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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1040–1042

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Fabry, Heinz-Josef

Titel/Untertitel:

Habakuk/Obadja.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2018. 432 S. = Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament. Geb. EUR 85,00. ISBN 9783451261695.

Rezensent:

Jörg Jeremias

In diesem Band sind Kommentare des emeritierten Bonner Alttestamentlers Heinz-Josef Fabry zu zwei sehr unterschiedlichen Prophetenbücher des Alten Testaments miteinander vereinigt, die beide ungewöhnlich sind: das eine, weil es vor allem klagende Gebete und (erfolgte bzw. erhoffte) Antworten und Handlungen Gottes enthält, das andere, weil es das kürzeste überkommene Prophetenbuch ist, das nur ein Orakel über Edom (und die Völker) enthält.
Zu den sogleich ins Auge fallenden Eigenarten des Kommentars von F. gehört, dass die beiden Einleitungen zu den jeweiligen Auslegungen exzeptionell ausführlich sind: Beim Buch Habakuk um­fassen sie die knappe Hälfte des eigentlichen Kommentars, im Fall Obadjas sogar nahezu die doppelte Länge der Exegese. Diese unübliche Gewichtung hat verschiedene Ursachen: Einerseits wird manches sehr breit beschrieben, etwa die Überlieferung des hebräischen Textes und der wichtigsten griechischen Textzeugen, die F. besonders am Herzen liegt – F. rechnet um die Zeitenwende mit zwei Fassungen des Buches Habakuk, eine mit, eine ohne Kapitel 3 (88 f.) –, oder die Geschichte der Babylonier, die von den Anfängen im 3. Jt. bis zur Eroberung Babylons durch Kyros nachgezeichnet wird, oder die Wirkungsgeschichte in Gestalt der Legende von Bel und dem Drachen und der Vitae Prophetarum, die einmal kurz (68), zum anderen ausführlich (156 ff.) behandelt wird; im Fall des Büchleins Obadja wird die Edom-Thematik durch das gesamte Alte Testament verfolgt. Andererseits werden zahlreiche Aspekte der Auslegung, die man eher im Kontext der Exegese erwartet hätte, schon der Einleitung zugeteilt, um die Exegese zu entlasten: etwa die unterschiedliche Deutung der zentralen Verse Hab 2,3 und 2,4 in LXX, 1QpHab, bei Paulus, im Hebräerbrief und im frühen Judentum, vor allem aber die theologische Wertung der Texte (135–152 bzw. 385–389).
Bei der Erklärung der Genese des Buches geht F. mit der Mehrzahl deutschsprachiger Kommentare neuerer Zeit – im angelsächsischen Sprachraum wird das Buch Habakuk überwiegend als Einheit verstanden – davon aus, dass Habakuks Klagen (1,2–4.12–14), Gottes Antwort auf sie (2,1–4) und die folgenden Weheworte (2,5–20*) von Haus aus innerjudäische Gewalttaten und Rechtsbrüche betroffen hätten, während erst Spätere in frühexilischer Zeit (oder doch Habakuk selber?, 125) die Nöte der prophetischen Klagen auf die brutale Unterwerfung Judas und anderer Völker durch die Babylonier zurückgeführt hätten: durch die Zufügung des Fischergleichnisses 1,15–17 und durch die redaktionelle Überarbeitung der Weheworte. Eine eigenwillige Lösung bietet F. für die umstrittene Frage, ob Hab 3, mit eigener Überschrift und eigenem Kolophon überliefert, von Haus aus zum Buch Habakuk gehört habe oder einen eigenständigen Psalm gebildet habe. Er plädiert mit guten Gründen für eine Priorität des Buches Habakuk, schränkt dieses Plädoyer aber wiederum mit der Annahme ein, dass Habakuk selber die Kapitel 1–2 durch Kapitel 3 erweitert habe, allerdings noch ohne die angeblich jüngeren Verse 3–7. Auffällig ist, dass F. die großen Entwürfe der klassischen historisch-kritischen Exegese so gut wie nie zu Rate zieht.
