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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1057–1063

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bond, Helen K.

Titel/Untertitel:

The First Biography of Jesus. Genre and Meaning in Mark’s Gospel.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2020. 336 S. Geb. US$ 42,99. ISBN 9780802874603.

Rezensent:

Felix John

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Keener, Craig S., and Edward T. Wright[Eds.]: Biographies and Jesus. What Does It Mean for the Gospels to be Biographies? Dardenne Prairie: Emeth Press 2016. 468 S. Kart. US$ 33,00. ISBN 9781609471064.
Keener, Craig S.: Christobiography. Memory, History, and the Reliability of the Gospels. Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2019. 743 S. Geb. US$ 54,99. ISBN 9780802876751.
Tilly, Michael, u. Ulrich Mell[Hgg.]: Gegenspieler. Zur Auseinandersetzung mit dem Gegner in frühjüdischer und urchristlicher Literatur. Tübingen: Mohr Siebeck 2019. VIII, 439 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 428. Lw. EUR 149,00. ISBN 9783161560965.


Laut der Evangelien-Biographie-These stellt die griechisch-römische Biographie die nächstliegende literarische Analogie zu den neutestamentlichen Evangelien dar. Dieser Gedanke kam lange Zeit nur in negierter Form zur Sprache, denn frühchristliche und antike (Hoch-[!]) Literatur galten als kategorial unterschiedlich (und daher als nicht sinnvoll vergleichbar), die Evangelien als Schöpfung sui generis. Nach Vorarbeiten Anderer demonstrierten in den 1990er-Jahren die Studien Richard Burridges, Dirk Frickenschmidts und Detlev Dormeyers die Legitimität und Fruchtbarkeit des Evangelien-Biographie-Vergleichs. Die beschriebene These fand und findet recht weitreichende Zustimmung, hat jedoch bisher nicht zu allzu viel vertiefender oder weiterführender exegetischer Arbeit angeregt. An ihr anzuknüpfen liegt also gewissermaßen in der Luft. Die hier vorzustellenden Werke widmen sich dieser Aufgabe. In ihnen begegnen zwei völlig unterschiedliche An­sätze literarisch-theologischer Evangelien-Analyse.
So repräsentieren der vom US-Neutestamentler Craig S. Keener und seinem Schüler Edward T. Wright herausgegebene Sammelband sowie die darauf aufbauende Monographie Keeners die Bemühung, mittels der Biographie-Einordnung der Evangelien die historische Zuverlässigkeit des in ihnen Erzählten zu erweisen.
Der 2016 publizierte Sammelband enthält 16 Beiträge (davon vier Wiederabdrucke). Das Gros der Studien konzentriert sich auf biographische Werke von Sueton, Plutarch und Nepos. Flankierend werden auch Philo Mos.; Jos Vita, sowie als frühjüdische histo-riographische Schriften 1/2Makk beleuchtet. Durch zum Teil in Tabellenform präsentierte, umfangreiche synoptische Vergleiche wird als Charakteristikum der Werke herausgearbeitet, dass sie in hohem Maß auf Informationen aus schriftlichen (meist historiographischen) Quellen fußen, teils auch auf Augenzeugenberichten. Die antiken Autoren erlaubten sich nur kleinere Anpassungen und gäben das auf sie gekommene Material insgesamt zuverlässig weiter. Rezipientinnen und Rezipienten erwarteten demzufolge in neutestamentlicher Zeit von einem biographischen Werk eine wahrheitsgemäße Darstellung, keine fiktive Geschichte. Angedeutet wird die intendierte Übertragung: Mit der Wahl der biographischen Erzählweise übernehme auch der Markusevangelist die Selbstverpflichtung, alles wahrheitsgemäß zu berichten. Die späteren Evangelienautoren seien ihm darin gefolgt. Kleinere Differenzen begegneten auch zwischen den Evangelien; diese bewegten sich jedoch im Rahmen des Gattungstypischen und seien keineswegs Anzeichen für Fiktionalität.
Die Beiträge des Sammelbandes präsentieren gewissermaßen das Rohmaterial, auf dem der beschriebene Deutungsansatz aufbaut. Erarbeitet hat es eine am Asbury Theological Seminary (Wilmore, Kentucky), an welchem Keener lehrt, tätige (anscheinend rein männlich besetzte) Nachwuchsforschergruppe (1). Angesichts der Aufgabenstellung verwundert es, dass altphilologische bzw. -historische sowie literatur- und historiographietheoretische Perspektiven nicht vertreten sind. Abgerundet wird der Band durch einen Überblick von Steve Walton zur Rezeption der Burridge-Arbeit sowie durch kurze Essays von Holly J. Carvey und Michael R. Licona.
