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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1044–1046

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Frevel, Christian

Titel/Untertitel:

Die Klagelieder.

Verlag:

Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2017. 386 S. m. Abb. = Neuer Stuttgarter Kommentar Altes Testament, 20/1. Kart. EUR 27,90. ISBN 9783460072015.

Rezensent:

Antje Labahn

Der ausgewiesene Fachkenner Christian Frevel hat mit dem Kommentar zu den Klageliedern eine informative, ansprechende, zeitgemäße und – gemäß dem Duktus der Kommentarreihe – auch für Laien gut lesbare Erklärung der kleinen alttestamentlichen Schrift vorgelegt. Das Werk gliedert sich in drei Teile: eine ausführliche Einleitung (11–81), den eigentlichen Kommentarteil (83–360) sowie einen Anhang (361–386) mit einem Schwerpunkt auf der Wirkungsgeschichte (361–375), gefolgt von einem kurzen Literaturverzeichnis deutsch-sprachiger Titel und einem Glossar.
F. versteht die Klagelieder als »poetische Verdichtungen« und »literarisches Kunstwerk« (72) aus der Zeit des Wiederaufbaus nach dem Exil. In einer allgemein gehaltenen Vielstimmigkeit, die weitgehend auf die Angabe konkreter zeitgeschichtlicher Personen, Daten und Ereignisse verzichtet, wird das Leid wie in einem Drama beklagt. »Die Sprach- und Fassungslosigkeit angesichts der Katastrophe ist das Thema der Lieder. Gott scheint […] in eine unhörbare Ferne gerückt.« (25) Die Klagelieder als Krisenliteratur formulieren verschiedene Perspektiven auf das Leiden, wie es durch die Katastrophe ausgelöst wurde. Dabei suchen sie durch Reflexion und Wiederholung der Klage einen Weg zur Überwindung des Leidens zu finden, für den die unterschiedlichen Stimmen in den Klageliedern verschiedene Modelle bereitstellen. »Die Klagelieder wollen aus der katastrophalen Retrospektive Kraft für die Bewältigung der Gegenwart und eine Perspektive des Neuanfangs gewinnen.« (72)
Innerhalb eines jeweiligen Klageliedes, das als akrostische Komposition formal angelegt ist, ist nicht mit Erweiterungen zu rechnen. Wohl aber weist nach F. das unterschiedliche Profil der fünf Klagelieder auf ihre unterschiedliche Entstehung hin. Einen Überblick bietet das ansprechende Schema auf S. 39. Das älteste Lied stellt Thr 2 mit seinen scharfen Anklagen Gottes dar (z. B. Thr 2,4–7). In seinem Zorn lässt Gott »Zion in tiefster Verlassenheit […] einsam« zurück (39). Frühere zionstheologische Aussagen, mit denen Bestand und Schutz für Stadt, Tempel und Bewohnende zugesichert war, werden dabei negiert. Deswegen datiert F. Thr 2 exilisch in Reaktion auf die Katastrophe von 587 v. Chr. – Das nächste Klagelied sieht F. in dem spätexilischen Thr 4 vorliegen. Beklagt wird hier vor allem der Verlust an Institutionen in der zusammengebrochenen Stadt, wie er von den »bürgerlichen Eliten« (40) wahrgenommen wird. Die Anklagen Gottes sind weniger direkt, da auch die Verantwortungsträger ihrer Verantwortungslosigkeit im politischen und ökonomischen Handeln beschuldigt werden (Thr 4,6.13.22). – Thr 1 als frühnachexilische Dichtung reagiert auf Thr 2 und interpretiert den Untergang als Strafe für die Schuld Jerusalems. Thr 1 stammt aus einer Zeit, »in der tastend Neuanfänge versucht werden und in Auseinandersetzung mit der Zionstheologie eine neue Identifikation mit der Stadt als erwählter Ort der Gottesgegenwart gesucht werden muss« (43). – Einen ganz eigenen Charakter hat das spätnachexilische Kapitel Thr 3, das als Rollendichtung am Beispiel eines paradigmatischen Beters die Tendenzen aus Thr 1 verstärkt und erneut Thr 2 korrigiert, wobei geschichtstheologisch an Gottes Erbarmen und seine übergeordnete Gerechtigkeit appelliert wird (Thr 3,22 f.32.37–39). F. begreift dieses in der Forschung vielfach diskutierte Lied als »eine abgeklärte