Luthertums herschreibt, welche auch die Gestaltung von Kirchenräumen geprägt hat: Musik zählte zu den konstitutiven Bestandteilen des Gottesdienstes, weil sie symbolisch die dem Christenleben im Glauben zugesagte Vollendung in dieser himmlischen Kommunikationsgemeinschaft antizipierte. Diese hochstufige Würdigung kam nicht nur dem Gemeindegesang zugute, sondern auch der gegenüber ihrer reformierten Ablehnung besonders begründungsbedürftigen Orgelmusik, wie der titelgebende Aufsatz des Bandes an eindrucksvollen Beispielen zeigt (156–183), und so zieht sich das Stichwort ›Musik der Engel und Musik der Menschen‹ leitmotivisch durch den ganzen Band (64.71.83.153–155). – Zurück zum Erzählzusammenhang: Auch die seelsorgerliche Sterbevorbereitung, die Sterbekunst, ein Zentralthema spätmittelalterlicher Frömmigkeit, wurde diesen von Grund auf erneuerten Prämissen gemäß kritisch gesichtet und reorganisiert. Bibelsprüche und Gesangbuchslieder fanden neuartige Verwendung als Medien jener ›Zwiesprache auf dem Wege zu Gott‹ – dem Sterbenden zugesprochen, von ihm angeeignet und weitergesagt als Ermunterung und Trost an die Überlebenden. Jeder Sterbende wurde auf diese Weise zum Christuszeug nis – das heißt zurückübersetzt: zum Martyrium! – verpflichtet, was allein insofern keine erbarmungslose Überforderung darstellte, als Bibel und Gesangbuch ja in erster Linie ihm selbst Trost und Zuversicht spendeten (vgl. 35 f.).
Seine Cantiones Sacrae hat Heinrich Schütz in der Frühphase des Dreißigjährigen Krieges mit Hans Ulrich von Eggenberg jemandem gewidmet, der, persönlich von jesuitischer Spiritualität geprägt, zu den maßgeblichen Männern am Hofe Kaiser Ferdinands II. zählte (»Die Texte der ›Cantiones sacrae‹ von Heinrich Schütz im Kontext der zeitgenössischen Theologie«, 37–54). Ob Schütz’ Widmung als Beitrag zur traditionell reichspatriotischen Politik des kursächsischen Hofes zu verstehen ist, ob Schütz mit ihr Erwerbsinteressen verfolgte, oder ob hier noch ganz andere Motive leitend waren, verraten die erhaltenen Quellen nicht. In der Auswahl der verarbeiteten Texte hat sich Schütz jedenfalls nicht dem Widmungsempfänger akkommodiert. Sicher, er hat auf Tra-ditionsbestände zurückgegriffen, die im Streit der Konfessionen dem oberflächlichen Blick neutral erscheinen mögen. Aber K. weist akribisch nach, dass Schütz sie so ausgewählt und arrangiert hat, dass ein deutliches evangelisches Profil entstand: »Der soteriologische Ansatz, der Christus als alleinigen Retter bezeugte und zum Vertrauen auf ihn ermunterte, ohne an eine Mitwirkung des Glaubenden zu appellieren, stand dem methodisch ansetzenden Synergismus jesuitischer Frömmigkeit entgegen« (52). Diese Frömmigkeitshaltung und die aus ihr herausgesponnene Theologie behielten den vertrauensvollen Dialog der Seele mit Gott, in den Schütz den Christenmenschen schon im Erdenleben hineingezogen sah, der Vollendung jenseits der Todesgrenze (und des Fegefeuers) vor. – Dass die so verstandene geistliche Musik die innere Zwiesprache des Christenmenschen mit dem dreieinigen Gott und des dreieinigen Gottes mit ihm repräsentiert, illustriert und bekräftigt K. mit der Vermutung, dass in den Oratorien Bachs die Solo-Altstimme das Einsprechen des Heiligen Geistes in der Menschenseele verkörpert – im extensiven Rückgriff auf zeitgenössische theologische und erbauliche Texte, welche die Bach bestimmenden religiösen Vorstellungen und theologischen Gedanken erschließen (»›Die Stimme des Heiligen Geistes‹. Theologische Hintergründe der solistischen Altpartien in der Kirchenmusik Johann Sebastian Bachs«, 132–155). Aus dieser Perspektive betrachtet, erweist sich auch die Echo-Arie in der IV. Kantate von Bachs Weihnachtsoratorium nicht als bloßer Tribut an einen musikalischen Modetrend (»Tröstendes Echo. Zur theologischen Deutung der Echo-Arie im IV. Teil des Weihnachts-Oratoriums von Johann Sebastian Bach«, 121–131). Vielmehr, so stellt K. nach einem Gang durch einschlägige Zeugnisse aus Bachs geistiger Welt fest, stellt die Echo-Arie einen »Gebetsvorgang dar […], bei dem der glaubenden Seele von der Seite des angerufenen Christus her eine Bestätigung der von ihr erhofften Antwort zuteilwird« (129).