Die bereits angedeutete Argumentation arbeitet die Monographie Keeners nun zu einem eigenen Entwurf aus. Ein erster Ar­beitsgang (25–150) charakterisiert die neutestamentlichen Evangelien als »biographies about Jesus«. Wie ein Durchgang durch die antike biographische Literatur zeige, blühe in neutestamentlicher Zeit die historiographisch orientierte Vita. Sie habe bei der Abfassung der Evangelien Pate gestanden. Keine belastbaren Vergleichspunkte ergäben sich dagegen beim Enkomion, dem Roman oder den fiktiven Dichterviten, denn in ihnen werde nicht über eine historisch greifbare Person berichtet. Zudem gehörten sie zumeist einer späteren Zeit an. Auf dem Feld des historiographieaffinen Bios verbinde Jesu Lehrtätigkeit ihn mit der Philosophenvita, sein öffentliches Auftreten rücke ihn, obwohl gerade kein Feldherr oder Kaiser, in die Nähe der Politiker-Biographie. Die Wundertätigkeit könnte an das Porträt des »Göttlichen Menschen« denken lassen; dieses trete jedoch ebenfalls erst später auf.
Die zweite Abteilung des Buches widmet sich der antiken Historio- und der Biographie, wirft Seitenblicke auf die Evangelien-Biographie-These und nimmt den Kern des Darstellungsinteresses, die historische Glaubwürdigkeit der Evangelien, in den Blick (151–257). Anders als früher erkenne die heutige altertumswissenschaftliche Forschung die innere Verwandtschaft von und die zum Teil fließenden Übergänge zwischen Geschichtsschreibung und Viten (153–160). Ansätze der Auslegung des Markusevangeliums, es von der historischen Monographie her zu beschreiben (A. Y. Collins,E.-M. Becker), seien in sich berechtigt, sprächen aber aufgrund des zuletzt Gesagten gerade nicht gegen seinen biographischen Charakter (160–168). Ein antiker Historiograph (183–220) verpflichte sich zu einer wahrheitsgemäßen Darstellung. Zwar sei die Imagination von Einzelheiten, etwa Reden oder Gedanken, zu Gunsten einer gefälligeren Darstellung erlaubt gewesen, auch die Stoffanordnung gemäß dem jeweiligen Darstellungsinteresse. Doch die literarische Gestaltungsfreiheit bewege sich innerhalb enger Grenzen. Durch das kritische Studium von Quellen, durch die Befragung von Augenzeugen oder die In-Augenschein-Nahme sichere der antike Historiker die Authentizität seiner Erzählinhalte ab (240–257). Die antike Geschichtsschreibung berichte zuverlässig, insbesondere bei der Darstellung noch nicht allzu lang vergangener Geschehnisse. Genau diese Konstellation liege bei den biographisch – und daher historiographisch – strukturierten Evangelien vor. Kritisiert wird daher historische Skepsis gegenüber den Evangelien. Warum, fragt K., sollte man Arrians 500 Jahre später verfassten Darstellung Alexanders des Großen mehr Authentizität zubilligen als ihnen, die über gerade einmal eine Generation Zurücklie gendes berichten und zudem auf Augenzeugen-Informationen zu­rückgehen (252)?
Der dritte Buchteil bietet – bereits im vorgestellten Sammelband vorbereitete – Fallbeispiele (259–327). So zeige etwa der synoptische Vergleich der Otho-Darstellungen bei Sueton, Plutarch und Tacitus (261–302) die weitreichenden Übereinstimmungen im Grundsätzlichen sowie in zahlreichen Details. Kleinere Abweichungen und Auslassungen seien auf den jeweiligen literarischen Kontext, auf Versehen der Autoren oder gestalterische Arbeit (Raffung etc.) zurückzuführen, gelegentlich auch auf einsetzende Legendenbildung in der Überlieferung vor der Abfassung. Zur festgestellten Zuverlässigkeit antiker Bio-/Historiographen passe, dass sie nur kleine eigene Gestaltungsspielräume nutzten (303–327). Philo Mos. etwa halte sich getreu an den biblischen Prätext. Plutarch dagegen erlaube sich größere Eingriffe in seinen Stoff: die Umkontextualisierung von Traditionen, die Fingierung von De­tails, extreme Raffungen. Die Abweichungen innerhalb der Synoptiker fielen im Vergleich weit geringfügiger aus und seien zudem als gattungstypisch einzustufen.
