Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1037–1040

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Earl, Douglas S.

Titel/Untertitel:

Reading Old Testament Narrative as Christian Scripture.

Verlag:

University Park: Eisenbrauns (Penn State University Press) 2017. XIV, 369 S. = Journal of Theological Interpretation Supplements, 17. Kart. US$ 39,95. ISBN 9781575067582.

Rezensent:

Achim Behrens

In der deutschsprachigen alttestamentlichen Wissenschaft ist die Frage nach einer christlichen Hermeneutik des Alten Testaments vor allem durch die Auseinandersetzung mit der These Notger Slenczkas, das Alte Testament könne in der christlichen Kirche nicht als kanonisch gelten, wieder virulent geworden (vgl. Notger Slenczka, Vom Alten Testament und vom Neuen. Beiträge zur Neuvermessung ihres Verhältnisses, Leipzig 2017, 49–84). Douglas S. Earl legt nun ein Werk vor, das diese Frage im anglo-amerikanischen Kontext dezidiert stellt und auf eigene Weise zu beantworten sucht. Lassen sich alttestamentliche Narrative als Teil der christ-lichen heiligen Schrift lesen? E. profiliert zunächst die Frage in einem eher grundsätzlich angelegten Kapitel und nähert sich dann mit dieser Fragestellung unterschiedlichen alttestamentlichen Texten oder Textkomplexen. Alle behandelten Abschnitte stammen aus erzählenden Werken; Gesetze, Prophetie, Psalmen oder die Weisheit kommen nicht in den Blick.
In seinem ersten Kapitel, das als »Prolog« überschrieben ist (1–32), entfaltet E. seine Frage und seine hermeneutischen Grundlagen. Dies geschieht zunächst in der Erklärung der einzelnen Begriffe des Satzes »interpreting and appropriating Old Testament narrative as Christian Scripture well in contemporary context« (3). Für E. heißt das, dass im Kontext der christlichen Kirche die Texte eines »alten«, aber vertrauenswürdigen Korpus (»Testament«) rekontextualisiert werden müssen. Dabei ist die Definition von »christlich« stets der Kontext »der« christlichen Kirche. Im Folgenden können dafür sowohl Augustin als auch Origenes, Thomas von Aquin oder Calvin stehen. Nähere konfessionelle Einordnungen werden nicht vorgenommen. E. konzentriert sich auf narrative Texte, weil es sich dabei bereits um das Genre »Story« handelt, das auf relecture angelegt ist (vgl. 3). Weil diese Texte nun aber immer noch als »Scripture« also als »Heilige Schrift« gelesen werden sollen, bleiben die alttestamentlichen Geschichten »somehow authoritative« (ebd.). Damit wird zugleich deutlich, dass es E. um eine Lesart geht, die auf religiöse Existenzerschließung zielt. Zugleich soll dies aber »gut« (well) und zeitgemäß (contemporary) geschehen, was in der Untersuchung der einzelnen biblischen Geschichten im Fortgang des Buches u. a. dadurch gesichert werden soll, dass die Ergebnisse historisch-kritischer Exegese bewusst in den Blick und ernst ge-nommen werden.
Da es sich bei der angestrebten Lesart alttestamentlicher Narrative als Teil der christlichen (heiligen) Schrift um ein Verfahren der Aneignung und Rekontextualisierung handelt, müssen die hermeneutischen Rahmenbedingungen geklärt werden. Hier bezieht sich E. nicht auf das Neue Testament, die Christologie oder spezifische christliche Lehr- oder Bekenntnisaussagen. Vielmehr stellt er seine Überlegungen in den Rahmen philosophischer und kulturtheoretischer hermeneutischer Konzepte.
Dazu gehören Wittgensteins »Sprachspiel« ebenso wie der Mythosbegriff von Claude Levi-Strauss, vor allem aber die hermeneutischen Erwägungen Paul Ricœurs. Sinn (meaning) und Bedeutung (significance) liegen eben nicht einfach in den Texten oder der vermeintlichen Autorintention, sondern ergeben sich immer auch in der Rezeption und dem Gebrauch durch eine Rezeptionsgemeinschaft. In diesem Zusammenhang legt E. großen Wert auf Ricœurs Rede von der »Welt des Textes«, die sich vor der Leserschaft entfaltet. Die Welt des Textes erschließt sich demnach nicht durch vermeintliche »Fakten«, die »hinter« den Texten liegen, sondern in der diskursiven Rezeption. Ebenfalls mit Ricœur sind in diesem Prozess dann die »Hermeneutik der Tradition« und »Ideologiekritik« stets in ein Gespräch zu bringen. E. selbst verfolgt dieses Verfahren, indem er bei der Betrachtung der konkreten Texte grundsätzlich von einem »Vertrauen« auf traditionelle Interpretationen ausgeht und diese dann »ideologiekritisch« hinsichtlich ihrer Voraussetzungen, Perspektiven und Weltbilder hinterfragt (vgl. 22 f.).