Aber K. interessiert sich keineswegs ausschließlich für Bachs geistige Innenwelt, sondern der exzellente Kenner der thüringischen Territorialkirchengeschichte erschließt seinem Leser auch das in­trikate Geflecht des gottesdienstlichen Lebens in der Residenzstadt Weimar, wo Bach als Hoforganist fungierte (»›Jakobs Kirche‹. Er­kundungen im gottesdienstlichen Arbeitsfeld Johann Sebastian Bachs in Weimar«, 92–120). Fast beiläufig macht er es mit Verweis auf die gedruckte Festpredigt, welche Gen 32,23 ff. christologisch auslegt, wahrscheinlich, dass Bach seine Motette »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn« (BWV anh. 159) für einen Gottesdienst in der Weimarer Jakobskirche anlässlich des Geburtstags von Herzog Wilhelm Ernst im Jahre 1713 komponiert hat.
So wahr es ist, dass die »konfessionelle Eigenart [des lutherischen Protestantismus; M. O.] gegenüber den der schweizerischen Reformation entstammenden Kirchen sich in bewusster Hochschätzung der gottesdienstlichen Musik ausprägte« (95 f.; vgl. 164 f.), wie schlaglichtartig die unterschiedliche Auslegung von Ps 150 (160 f.) bezeugt, so umstritten waren innerlutherisch die Art und das Maß dieser Schätzung. Lagen anfangs bei Luther die lehrhaft-konfessorische Zweckbindung der Musik und die zweckfreie, reine Freude an diesem Gottesgeschenk und seiner Schönheit noch un­geschieden in- und beieinander, so wandten sich diese Sichtweisen in den Streitigkeiten zwischen Pietisten und Orthodoxen widereinander, womit sich eine weitere Kontroverse verband, die an die letzten Tiefen der Deutung christlichen Lebens rührte: Ist die Buße des Christenmenschen immer wieder so tief und dramatisch, wie sie der von Luther als Bußtext verstandene und nachgedichtete Ps 130 in Worte fasst (EG 299), oder besteht die hiervon kategorial zu unterscheidende Buße des Menschen, der im Glauben steht, in seinem weniger tief gehenden Empfinden der alltäglichen Unvollkommenheit? In zwei thematisch eng zusammenhängenden Studien zu Bachs kurzer Wirkungszeit in Mühlhausen schildert K., wie Bach in den Streit zwischen dem pietistischen Superintendenten Frohne und dem orthodoxen Pfarrer Eilmar geriet. Bach widersetzte sich an Eilmars Seite der pietistischen Restriktion der Musik auf eine frömmigkeits- und moralpädagogisch verengende Zweckrationalität (»›Die güldne Poesie und süße Musica …‹. Dichtung und Musik im persönlichen Beziehungskreis Johann Sebastian Bachs in Mühlhausen«, 55–71). Und mit einer seiner frühesten Kirchenkantaten gab er sein nachdrückliches Votum zugunsten der orthodox-lutherischen Auffassung der Christenbuße (»›Aus der Tieffen‹. Zum Entstehungskontext der Kantate BWV 131 von Johann Sebastian Bach«, 72–91).
Ein Beobachter, der als Schüler Richard Rothes den unaufhaltsamen Macht- und Bedeutungsverlust der verfassten Kirchen nüchtern und unaufgeregt konstatierte, hat es diesen schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts als zentrale Aufgabe eingeschärft, die »großen Tondichtungen des 18. Jh.s, in denen der christliche Gedanke wohl seinen sieghaftesten Ausdruck auf dem Gebiete der Kunst gefunden hat« (Heinrich Julius Holtzmann, Die Zukunft der Religion und der Religionswissenschaft, in: P. Hinneberg [Hg.], Systematische christliche Religion [Die Kultur der Gegenwart I/IV,2], Berlin/Leipzig 21909, 256–278, hier: 272), nach Kräften lebendig und präsent zu halten. In einer Zeit, da nicht wenige ihrer leitenden Repräsentanten unverhohlen die Absicht verfolgen, die ideellen und materiellen Restbestände der diffundierenden Volkskirchentümer in eine umfassende öko-soziale Be­wegung mit weltbürgerlichem Erziehungs- und Gestaltungsanspruch einzubringen, rufen K.s Aufsätze der Evangelischen Kirche den kaum zu überschätzenden Wert und Rang der Gaben und Pflichten in Erinnerung, die ihnen mit ihrer Musiktradition eigen sind. Sie tun das deswegen besonders nachdrücklich, weil sie von einem Autor stammen, der selbst ein Berufsleben lang seiner Kirche in Ehrfurcht gebietender Treue als theologischer Lehrer und als Prediger gedient hat – die längste Zeit in einer Umgebung, in der diese Ar­beit mit erheblichen Risiken und Opfern verbunden war.