Im Vergleich mit der historiographienahen paganen Biographie der Zeitenwende bedenkt K. eigens die umfangreiche Wunderüberlieferung der Evangelien (331–345). Analogien dazu aus vorneutestamentlicher Zeit biete die antike Biographie nicht, auch wenn dort gelegentlich von Übernatürlichem, etwa von Omina, erzählt werde. Im Fall der neutestamentlichen Evangelien sei die Wundertätigkeit Jesu als zentraler Bestandteil des frühchristlichen Wissens vorgegeben.
In gewisser Hinsicht als Sonderfall sei das Joh einzustufen (346–364). Es tendiere mehr in Richtung eines enkomiastischen Bios (vgl. Philo Mos.; Xen. mem.), wenngleich es Augenzeugeninformationen (des Lieblingsjüngers) enthalte. Im Wesentlichen stimme es mit dem in den Synoptikern Erzählten überein. Auch die zwischen ihnen und dem Joh festzustellenden Abweichungen entsprächen den legitimen Anpassungen eines Autors einer antiken Biographie.
Überlegungen zum menschlichen Gedächtnis sowie zur kollektiven Erinnerung beschließen das Buch (365–496). Die Erinnerung an Geschehnisse, ebenso an Aussprüche Anderer, insbesondere wenn Letztere bestimmten gedächtnisstützenden Formen folgten, könnten über Jahrzehnte und länger bewahrt werden. Die in der Antike, z. B. in Philosophenschulen, gepflegte nicht-schriftliche Informationsvermittlung und -speicherung hätte dazu beigetragen, dass die Evangelien Jesu Lehre und Leben zuverlässig überlieferten. Zudem fußten sie auf Augenzeugen-Wissen: des Lieblingsjüngers im Fall von Joh, des Petrus bei Mk.
In seinem Fazit räumt K. ein, dass mit der vorgestellten Methode keine einzige Perikope als historisch glaubwürdig erwiesen werden kann. Doch durch den Vergleich mit dem historiographieaffinen Bios lasse sich der faktuale Charakter der Texte zeigen: Sie seien keine ausgedachten Welten (497).
Vieles an K.s Buch ist begrüßenswert: dass es die Evangelien-Biographie-These unter neuen Vorzeichen aufnimmt, die gegenwärtige altertumswissenschaftliche Beschäftigung mit antiken biographischen Texten zu ihrem Recht kommen lässt und auf Polemik gegenüber anderen Positionen verzichtet. Weiterführend ist der Grundgedanke, durch den Blick auf literarisch ähnlich strukturierte griechisch und römische Werke etwas über Produktion und Rezeption der Evangelien zu lernen. Mit K. ist anzunehmen, dass die Evangelien, ähnlich wie die vorbildgebende historio-/biographische Literatur, Geschehnisse adäquat wiedergeben wollten. Unter antiken Vorzeichen sind fiktionale Anteile dabei aber gerade nicht verboten, sondern aus ästhetischen und didaktischen Gründen gefordert. Offensichtlich glaubt K. die Evangelien vor solchen Beschreibungskategorien schützen zu müssen und zu können. Dadurch entsteht die Gefahr, dass die neutestamentlichen Erzählevangelien mehr als Abbildungen von Geschehnissen und weniger als eigenständige literarische und theologische Entwürfe – und damit, anders als beabsichtigt (497), anachronistisch – gelesen werden. Trotz seiner 700 Seiten lässt K.s »prolegomenon« (1) einer historischen Auswertung der (kanonischen) Evangelien noch Raum für Diskussion.
Einen anderen Ansatz- und Beobachtungspunkt wählt Helen Bond in ihrem 2020 erschienenen Buch zum Markusevangelium im Lichte der Biographie-Einordnung. Auch diese Arbeit knüpft an die Evangelien-Biographie-These an. Als nächste Parallele zum Mk gelten hier die griechischen Philosophenviten, etwa Xen. mem.; Philo Mos.; Äsopleben; Lukian. Demonax; Philostr. Ap.; Diog. Laert. (6). Sie begegnen dementsprechend im weiteren Verlauf der Vergleichsarbeit als primäre Referenztexte, ohne den Blick zu verengen. Vor dem Hintergrund der diagnostizierten Leerstellen der Evangelien-Biographie-Forschung nimmt sich die Studie vor, nach den interpretatorischen Konsequenzen zu fragen, die sich ergeben, wenn man das Mk im Kontext des antiken Bios liest (4.12). Die Entstehung des Mk wird in die ersten Jahre nach 70 n. Chr. datiert; Rom gilt als möglicher Abfassungsort, ohne dass davon für die Interpretation viel abhängt (8).
