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Ausgabe:

November/2021

Spalte:

1033–1035

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Marx, Farina [Hg.]

Titel/Untertitel:

Jalkut Schimoni zum Zwölfprophetenbuch. Übersetzung und Kommentar.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. XVI, 484 S. = Jalkut Schimoni. Geb. EUR 119,95. ISBN 9783110674385.

Rezensent:

Daniel Schumann

Der Jalkut Schimoni (fortan Jalkut) ist eine Zusammenstellung von Kommentierungen zu den biblischen Büchern aus Talmud und Midrasch. Autor des Jalkut ist der angeblich aus Frankfurt/Main stammende Schimon ha-Darschan. Eine ganze Reihe rabbinischer Werke, die in Teilen im Jalkut zusammengeflossen sind, gelten als verloren und sind uns heute nur noch in ihrer hier zitierten Form überkommen. Anders als zur Tora, für die es verschiedene Midraschim mit fortlaufender Auslegung des Toratextes gibt, musste der Kommentator zum Zwölfprophetenbuch erst aus einer Vielzahl rabbinischer Quellen eine fortlaufende Auslegung generieren. Im Jalkut enthalten sind bisweilen Lesarten zur Hebräischen Bibel, die von der masoretischen Texttradition abweichen, was angesichts der Abfassungszeit des Jalkut im 12.–13. Jh. verblüffend ist. Deren genaue Erforschung stelle ein Forschungsdesiderat dar (IX).
Die im Band mit kurzen Anmerkungen versehene Übersetzung des Jalkut Schimoni zum Zwölfprophetenbuch (74–345) und die Einzelbeobachtungen zu Einleitungsfragen (1–73), Quellen (346–364) und Quellenbearbeitung (365–384) sowie zu Komposition (385–404) und Paragraphenverweisen (405–426) sind im Zusammenhang des Dissertationsprojekts der Herausgeberin entstanden. Der Band gehört zu acht Neuerscheinungen aus dem Jahr 2020, die als Teil der Open-Access-Transformation in den Jüdischen Studien zur freien Verfügbarkeit als E-Book-Ausgabe durch den Fachinformationsdienst Jüdische Studien und 18 weiteren wissenschaftlichen Bibliotheken bereitgestellt werden (IV–V).
An den Anfang der Einleitung stellt die Herausgeberin einen informativen Überblick über die jüngere Forschungsgeschichte zur Entstehung des Zwölfprophetenbuches (1–8) und diskutiert daran anschließend das Zwölfprophetenbuch in Qumran, seine griechische Texttradition und seine Rolle in der rabbinischen Traditionsliteratur (8–73). Hierbei nimmt sie speziell auch die Kommentierung des Zwölfprophetenbuches im Jalkut in den Blick und stellt die zentralen Anliegen und Themenblöcke der Auslegung detailliert dar.
Die äußerst verlässliche und gut verständliche Übersetzung im zweiten Abschnitt des Buches (74–345) basiert auf der Ausgabe von Arthur B. Hyman und Jitzchak Schiloni (Hgg.), Jalkut Schimoni al Neviim Acharonim: Tre asar (Jerusalem 2009), die im Fall der Hinteren Propheten die editio princeps (Saloniki 1521) zur Grundlage hat. Vereinzelt sind der Übersetzung Fußnoten beigegeben, um die nominalen Bezugselemente von Proformen zu identifizieren sowie auf parallele rabbinische Primärquellen und thematisch weiterführende Sekundärliteratur zu verweisen.
Im dritten Abschnitt »Die Quellen des Jalkut Schimoni« listet die Herausgeberin tabellarisch die Anzahl der aus den verschiedenen rabbinischen Quellen entnommenen und im Jalkut zur Auslegung herangezogenen Passagen auf und nennt ihren genauen Ort in einer zum jeweiligen rabbinischen Werk angehängten Fußnote. Gemessen am Umfang der aus diesen Werken zur Auslegung des Zwölfprophetenbuches entlehnten Passagen stechen der Babylonische Talmud und Midrasch Tanchuma als wichtigste Quellen heraus (363). Dies mag im Fall des Babylonischen Talmuds nicht weiter verwundern, da anders als die palästinischen Gelehrten, die unabhängig vom Jerusalemer Talmud eine Vielzahl an Kommentarwerken verfassten, die babylonischen Gelehrten ihre midraschischen Traditionen in die Gemara des Babylonischen Talmuds einfließen ließen. An die tabellarische Übersicht der Quellen lässt die Herausgeberin zu jedem Prophetenbuch einen Abschnitt über Anordnung und Umfang der Kommentareinheiten anschließen. Dabei merkt sie an, dass die sonst an der Anordnung des biblischen Stoffs orientierte Kommentierung hier und dort mit dem Prinzip der fortlaufenden Auslegung bricht und sich die Reihenfolge der auszulegenden Prophetenworte bisweilen sprunghaft ändert (350. 