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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1053–1055

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Bowden, Andrew

Titel/Untertitel:

Desire in Paul’s Undisputed Epistles. Semantic Observations on the Use of epithymeō, ho epithymētēs, and epithymía in Roman Imperial Texts.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XVII, 602 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 539. Kart. EUR 109,00. ISBN 9783161596308.

Rezensent:

Stefan Krauter

Die an der LMU München, betreut von David du Toit, entstandene Dissertation von Andrew Bowden nimmt sich eine wichtige und erstaunlicherweise bislang nicht gründlich behandelte Fragestellung vor: die Verwendung von ἐπιθυμία κτλ. in den unbestritten echten Paulusbriefen. In einem ersten Kapitel (3–44) stellt B. bisherige, oft schlecht begründete und spekulative Deutungen vor, insbesondere solche, die ἐπιθυμία grundsätzlich als sexuelle Lust deuten und daher bei Paulus durchgängig für negativ konnotiert halten. Das zweite Kapitel (45–90) stellt dem ein Modell moder-ner Semantik gegenüber, das die Denotation von Lexemen durch Untersuchung ihrer paradigmatischen und syntagmatischen Be­züge ermittelt und in Definitionen erfasst (im Unterschied zur Anhäufung von Übersetzungsäquivalenten in herkömmlichen Lexika). B. gelangt so zur Arbeitshypothese, die Denotation von ἐπιθυμέω sei »wanting to obtain something or someone pleasurable«. Als englische Übersetzung wird »desire« vorgeschlagen (87). Wichtig ist vor allem die Erkenntnis, dass dieser Wunsch nicht an sich negativ konnotiert ist, sondern sich eine solche Wertung jeweils erst aus dem Objekt des Wunsches ergibt. Insbesondere sind Syntagmen wie »jemanden sehen/hören/treffen wollen« neutral oder positiv. Eine wichtige Erkenntnis ist auch, dass ἐπιθυμία häufig im Kontext der Metapher »Sklave von jemandem/etwas sein« verwendet wird. In den folgenden Kapiteln wird das anhand von Beispieltexten ausbuchstabiert.
Kapitel 9 (347–432) wendet sich dann der Frage nach möglichen Objekten des Begehrens in den unbestrittenen Paulusbriefen zu. Das Ergebnis ist einleuchtend: Wie im allgemeinen Sprachgebrauch, so auch bei Paulus kann es sich um positiv oder um negativ bewertete Objekte handeln. Vor allem wenn Paulus davon spricht, er begehre die Gemeinde wiederzusehen, ist eine in sich negative Bewertung von ἐπιθυμία κτλ. nicht erkennbar. Ebenso wenig hat das Lexem durchgängig mit sexueller Begierde zu tun, vielmehr ist das nur in bestimmten Kontexten der Fall. B. weist zu Recht darauf hin, dass in 1Kor 5–7, wo es um Sexualität geht, ἐπιθυμία κτλ. gerade nicht verwendet wird. Kapitel 10 (433–512) untersucht die Verwendung von ἐπιθυμία κτλ. in Verbindung mit Sklavenmetaphorik im Galater- und Römerbrief. Kapitel 11 (515–526) bietet eine Zusammenfassung.
So positiv zu bewerten ist, dass B. mit seiner sorgfältigen semantischen Untersuchung sozusagen die Luft aus hochspekulativen Theorien über die beinahe Allgegenwart (unterdrückter) sexueller Lust in den Paulusbriefen herauslässt, so enttäuschend ist das Buch in mancher anderen Hinsicht. Erstens ist es schlecht lektoriert. Man findet zahlreiche Druckfehler, vor allem aber ist sein Stil extrem repetitiv. Die Auflistung der paradigmatischen und syntagmatischen Bezüge von ἐπιθυμία κτλ. findet sich an sehr vielen Stellen wortgleich, ebenso die Denotation. Abschnitte werden zu Beginn und zum Ende zusammengefasst und zum Beginn des folgenden Abschnitts noch einmal, ebenfalls oft wortgleich. Kürzungen hätten das Lesen doch sehr erleichtert.
Ein zweiter Punkt ist, dass der linguistischen Sorgfalt nicht im­mer die historische entspricht. Apg 15,20.29 als exakte Wiedergabe der Entscheidung des Jakobus beim sogenannten Apostelkonzil zu nehmen (518 f. u. ö.), ist mehr als gewagt. Die Behauptung, Michael Wolter schließe sich in seinem Römerbrief-Kommentar der herkömmlichen Bewertung der Bedeutung des Claudiusedikts für die Geschichte der stadtrömischen Gemeinden von Christusanhängern an (473), ist schlicht falsch. Wolter relativiert vielmehr die Auswirkungen des Claudiusedikts stark und stimmt mit Stanley Stowers, auf den B. sich beruft, völlig darin überein, dass die intendierten Adressaten des Römerbriefes ausschließlich Nichtjuden sind. Nur zieht er – anders als Stowers, dessen Schüler und mit ihnen B. – nicht den problematischen Schluss, wenn Paulus nur zu Nichtjuden rede, müsse er auch an allen Stellen des Briefes nur über Nichtjuden reden, und darum engt er (m. E. zu Recht) nicht wie sie die Referenz von Lexemen wie »Mensch«, »alle« oder auch des »Ich« in Röm 7 auf nichtjüdische Menschen ein.
Drittens zeigt das Buch nicht nur die Stärke semantischer Un­tersuchungen, sondern auch deren Grenzen. So richtig und wichtig das Ergebnis ist, bleiben doch viele zentrale Fragen offen: Wenn negative oder positive Bewertung nicht an ἐπιθυμία, sondern an deren Objekten liegt, dann hätte man weiterfragen müssen, wie Paulus diese Objekte bewertet und warum, ob allein das Objekt des Begehrens oder etwa auch die Intensität die Wertung beeinflusst, wo Paulus Begehren in der menschlichen Psyche verortet und in welche Beziehung er es zu anderen psychischen Phänomenen wie Erkenntnis oder Wille setzt. Wenn ἐπιθυμία in Verbindung mit der Sklavenmetapher steht, dann hätte man weiterfragen müssen, wie Paulus und andere antike Autoren sich das genauerhin vorstellen und warum überhaupt das Erreichen von (manchen) Objekten des Begehrens für sie »Sklaverei« ist (moderne Menschen würden das wohl intuitiv für Freiheit halten!). All das kommt aufgrund der gewählten Methodik nicht einmal in den Blick, weshalb das Buch den Leser trotz seiner Verdienste doch auch etwas frustriert zu­rücklässt.