Der mehrschrittigen Arbeit am Mk steht eine Bestandsaufnahme wichtiger Beobachtungen zur griechischen und römischen Biographie-Literatur voran. Betont wird der moralische Impetus des antiken Bios (46–51). Er lässt manche der Porträtierten weniger als Individuen denn als Realisationen bestimmter idealtypischer Charakterzüge (51–53) erscheinen. Akzentuierungen, Färbungen und die Arbeit mit fiktionalen Mitteln waren üblich und innerhalb bestimmter Grenzen legitim. Letztere waren enger gesteckt bei his­toriographienahen Autoren wie Plutarch oder Sueton, weiter bei Xenophon oder Philostrat (60–71).
Die Arbeit am Mk erfolgt nun in vier Schritten: 1. zu allgemeinen Charakteristika des Werks, 2. zur Darstellung der Wirksamkeit Jesu bis zu seinem Aufenthalt in Jerusalem, 3. zu Erzählfiguren abseits der Hauptfigur Jesus und schließlich 4. zur markinischen Passionsgeschichte.
Ad 1. Die Abfassung des Mk setzt ein Bildungsniveau voraus, wie es etwa durch den Besuch des Unterrichts eines grammaticus erworben werden konnte (80–86); für seine Rezeption war Entsprechendes nicht nötig. Das Werk entstand für eine noch in Umrissen erkennbare frühchristliche »reading commuity« (88–98). Erst sekundär, anders als programmatisch von Richard Bauckham vertreten, erreichte es weitere christliche Leserkreise (96–98).
Die Schlichtheit der Erzählung spricht keineswegs gegen ihre Raffiniertheit. Ähnlich wie etwa bei Sueton finden sich sowohl chronologische (Mk 1; 11–16) als auch thematische (z. B. Mk 4; 12 etc.) Ordnungsstrukturen; auch kunstvolle Sandwich- und chiastische Konstruktionen. Kurze und längere Einheiten wechseln sich ab. Die Episodenstruktur half bei der Memorierung und dem mündlichen Vortrag (105). Das Papias-Urteil der Unordnung ist weniger als Kritik am Mk denn als Bevorzugung des Joh aufgrund seiner gemutmaßten apostolischen Verfasserschaft zu verstehen (103 f.).
Die Rekonstruktion der vormarkinischen Tradition als Hauptansatzpunkt der Mk-Exegese hat sich endgültig als Aporie erwiesen (106–110). Die häufig begegnende Chrienform etwa enthält per se kaum historische Details, und das nicht etwa, weil solche Einzelheiten innerhalb eines postulierten mündlichen Überlieferungsprozesses weggefallen sind. Als Biographie setzt das Mk Informationen voraus. Ob Petrus eine Quelle war? Wenn verfügbar, wurden Sammlungen (wie die Logienquelle, die lag aber nicht vor) herangezogen. Grob dem frühchristlichen Wissensbestand widersprechen konnte die Erzählung nicht. Wohl aber erfolgten Akzentuierungen und Färbungen. Exemplarisch lässt sich etwa an den Er­zählschluss oder an das Motiv der privatim stattfindenden Lehre (vgl. 4,10–20) denken. Insgesamt ist das Mk eine literarische Welt. Tradiertes Material kann von auktorialen Hinzufügungen nicht sicher abgehoben werden. Der Evangelist ist ein »creative biographer« (110; im Original kursiv), kein sammelnder Kopist. Dieser Befund gilt auch im Fall des Passionsberichts (110–113), dessen vormarkinische Gestalt besonders intensiv diskutiert wurde. Der Tonwechsel beim Eintritt in die letzte Lebensphase ist bewährtes erzählerisches Mittel in antiken Biographien. Zudem ist der Passionsbericht innerhalb des Gesamtwerks gut verankert (s. u. 4.) und lässt sich daher nicht als übernommener Block abheben.