Schließlich erwartet E. unter Bezugnahmen auf Ricœurs »Hermeneutik des Zeugnisses« (vgl. Paul Ricœur, Die Hermeneutik des Zeugnisses, in: ders., An den Grenzen der Hermeneutik. Philosophische Reflexionen über die Religion, hg., übers. u. m. e. Nachwort versehen v. V. Hoffmann, München 2008, 7–40; für die alttestamentliche Hermeneutik fruchtbar gemacht bei Friedhelm Hartenstein, Weshalb braucht die christliche Theologie eine Theologie des Alten Testaments?, in: ders., Die bleibende Bedeutung des Alten Testaments. Studien zur Relevanz des ersten Kanonteils für Theologie und Kirche [BThSt 165], Göttingen 2016, 15–53), bei seiner Interpretation alttestamentlicher Texte in christlicher Perspektive dem Phänomen der Offenbarung und der Inspiration auf die Spur zu kommen. »In the studies that follow in this book, I hope to show how we can ›learn about our learning‹ with reference to the nature of Scripture and the process of its interpretation and appropriation, and what we might mean by describing Scripture as inspired and its appropriation as ›revelatory‹.« (28)
Für die folgenden Studien einzelner alttestamentlicher Texte entwickelt E. keine einheitliche Methode oder ein interpretatorisches Schema, das auf alle Einzelbeispiele angewandt würde. Vielmehr begibt er sich auf den Weg einer Reihe von »case by case studies« und erwartet durchaus unterschiedliche Möglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten, wenn die jeweiligen Texte aus christlicher Perspektive interpretiert und angeeignet werden sollen.
So wendet er sich zunächst Gen 34 zu, der Erzählung vom Konflikt der Sippe Jakobs mit den Bewohnern der Stadt Sichem. Die Gewalttat der Jakobssöhne unter Führung von Levi und Simeon beurteilt E. aus christlicher Sicht als moralisch verwerflich. Im Text sei vermittelt über die Themen Beschneidung und Endogamie zudem die Frage nach der Identität Israels und dem Verlust derselben durch eine Vermischung mit »Kanaan« präsent. Insofern bleibe das Alte Testament hier wirklich »alt« und sperre sich dagegen, im christlichen Kontext Bedeutung ( significance) zu gewinnen. Allerdings wird dieses Urteil ausdrücklich als vorläufig bezeichnet. Im nächsten Kapitel wird mit Jos 1–12 ein größerer Textkomplex in den Blick genommen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf dem Gebrauch des Begriffs ḥrm (»bannen«), der paradigmatisch für die Abgrenzung der Glaubensgemeinschaft gegenüber den »outsidern« steht. Die Treue, ḥsd, dagegen, die Rahab als »Außenseiterin« den Israeliten gewährte, wurde in der allegorischen Deutung der Kirchenväter als Konversion der »Heidin« zum Glauben (und letztlich zum Christentum) gedeutet. E. interpretiert den Text nun in einem neuen Licht, indem er die Hinweise auf einen göttlich legitimierten Genozid durch die Israeliten historisch entschärft (es handelt sich im weitesten Sinne um ein »mythisches«, weil Identität bildendes Narrativ) und die Rahabgeschichte als eine Konversion der »Insider« im Hinblick auf ihr Verhältnis zu den »Outsidern« liest. Am Ende steht dabei eine existenziale Interpretation des Textes.
In der folgenden Auseinandersetzung mit der Josephsgeschichte Gen 37–50 konzentriert sich E. auf drei von ihm als solche bezeichnete »theologically problematic Texts«. Dabei handelt es sich um einzelne Verse in Gen 41,45; 42,15; 44,5.15, in denen es um Josephs Heirat mit der Priestertochter Aseneth oder ägyptische divinatorische Praktiken geht. Diese Dinge betrachtet E. mit Teilen der christlichen Auslegungstradition – aber im Unterschied zum biblischen Text selbst – als theologisch problematisch, belässt es aber am Ende bei einer Darstellung unterschiedlicher Interpretationskontexte angefangen bei der Bibel selbst, über unterschiedliche Phasen der christlichen Auslegung bis zur modernen historisch-kritischen Exegese.
Kapitel 5 »The David Story. Hermeneutical and Theological Significance or ›Minimalism‹« (148 ff.) bringt E.s interpretatorischen Ansatz auf den Punkt. In der Analyse der David-Erzählungen der Samuelbücher durch John Van Seters sieht E. ein Paradebeispiel für den sogenannten historischen Minimalismus, nach dem der biblische Text selbst nicht als historisch zuverlässige Wiedergabe von Geschehen, ja vielleicht nicht einmal als historische Quelle gelten kann. Dies macht E. hermeneutisch fruchtbar: »It is not the puta-tive history behind the text or the intention of the authors, but the text itself and the world that it unfolds that is the subject of interpretation in this case. But the world of the text is a world that is open to interpretation in different ways. « (172) Dies kann als ein Schlüsselsatz für E.s hermeneutischen Ansatz insgesamt gelten. Der Text selbst ist Gegenstand der Exegese, aber auch der theologischen Applikation. Das Kriterium gegen völlige Willkür der Auslegung ist wiederum der christlich-existenziale »Nutzen« eines Textes: »In a sense, what one really wants to know is whether and if so how one can trust a text coupled with a particular interpretation, as being in some sense ›revelatory‹ and that in some sense one is ›authorized‹ to pass the text and interpretation on to others. What one wants to know is that a text coupled with an interpretation points people forward in the Christian journey and leeds into a deeper quality of life and experience in and before God. « (173)