Bei der Exegese selber wird es niemanden, der mit den Arbeiten F.s vertraut ist, verwundern, dass ihr Glanzstück in den textgeschichtlichen und textkritischen Erörterungen liegt. Aufgrund seiner intimen Kenntnis der Texte von Qumran versucht F. jegliche Konjektur zu vermeiden. Er rechnet nicht mit Schreibfehlern, die sich vor dem 1. Jh. v. Chr. ereignet haben und insofern nicht mehr durch andere Textzeugen belegbar sind, und verteidigt den MT bzw. die durch LXX oder 8ḤevXIIgr belegten Textformen selbst dort, wo er ihnen kaum einen Sinn abgewinnen kann (z. B. 3,9aβ. 14a). Angesichts einer Auslegungsgeschichte mit der Bereitschaft zu freien Konjekturen, besonders im textlich schwierigen Kapitel 3, ist diese Haltung verständlich. Hilfreich empfand ich, dass F. sich in seiner Textkritik nicht damit begnügt, den vermutlich ältesten erreichbaren Text zu rekonstruieren, sondern dass er auch das Verständnis der verschiedenen anderen alten Textformen zu erhellen bemüht ist, die eine andere Gestalt des Textes bezeugen.
In der sachlichen Auslegung des Textes spürt man auf Schritt und Tritt die jahrzehntelange Vertrautheit F.s mit Texten des Alten Testaments. Aber es gibt auch Stellen, an denen seine Urteile überraschen und Fragen aufwerfen. So deutet er das umstrittene Orakel 1,5–11 als Gerichtsankündigung gegen die Schuldigen in Juda, obwohl der Text für ein solches Verständnis keine sicheren Hinweise gibt, und versteht V. 11 (mit der fraglichen Lesart des MT) so, dass sich die Babylonier als Werkzeug Gottes durch Grausamkeit »verschuldet« hätten, so dass der Prophet gegen sie aufbegehre. Das Fischergleichnis 1,15–17, das F. eingangs redaktionsgeschichtlich zeitlich weit von der prophetischen Klage 1,12–14 abgerückt hatte (125), möchte er zur Überraschung der Leser in der Exegese literarkritisch nicht von 1,12–14 trennen (218 f.223). Den zentralen Vers des Buches 2,4 versteht er als »allgemeingültige Sentenz, die aus der Weisheitsliteratur stammen könnte« (245), bezieht aber dennoch deren ersten Teil, der für ihn von einem »sprichwörtlich Sorglose(n) und Unachtsame(n)« redet, überraschend konkret auf den Propheten (244). Bei den Weheworten möchte er den Übergang von der Grundschicht zur redaktionellen Überarbeitung – im Unterschied zu allen Auslegern vor ihm – formal an dem Übergang der einzelnen Texte von der Darstellung in 3. P. zur Anrede festmachen, was eine Fülle von Problemen mit sich bringt. In Hab 3 scheidet er V. 3–7 als spätere Ergänzung aus, ohne die zahlreichen literarischen Verbindungen zu V. 8–15 zu beachten, die H. Pfeiffer, Jahwes Kommen von Süden (FRLANT 211) 2005, 159 f., zusammengestellt hat. Die Theophanie in Hab 3 versteht er – in Analogie zu einer römischen pompa (303)! – als »eine (sic) gewaltiges Schauspiel, eine göttliche Machtdemonstration einers (sic) kosmischen Prozession, die un­versehens zu einem Feldzug […] mutiert« (310).
Beim Kommentar zu Obadja verdient vor allem der materialreiche Exkurs zu »Edom im AT« (341–367) Erwähnung. In der umstrittenen Frage des literarischen Verhältnisses zwischen Ob und Jer 49 plädiert F. mit gewichtigen Gründen dafür, dass Ob Jer 49 schon vor Augen hatte und neu deutet. So ist Ob der älteste »Schriftgelehrte« unter den Propheten. Sehr hilfreich erweist sich für diese Frage die Synopse ObMT – ObLXX – Jer 49 (402–404). Trotzdem datiert F. Ob in die Nähe der Zerstörung Jerusalems (383), m. E. ein Widerspruch. In der Frage des Aufbaus des Buches folgt F. der Mehrheit der Exegeten (400): Ob 1b–14.15b geht es um Edoms Vergehen gegen seinen »Bruder« Juda und seine Bestrafung durch die Völker, dagegen in Ob 15a.16–21 (in V. 19 f. [außer 19aα1] liegen spätere Ergänzungen vor) um Gottes Gericht an der gesamten Völkerwelt, aus dem nur Gottes Volk errettet wird. Aber im Unterschied zur Mehrheit der Exegeten leitet F. beide Teile vom gleichen Verfasser her, der für ihn ein »kreativ arbeitender Sammler« war (382).
Es sind neben der sorgfältigen Rekonstruktion des Textes vor allem die vielfach höchst originellen Einzelbeobachtungen, die die Bedeutung dieses wichtigen Kommentars ausmachen, nicht so sehr die Erhellung der Komposition und der großen gedanklichen Zusammenhänge.