Ad 2. Die Charakterisierung der Hauptfigur erfolgt biostypisch (vgl. Plut. Alexandros 1) durch die Darstellung kleinerer und größerer Taten und Aussprüche, weniger durch beschreibende Analysen (121–124). Dass Jesus in Mk 1,11 ein göttliches Genos erhält, war jüdisch wie pagan rezipierbar (125–131). Ohne aus dem jüdischen Referenzrahmen herauszufallen, wird Jesus in Mk 1–8 als Träger männlicher (griechisch-römischer) Elitetugenden dargestellt (135–150): Durch Wundertaten und die Bewältigung von Konfliktsituationen erweist er seine sophrosyne und seine philanthropia. Seine Selbstbezeichnung als Menschensohn (= »Mensch«; nicht der eschatologische Titel aus Dan 7) sowie die Versuche, die Kunde über sein Wirken zu unterdrücken, belegen zudem seine moderatio. In ähnlicher Weise versucht etwa Apollonius von Tyana bei Philostrat Ehrerweise abzuwehren.
Die zuletzt genannte Tugend des markinischen Jesu liegt dann der in Mk 8,22–10,52 stattfindenden Belehrung über die Nachfolge zugrunde und wird dort zu einer radikalen Umpolung der gemeinantiken Auffassungen von Ehre und Herrschaft ausgebaut (150–155): Der Christus verzichtet auf beides; vielmehr dient er allen und gibt dafür sein Leben hin. Die Infragestellung etablierter Werte ist dem antiken Bios nicht fremd: sei es beim hässlichen Äsop oder den status- und ehrungsimmunen Philosophen von Sokrates bis hin zu Philos Mose. Aus der Selbsthingabe Jesu folgt für seine Nachfolger die Bereitschaft zur Leidensnachfolge. In diese Richtung zielt auch die intendierte Applikation im realen Leben der Rezipienten. Vorausgesetzt wird dabei ein Spektrum von alltäglichen Marginalisierungsversuchen bis hin zur gewaltsamen Verfolgung (155–161). Das Werk will also zur imitatio Christi anleiten. Nicht zuletzt von daher erklärt sich der eher biographieuntypische Umstand, dass Jesus gewissermaßen alters- und geschlechtslos dargestellt und seine äußere Erscheinung so gut wie nicht beschrieben wird (161–166): Sowohl Adressatinnen als auch Adressaten, und zwar jeglichen Alters, sollte so die Identifikation mit der Hauptfigur erleichtert werden.
Ad 3. Die Darstellungen der Figuren abgesehen von der Hauptfigur Jesus dienen der Charakterisierung Letzterer. Daher bleiben bei den Nebenfiguren Leerstellen bestehen, was aus heutiger Sicht irritiert (z. B.: »Warum agieren die Jünger so?«; 220 f.). Im Rahmen kleinerer Auftritte (168–171) steht etwa der Täufer für die Einordnung Jesu in die Heilsgeschichte Israels. Die Skepsis von Jesu Familie, gleich, ob das Erzählte auf tradierten Informationen beruht oder nicht, unterstreicht seine Entschlossenheit. Die markinische Er­zählkunst zeigt sich in der Nutzung der in Viten (z. B. Philo Mos., Plut., Tac. Agricola) gängigen Technik der Synkrisis (171–178). Mk 5, 22–43 etwa schafft ein Cluster an Vergleichsebenen zwischen den beiden Handlungssträngen, die ohne ihre Zusammenbindung nicht in den Blick kämen. Herodes (Antipas) wird in Mk 6,14–29 als schlechter König porträtiert und damit dem »König« Jesus (vgl. Mk 15,2; s. u. 4.) gegenübergestellt. Viel Aufmerksamkeit in der Mk-Forschung hat die krasse Ambivalenz der Rolle der Zwölf auf sich gezogen (190–209). Ihr Unverständnis und ihre Illoyalität sind aber im Vergleich etwa zu den Sokrates- oder den Apolloniusschülern nur relativ auffällig. Ihre Flucht aus Jerusalem geht auf das gottgewirkte Geschick Jesu zurück. Als negative Exempla fungieren mit jeweils entgegengesetztem Ausgang Judas und Petrus. Kleinere, nur in einer Episode auftretende Figuren sind in ihrer Bedeutung nicht zu überschätzen (209–220). Sie bilden keine homogene Gruppe guter Charaktere, sondern illustrieren lediglich einzelne Aspekte der Erzählung. So dient etwa die Gebebereitschaft der Frau in Betanien als Positivfolie für die Bestechlichkeit des Judas (Mk 14,1–11). Simon von Kyrene ist kein exemplarischer Nachfolger, sondern wird im Rahmen der Verspottung Jesu zur Nachahmung eines lictor gezwungen. Der Ausspruch des centurio beim Kreuz entspricht dem Topos des vom Delinquenten beeindruckten Vollzugsbeamten (vgl. Sokrates) und liegt inhaltlich auf der Linie der Erkenntnis der Dämonen in Mk 3,11. Für den Leser wird freilich der Bezug zu Mk 1,1(?).11; 9,7 klar.