Von dieser Ausgangslage, dass der »Text und seine Welt« der Gegenstand der Auslegung ist (nicht aber die zu erschließende Literar-, Ereignis- oder Religionsgeschichte), wendet sich E. nun noch verschiedenen Texten zu. Zunächst werden noch einmal Dinah aus Gen 34 und Rahab aus dem Buch Josua unter anderen, rezeptionsästhetischen Auslegungsgesichtspunkten in den Blick genommen. Auch wenn er andere Auslegungen im Sinne des Textes für wahrscheinlicher hält, kann E. doch auch einer feministischen Exegese der Figur der Rahab etwas abgewinnen. Ebenso wie sexualethische Fragen, die im folgenden Kapitel anhand des Buches Ruth behandelt werden, zählt E. die rezeptionsäthetischen Reinterpretationen von Dinah und Rahab mit Thomas von Aquin zur scientia practica. Diese wendet sich der christlichen Lebensführung zu, während nach Thomas die scientia speculativa nach dem Wesen Gottes fragt. Hierfür führt E. schließlich eine Exegese von Gen 1,26 als Beispiel an. Dabei versucht er, die trinitarische Deutung der pluralischen Pronomen in diesem Vers erneut als möglich erscheinen zu lassen. Als »kontextuelle Lesart« könne sie durchaus gelten, dürfe für sich aber nicht den Anspruch erheben, das wahre Wesen Gottes aus diesem Vers zu erheben.
Ein letztes Kapitel, das alle bisherigen Untersuchungen in einem heilsgeschichtlichen Rahmen zu verstehen versucht, schließt den Hauptteil des Buches ab. Ein als »Eipilog« überschriebenes kurzes Schlusskapitel bündelt die Ergebnisse: »Moreover, I hope to have shown that a variety of approaches to interpretation – historical criticism, ethical criticism, minimalism, spiritual reading, literary poetics, structuralism, etc. all offer valuable tools that in various places give insight and understanding into the biblical narratives that serve well the task of reading Old Testament narrative as Christian Scripture« (324). Ein Literaturverzeichnis sowie Register von Personen, Sachen, hebräischen und griechischen Begriffen und Bibelstellen runden das Werk ab.
E. widmet sich mit seinem Buch der hermeneutischen Grundfrage, inwiefern das Alte Testament als christlicher Text gelesen werden kann. Mit seinem Vorgehen baut er eine Brücke zwi-schen einer erkennbar konservativ frömmigkeitsorientierten Lesart biblischer Texte und unterschiedlichen Spielarten methodischer Exegese und Hermeneutik. Zu Recht bringt er, orientiert an Paul Ricœur, in Erinnerung, dass der biblische Text als Text der eigentliche Gegenstand der Exegese wie der theologischen Applikation ist. Dazu fügen sich unterschiedliche Spielarten einer ganzheitlichen Lesart der Bibel von den Auslegungen der Kirchenväter bis zu neostrukturalistischen oder neueren literaturwissenschaftlichen Zugängen. Dabei wird die literar- oder religionsgeschichtliche Er­hellung der Texte aber im Grunde wieder zu einem Schattendasein verurteilt. Die Frage danach, ob der Text auch als Text eine Aussage hat, tritt zugunsten unterschiedlicher gleichberechtigter Rezeptionsvorgänge in den Hintergrund. Die Behandlung der einzelnen alttestamentlichen Texte geschieht meist als Referat verschiede-ner Forscherpositionen und weniger mittels eigener Beobachtungen am Wortlaut. Wertungen wie »problematic texts« oder »good Christian interpretation« (271) gehen häufig von einem vorausgesetzten, aber nicht immer im Einzelnen dargelegten System von »Christlichkeit« aus, das sich von selbst hinsichtlich seiner dogmatischen und ethischen Implikationen nicht erschließt. Hier scheint eine hermeneutische Lücke zwischen Textlektüre und Applikation auf im Sinne von: »What one wants to know is that a text coupled with an interpretation points people forward in the Christian journey and leeds into a deeper quality of life and experience in and before God« (173). Die Frage nach dem Beitrag eines alttestamentlichen Textes zur rechenschaftsfähigen Reflexion des christlichen Glaubens, womöglich in einer spezifischen Lehr- oder Konfessionstradition und -gestalt, wird ja so noch nicht gestellt. Die Stärke des Buches liegt darin, die hermeneutische Grundfrage erneut mit Nachdruck zu stellen und sich auf die Eigenarten unterschiedlicher Texte einzulassen, statt nach einem einzigen Generalschlüssel zu suchen. Im Detail finden sich zahlreiche anregende Impulse zum Weiterfragen.