352). Wie im Fall des Jalkut zu Habakuk ersichtlich wird, nahm der Ausleger diese Sprünge in Kauf, um ein thematisch orientiertes Ordnungsprinzip der Auslegung zu ermöglichen (356.358). Im Fall des Propheten Nahum fehlt die Auslegung zum gesamten dritten Kapitel und im Fall des Propheten Sacharja besitzt der Jalkut keine Kommentierung zum siebten Kapitel.
Im vierten Abschnitt »Die Bearbeitung der Quellen« analysiert die Herausgeberin anhand der Auslegung von Mal 3,19; Hab 3,1–2 und Hos 1,1–6 produktive Formen der Umgestaltung des für die Auslegung des Zwölfprophetenbuches herangezogenen midraschischen Quellenmaterials. Dazu zählt sie die Umstellung von Beleg- und Auslegungsvers, Auslassungen, Verklammerungen mit einer zweiten midraschischen Quelle und das Ausschneiden und Neukombinieren von Quellenmaterial. Basierend auf diesen Beobachtungen hält es die Herausgeberin für verfehlt, den Autor des Jalkut nur als Kompilator oder Schöpfer einer Anthologie zu klassifizieren. Vielmehr sei dieser als »Bibelkommentator« anzusprechen, der in gestalterischer Freiheit die midraschischen Traditionen der palästinischen und babylonischen Gelehrten für die Auslegung des Zwölfprophetenbuches fruchtbar zu machen wusste (384.427). Ein solcher kreativer und produktiver Umgang mit den Quellen mache es der Herausgeberin zufolge unmöglich, die uns im Jalkut überkommenen midraschischen Traditionen zur Rekonstruktion verlorengegangener Quellentexte heranzuziehen.
Im fünften Abschnitt »Textkomposition« (385–404) identifiziert die Herausgeberin verschiedene Kompositionsstrategien, allen voran die Strategie der thematischen Fokussierung, wobei hier die Proselyten, die Propheten als unfehlbare Übermittler göttlicher Weisungen, die Schechina sowie der Messias und das messianische Zeitalter besonders herausstechen. Im anschließenden sechsten Abschnitt »Paragraphenverweise« (405–426) führt die Herausgeberin tabellarisch sämtliche Abkürzungsverweise im Jalkut zum Zwölfprophetenbuch auf. Diese dienen als internes Verweissystem der abgekürzten Kommentierung und können entweder anstelle einer Versauslegung, als Ergänzung zu einer bereits begonnenen Auslegung oder zur Kombination von Quellen auftreten. Den Abschluss zum Band bilden ein kurzes Fazit (427 f.), ein umfangreiches Register aller im Kommentar verwendeter Quellen (429–472) und ein Literaturverzeichnis (473–481).
Auch wenn der Midrasch Jalkut als ein Werk nachtalmudischer Bibelauslegung anzusprechen ist, so wird die von der Herausgeberin vorgelegte kommentierte Übersetzung zum Zwölfprophetenbuch und ihre Grundlagenforschung zu Quellenverarbeitung und -bearbeitung nicht nur für Interessierte und Forschende des mittelalterlichen, sondern auch des frührabbinischen Schrifttums von besonderem Wert sein. Die Brücke, die der Jalkut mit seiner Aufnahme tannaitischer und amoräischer Midraschwerke schlägt, ist ein eindrucksvolles Zeugnis für den sich aus dem Reichtum rabbinischer Quellen immer wieder neu entfachenden Prozess rabbinisch-midraschischer Bibelauslegung. Für die Bereitstellung dieser für die Erforschung der Auswahlkriterien der im Jalkut zusammengeflossenen rabbinischen Quellen so wichtigen Pionierarbeit ist die Herausgeberin unbedingt zu beglückwünschen.