Ad 4. Seit der Sokrates-Tradition gilt die narrative Inszenierung des Lebensendes als charakteroffenbarend, daher nimmt sie auch im Mk breiten Raum ein. Mk 14–16 (bzw. 11–16) gehen nicht auf einen vormarkinischen Bericht zurück (224–231). Vielmehr verarbeitet die Passage in eigenständiger Weise im Umlauf befindliche(s) Erinnerungsgut und Deutungsansätze des Todes Jesu (vgl. 1Kor 5,7; 11,23–25; Phil 2,5–11; Gal 3,13). Als Leitgedanken des markinischen Passionsberichts können ausgemacht werden: Das Mus­ter des edlen Philosophentodes sowie Details zu den körperlichen Qualen fehlen, im Fokus stehen die Passivität und das Verlassensein Jesu. Gezeigt werden soll so, dass Jesu Lehre, ihn als Sklaven aller und als dem göttlichen Willen unbedingt Verpflichteten zu sehen, mit seinem Leben übereinstimmte (231–233). Jesu einsames Ende ermöglicht eine neue Gemeinschaft, die einen neuen Zugang zu Gott erhält (233–235). Jesu Selbsthingabe wird hier zum ultimativen Vorbild der Bedrängten in der Leserschaft des Mk (235–237). Als verspotteter und letztlich doch ins Recht gesetzter »König« gipfelt am Kreuz die Umwertung der gesellschaftlich üblichen Herr schaftsvorstellungen (237–241). Einige nähere Umstände lassen sich mit in biographischer Literatur üblichen Motiven verbinden, etwa die Dunkelheit als kosmische Reaktion (241–246). Die Unauffindbarkeit des Leichnams steht für die Aufnahme des Verstorbenen in die göttliche Sphäre (vgl. Plut. Romulus) und wird mit der Vorstellung der Auferstehung der Toten verquickt (246–249). Am Erzählende in Mk 16,8 fehlt inhaltlich nichts, da die Verwirklichung der Auferstehungsankündigung vorausgesetzt wird (252). Vom Ende her betrachtet, erscheint das Mk als ein erzähltes monumentum, das der Autor Jesus und seiner Lehre, seinem Leben und seinem Tod setzt (249).
B.s Buch endet mit einem Rückblick und zwei wichtigen Beobachtungen: Im Mk begegnet Jesus als eine literarische Figur, die dem Jesusbild des Verfassers entspringt. Neben der Reflexion über die Deutung des Todes Jesu war diesem frühchristlichen Anonymus der Gedanke wichtig, dass Jesu Lehre für eine Umkehrung der Begriffe von Ehre und Herrschaft steht. Für sein Werk wählte er, vermutlich als Erster, die Form des Bios. Dass im Mk das Jesusbild eines Autors begegnet und dass wir darüber hinaus nicht näher an den Nazarener herankommen, ist Fakt, aber kein Grund zur Betrübnis. Das markinische Jesusbild spricht seit Jahrhunderten Menschen an, mehr als es wissenschaftliche Rekonstruktion vermag (257 f.).
Das Vorhaben, vertieft nach den interpretatorischen Konsequenzen der Biographie-Einordnung des ältesten Evangeliums zu fragen, wird in »The First Biography of Jesus« in gewinnbringender Weise umgesetzt. Durch die vorurteilsfreie Mk-Lektüre ergeben sich nicht nur interessante Detailbeobachtungen und im Einzelnen zu diskutierende Interpretationsvorschläge, sondern auch die Umrisse eines Bildes des markinischen Jesus, das dessen griechisch-römische Kontextualisierungsmöglichkeiten betont, ohne jüdische Kontexte zurückzudrängen. Zu Recht porträtiert die Arbeit das Mk als das, was es ist: eine – wenn man so will: (noch heute) ›funktionierende‹ – literarische Welt. Eine neue Phase der Evangelien-Biographie-Diskussion ist eröffnet.

GreifswaldFelix John




Von der Auseinandersetzung mit gegnerischen Positionen leben gewissermaßen sowohl die frühjüdische als auch die neutestamentliche und die altkirchliche Literatur. Von Fall zu Fall sind sowohl reale Konflikte als auch ihre literarische Darstellung und Bearbeitung unterschiedlich gelagert. Daher sind Einzeluntersuchungen nötig, wie sie der vorliegende Band versammelt. Die meisten der Beiträge gehen auf ein Hohenheimer-Tübinger Symposium (2015) zurück.