Dichtung, die in Reflexion und Tradition Lösungsmodelle für die Bewältigung der Theodizee-Frage sucht, ohne die Notwendigkeit der Klage zu leugnen« (44). – Thr 5 ist nach F. bereits frühnachexilisch entstanden, allerdings ohne Bezug auf die übrigen Klagelieder, und erst im 2. Jh. v. Chr. in die Sammlung aufgenommen worden. Thr 5 thematisiert als Volksklagelied mit standardisierten Anklagen das Leiden des Landes, nicht so sehr Jerusalems. Mit Abstand von mindestens einer Generation wird auf den Zusammenbruch zurückgeschaut und auf Gottes Geschichtshandeln vertraut. F. sieht Thr 5 »in den Tradentenkreisen der Asafpsalmen im 6./5. Jh.« entstanden (45; vgl. im Kommentarteil, 320.358).
Die in den Klageliedern auffällige Personifizierung Zions bzw. Jerusalems, wie sie etwa in der mehrfach verwendeten Anrede »Tochter Zion« präsent ist, deutet F. als Ausdruck für die »besondere Schutzbedürftigkeit der bedrohten Stadt« (28). Diese Interpretation begründet er mit der »Dichte an Körperbegriffen und Emotionen« (27), wie sie an unterschiedlichen Frauenrollen in den Klageliedern haften. Auch wenn Zion »nicht als Stadtgöttin stilisiert ist« (33), so zeigen die Klagelieder dennoch den Einfluss von altorientalischen Stadtklagen, bleiben dabei aber nicht stehen.
Ein kurzer, aber prägnanter Abriss zum zeitgeschichtlichen Hintergrund der Klagelieder (50–72) eröffnet auch den Lesern, die mit der Geschichte Israels nicht so vertraut sind, einen Verstehenshorizont für den historischen Kontext der Klagelieder, den F. von 605 v. Chr. bis ins 4. Jh. aufspannt. Auch wenn es kaum historisch verwertbare Anknüpfungspunkte in den Klageliedern gibt, so ist der Überblick dennoch erhellend, um den Ton und das Ausmaß des in ihnen artikulierten Leidens zu ermessen. Auf konkrete Anspielungen geht F. dann im Kommentarteil zur jeweiligen Stelle, wo es geboten ist, im Einzelnen ein.
Dies schärft das Profil des Kommentars, insofern nach F. Diskontinuität und Kontinuität als Anknüpfungspunkte wiederkehrend eine Rolle spielen. So verweist F., wie es auch schon den Kommentar von Berges auszeichnet, auf reiche Bezüge zu anderen Textstellen im Alten Testament. Zum Profil des Kommentars gehört aber mehr noch, dass F. Bilder und Motive auf ihren realen Gehalt hin zu erläutern sucht, was er anhand von klaren und allgemein verständlichen Erläuterungen zum alttestamentlichen oder altorientalischen Hintergrund erreicht. Die insgesamt 28 Abbildungen im Kommentarteil helfen zudem, dies anschaulich zu erhellen. Die bisweilen verstörenden und gemessen am modernen Verstehenshorizont befremdlichen Bilder der Klagelieder gewinnen dadurch an Aussagekraft – eine Stärke dieses Kommentars, die ihn von anderen Kommentaren, die in den letzten zwei Dekaden zu den Klageliedern erschienen sind, abhebt.
Leid und Gewalt macht F. als die zentralen Themen der Klagelieder aus, die ambivalent in der paradoxen Wirklichkeit erlebt und mit der Vielstimmigkeit der Klagelieder theologisch gedeutet werden. Dabei spielen Klage und Anklage Gottes in Auseinandersetzung mit der vermeintlichen Heilswirklichkeit und als Gegenwicht gegen die Zionstheologie eine Rolle, wobei eine Amivalenz im Gottesbild, das sowohl mit Gottes Liebe als auch mit seinem Zorn rechnet, unauflösbar erhalten bleibt. »Als Literatur versuchen sie eine neue Realität zu konstruieren, um das Unsagbare aussprechen zu können und Ansätze für ein Verstehen zu erarbeiten.« (80) Ihre Intention ist die Bewältigung des durch die Katastrophe entstandenen Traumas. Die Klagelieder stellen dafür ein »Modell der heilenden Erinnerung in den Mittelpunkt« (79), das das »Revitalisieren der Kräfte« (78) fördern soll.
Inwiefern diese Aspekte in den einzelnen Bildern und Aussagen zum Tragen kommen, sei den Lesenden des Kommentars zur gewinnbringenden Lektüre empfohlen.