Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1067–1069

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Klitzsch, Ingo

Titel/Untertitel:

Redaktion und Memoria. Die Lutherbilder der »Tischreden«.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XII, 635 S. = Spätmittelalter, Humanismus, Reformation, 114. Lw. EUR 119,00. ISBN 9783161590375.

Rezensent:

Johannes Schilling

Ingo Klitzschs Tübinger Habilitationsschrift ist ein Meilenstein in der Tischreden- und überhaupt in der Lutherforschung. Das Werk besticht sowohl durch seine interessante Fragestellung wie durch die sorgfältige Erarbeitung und Durchdringung des reichhaltigen Materials. Wenn die Kirchengeschichtswissenschaft solchen Nachwuchs hervorbringt, muss einem um die Zukunft unserer Disziplin nicht bange sein. Die Arbeit wurde 2020 von der Luther-Gesellschaft mit dem Martin-Luther-Preis für den akademischen Nachwuchs ausgezeichnet.
Luther ist, wie K. eingangs zutreffend bemerkt, einer breiteren Öffentlichkeit – wenn es sich denn nicht überhaupt um apokryphe Aussprüche handelt – vor allem durch Sätze aus seinen »Tischreden« präsent. Sie werden einzeln oder in bunten Mischungen, auf Holzbrettchen und Bierkrügen, auf Ansichtskarten und Plakaten und in kleinen Ausgaben mit Nachworten mehr oder weniger Berufener unter das Volk gebracht – womöglich unter der Bezeichnung »Der echte Luther«. Dass dieser dann derb sein muss, kann man sich denken – wie anders auch sollte er die Aufmerksamkeit erzeugen, an der es den Verkäufern gelegen ist.
»Tischreden« hat unter diesem Titel zuerst der Lutheradept Johannes Aurifaber (Vimariensis, um 1519–1575) als Buch herausgebracht, in einem stattlichen Folioband, der erstmals 1566 bei Urban Gaubisch in Eisleben erschien (VD16 L 6748) – die Lutherstadt Eisleben ist damit die Mutter all dessen, was auf diesem Wege unter die Leute gekommen ist. Das Projekt war erfolgreich: Eine zweite Ausgabe erschien 1567, aber dann übernahmen andere, größere und finanzkräftigere Drucker und Verleger die Ausgabe, und es gab Konkurrenzausgaben von Andreas Stangewald und Nikolaus Selnecker (vgl. WA 59, 747–780). In den Gesamtausgaben waren und sind die »Tischreden« ebenso vertreten wie in zahlreichen Auswahlen bis ins frühe 21. Jh. In den Jahren 1912 gab der Leipziger Bibliothekar Ernst Kroker (1859–1927) »Tischreden« in sechs Bänden als eigenständige Abteilung innerhalb der Weimarer Lutheraus-gabe heraus. In dieser Ausgabe wurde versucht, die Tischreden als Quelle für die Lebensgeschichte Luthers zu erschließen und die »ipsissima vox Lutheri« zu rekonstruieren oder ihr jedenfalls nahe zukommen. Das dem sechsten Band der Ausgabe beigegebene Register ist, wie man an etlichen Beispielen zeigen könnte, ebenso wie das im achten Band der Clemenschen Ausgabe, zum Ausgangspunkt für manche literarische Versuche geworden – wofür sind Register schließlich da? Um den dortigen Eintragungen nachzugehen, statt selbst zu lesen.
K.s großes Buch geht einen methodisch neuen Weg. Es zeigt, »wie methodisch verantwortet mit den Überlieferungen umgegangen werden kann« (557). Er nimmt den Charakter der Tischreden als Kompilationsliteratur ernst. Seine Interessen gelten den Tradenten und ihren Sammlungen. Welche Ziele verfolgten sie? Welche Lutherbilder wurden unter den jeweiligen Bedingungen entworfen? Es geht damit nicht mehr um die »Tischreden« als Quellen für den »historischen Luther«, sondern um die Quellengattung als Zeugnis der Luthermemoria um die Mitte des 16. Jh.s. Das Buch verbindet »klassische Einsichten der Exegese mit erinnerungsge schichtlichen Impulsen« (83) und handelt, in Aufnahme von Sammlungstiteln des 16. Jh.s und in Anknüpfung an antike Apophthegmata, mit Recht nicht mehr von »Tischreden«, sondern von »Apophthegmata Lutheri«.