Der einleitende Beitrag Oda Wischmeyers bietet eine Bestandsaufnahme zur Gegnerpolemik in den neutestamentlichen Schriften und benennt einige literarische Grundoptionen, etwa Anonymität und Fiktivität der Gegner. Auch die Selbstvergewisserung oder die Ermahnung der Adressaten könnten Ziele der Autoren ge­wesen sein.
Mit frühjüdischen Texten beschäftigen sich die Beiträge von Evangelia G. Dafni und Ekaterina Matusova: Alexander der Große sei in 1Makk kein Gegner, wohl aber seine Epigonen. Dass Juden und Jüdisches bei Philo »Chaldäer« bzw. »chaldäisch« genannt werden, könnte mit einer Selbstbezeichnung zusammenhängen, die im Umfeld der Konflikte in Alexandria eine Rolle spielte.
Die sich mit paulinischen Texten beschäftigenden Beiträge rekonstruieren jeweils unterschiedliche Gemengelagen im Hintergrund der Briefe. So erlaube etwa der 2Kor (Manuel Vogel) keine Rekonstruktion des theologischen Profils der Konkurrenten. Denn nicht jeder Gedanke reagiere auf einen gegnerischen Punkt. Es gehe auch gar nicht um Sachfragen, sondern um die Autorität des Apostels: Anfeindungen, auf die Paulus bereits im 1Kor reagiert habe.
Eve-Marie Becker fragt, wie Paulus in Phil 2,1–4 Demut als zentrale christliche Tugend etablieren und gleichzeitig heftig polemisieren kann (Phil 3,2–4; 3,18). Rhetorisch dienten die gegen – vermutlich nicht reale – Demutsverächter gerichteten Passagen als Kontrast zu den angeführten Positiv-Exempla.
Anders liegen die Dinge beim Gal, der, wie Dieter Sänger herausarbeitet, »[p]lurale Konfliktlinien« als historischen Hintergrund erkennen lässt. Der massive Konflikt mit den gemeindeexternen, innerjudenchristlichen Konkurrenten resultiere aus der beschneidungsfreien Mission, die sich für Paulus aus dem Damaskuserlebnis und der dadurch eingetretenen Neubewertung der Tora ergeben habe. Strittig seien die Punkte Beschneidung, Festkalender und Speisegebote gewesen. Gegenüber den Briefadressaten und mittelbar auch den Gegnern baue Paulus seine Argumentation auf dem Basis-Satz von Gal 2,16 auf, der vermutlich aus Antiochien stamme. Ob mit Erfolg, bleibe im Ungewissen.
Die jeweiligen Entstehungssituationen der Past, für Jens Herzer teils paulinisch, teils pseudepigraph, spiegelten sich auch in der un­terschiedlichen Gegnerauseinandersetzung wider. In dem authentischen Mandatsschreiben Tit dränge die primär Klischees aufrufende Invektive (Tit 1,10–16) den Einfluss innerjudenchristlicher Paulus-Konkurrenten zurück. Ähnlich sei der ebenfalls echte, testamentsartige 2Tim ausgerichtet, der jedoch auf den Einsatz von Invektiven habe verzichten können. Im pseudepigraphen 1Tim träten Klischees zurück hinter die Auseinandersetzung mit einer heterodoxen Gruppe (»Gnosis«).
Mit der Erwähnung von Jannes und Jambres innerhalb der Ar­gumentation des 2Tim beschäftigt sich Hermann Lichtenberger. Zugrunde liege jene Überlieferung, die die beiden als innerisraelitische Konkurrenten Moses darstellt. Ihre Widerständigkeit und ihr Unverstand dienten als Vergleichspunkt der Gegnerpolemik des Schreibens.
Korinna Zamfir blickt insbesondere vom 1Tim aus über die Kanongrenze hinweg auf die A. Paul. et Thecl. Die dort belegten asketischen Tendenzen ähnelten jenen, die im 1Tim kritisiert würden. Beide Parteien beriefen sich auf Paulus, jedoch in eigener In­terpretation.
Die Gegnerschaft im Kol rekonstruiert Peter Müller: Innnerchristliche, nichtfiktive Konkurrenten seien im Blick, denen die Nichtanerkennung Christi als Haupt aller Mächte unterstellt würde. Ihr Christentum weise Affinitäten zum Judentum sowie zu allgemein verbreiteten Elementen antiker Religionen auf. Sie blieben anonym, um eine Spaltung der Gemeinde zu verhindern und Einzelne zur stillschweigenden Korrektur zu motivieren.
Dem Jud widmet sich der Beitrag von Wolfgang Grünstäudl. Gegenspieler seien hier Ekstatiker, die auf eigene visionäre Erlebnisse verwiesen hätten. Mit Hinweis auf Just. Dial. bestimmt Grünstäudl Jesus als Subjekt des schwierigen Verses Jud 5. Daher gehe es auch in Jud 8 um die Verachtung der »Herrschaft« Jesu.
Der Hebr lässt Wolfgang Kraus zufolge keine Rekonstruktion einer Gegnerauseinandersetzung im engeren Sinne zu. Zentral sei die Rede von dem einen Gottesvolk. Der Hebr mit seiner Hohenpriesterchristologie bewege sich in einem jüdisch geprägten Milieu und reagiere auf äußere Bedrängnisse sowie die Gefahr des Verlassens der Bekenntnisgrundlagen im Innern.
Zwei Studien beschäftigen sich mit neutestamentlichen Erzähltexten. Die innerhalb der erzählten Welt des Markusevangeliums gegen Jesus Arbeitenden analysiert Martin Meiser unter Anlegung narratologischer Kriterien. Das Erzählte werde auf die Abfassungszeit hin transparent, etwa bei Themen wie Reinheit oder Ehe(scheidung). Jesu ›Prozess‹ spiegele Verfolgungserfahrungen, Judas das Denunziantentum von innen, Streitgespräche und Konflikte den schwierigen Sonderstatus des Frühchristentums in jüdischen wie paganen Kontexten.
Gert J. Steyn untersucht den Konflikt des lukanischen Paulus mit »den Juden« in Thessaloniki (Act 17,1–10). Literarisch würden primär innerjüdische Spannungen zwischen Christusorientierten und traditionell Eingestellten dargestellt. Lukas weiche so die Juden-Heiden-Trennlinie auf.
Auf dem Feld der altkirchlichen Literatur blickt Julia A. Snyder auf die A. Petri. Als Gegenspieler des Petrus träten hier Römer (wie etwa Nero) sowie als Hauptgegner Simon auf, der die Verkündigung des Paulus und des Petrus zu unterminieren versuche. Er stehe möglicherweise für reale nicht-christusgläubige jüdische Kritiker.
Mit einem ihrer Vertreter scheint sich in Gestalt des Tryphon auch Justin auseinanderzusetzen, wie Katharina Greschat zeigt. Doch bei den Gesprächen mit Tryphon wie auch mit Crescenz handele es sich um literarische Inszenierungen, die das Christentum (des Justin) als sogar dem Platonismus überlegene, einzig wahre Philosophie erweisen sollen. Dasselbe Begründungsmuster liege auch Justins Argumentation gegen innerchristliche Antagonisten zugrunde, etwa gegen die Valentinianer.
Diesen Widerparts Justins widmet sich der Beitrag von Geoffrey S. Smith. Es handele sich um ein eher loses Netzwerk mit unterschiedlichen Verbindungslinien zu Valentinus. Justins Polemik erlaube die Rekonstruktion ihrer Lehre allenfalls ansatzweise.
Mit Petrus als Gegenspieler der Maria von Magdala des EvMar beschäftigt sich schließlich Tobias Nicklas. Analysiert wird zu­nächst die intratextuelle Ebene. Intertextuell liege die Bezugnahme auf Joh 20 auf der Hand. In der Echtwelt sei es wohl nicht um ein anti-petrinisches Christentum gegangen, sondern um den Aufweis, dass Frauen Offenbarungen empfangen und weitergeben dürfen (vgl. Past).
Die Einzelstudien dieses Sammelbandes weisen manche Zu­sammenklänge auf, sei es bei den Beobachtungen zu literarischen Strategien, sei es bei der Identifizierung historischer ›Gegnerfronten‹. Und: Dass sich in vielen Fällen nicht allzu viel Sicheres über die jeweiligen Gegenspieler – wenn es sie überhaupt gab – und ihre Profile sagen lässt, erscheint als nur relatives Manko. Denn wie die Beiträge des Bandes auf anregende Weise zeigen, beleuchtet die Analyse der Gegnerauseinandersetzung zentrale Charakteristika der untersuchten Schriften.