Das Buch ist in vier Kapitel geteilt. Nach einer methodischen Grundlegung (I) folgen drei Kapitel, in denen die jeweiligen traditiones verfolgt werden, die »Wellersche« (II), die »Lauterbach-Hänelsche« (III) und die Aurifabersche (IV). Ein ausführliches Resümee (V; 557–574) steht am Schluss, Abkürzungs-, Quellen-, Literaturverzeichnis und Register (Bibelstellen, Personen, Orte) folgen.
Im Zentrum von Kapitel II stehen die bekannten Handschriften Gotha Chart. A 402 und der zweiteilige Hamburger Codex Sup. ep. 4o 73 und 74. K. weist sie dem Umkreis des Freiberger Reformators Hieronymus Weller zu, zu dem ein besonderes – ich möchte fast sagen: inniges – Verhältnis Luthers bestand. Es ist beeindruckend, wie K. a minore ad maius gelangt, von sorgfältigen kodikologischen Beobachtungen über die zahlreichen Aspekte der hier nach Loci versammelten Luther-Apophthegmata hin zu einem Resümee »Luthermemoria in der ›Krisensituation‹« (302–305). Denn die 1551 abgeschlossene Sammlung verdankt sich einer als solcher intensiv wahrgenommenen Krisensituation nach Luthers Tod und dem Interim, die K. als eine unter den vielen Stimmen dieser Jahre bezeichnet, »die mit der Unterscheidung von ›Gnesioluthertum‹ und ›Philippismus‹ nur unzureichend erfasst wird« (305).
Das dritte Kapitel behandelt die »Lauterbach-Hänelsche Tradition«. Sie liegt in der Handschrift Halle, Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, D 116 2o vor, die 1863–1866 von Heinrich Ernst Bindseil ediert wurde. Die ausführlichen Textinterpretationen münden hier in eine Schlussbetrachtung »Luthermemoria im Kontext ›konfessionskultureller Verfestigung‹« (417–420). Die nach 1551 begonnene Sammlung ist jünger als die des Wellerschen Kreises, sie dient nicht mehr, wie jene, der Kontingenzbewältigung, sondern zeugt von einer »in ihrer Identität immer mehr ge-festigte(n) lokale(n) Ausprägung einer lutherischen Majorität« (418) und einer »fortgeschrittenen Monumentalisierung Luthers« (420).
Im vierten, knapper gefassten Kapitel geht es um »Die Aurifabersche Tradition«, die wirkungsgeschichtlich prägendste. In ihr wurden durch einen Augenzeugen von Luthers Tod die beiden vorausgegangenen Traditionen »zu einem neuen Ganzen verbunden« (474), in 80 Kapitel eingeteilt, in denen ein »prinzipieller Antipapalismus« (482) herrscht und ein monumentalisierter, dogmatisch-frommer Luther präsentiert wird; entsprechend lautet die Zusammenfassung »Luthermemoria als eschatologisch-prophetische Monumentalisierung der Lehre« (552–556). Neben einer eingehenden Darstellung der Tischredenausgabe bietet dieses Kapitel Materialien zu den Biographien Wellers, Lauterbachs, Hänels und Aurifabers selbst – die Anmerkungen sind, wie auch in anderen Teilen des Werks, Fundgruben, aus denen man reichlich schöpfen kann.
K. hat mit seiner Arbeit ein in jeder Hinsicht beeindruckendes Opus vorgelegt. Das gilt nicht nur für die umfassende Kenntnis und Verarbeitung der Quellen, sondern auch für die intensive Rezeption und Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur. Das Buch verbindet Kodikologie, Philologie, Historie und Biographik mit einer gedächtniskulturellen Perspektive, die über den Gegenstand hinaus methodisch von Interesse ist. Und es erweitert die Kenntnisse der Kirchengeschichte in den Jahrzehnten zwischen Luthers Tod und der Konkordienformel.
Die Studie lässt nur einen einzigen Wunsch übrig (vgl. 15 f. und 574, Anm. 44): den nach einer Neuausgabe der Überlieferungen der »Apophthegmata Lutheri« unter der Leitung ihres gelehrten Autors.