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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

973–974

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Haußmann, Annette, u. Niklas Schleicher [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Aktuelle Theologie. Zur Relevanz theologischer Forschung.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 227 S. m. 13 Abb. Kart. EUR 32,00. ISBN 9783170370548.

Rezensent:

Hartmut von Sass

»Aktuelle Theologie« – für die einen mag das wie eine wenig überraschende Tautologie klingen, während sich hier für andere nur ein begrifflicher, bestenfalls etwas bedauerlicher Widerspruch spiegelt. Muss Theologie nicht per se »aktuell« sein, will sie von Gottes Gegenwart handeln? Oder kann Theologie überhaupt derart präsentisch sein, sollte sie sich als ein genuin nachdenkliches und also (pro)grammatisch »zu spät« kommendes Geschäft verstehen? Es ist gut, dass sich der hier anzuzeigende Band dieser recht schematischen und wohl sehr unglücklichen Alternative entzieht. Dies tut er so, dass nach der »Relevanz theologischer Forschung« (so der Untertitel) gefragt wird: Ist also »aktuelle« Theologie jene, die relevant sei? Wie entkommt man dann der hier drohenden Instrumentalisierung des Faches? Und wenn man diese umginge, ist immer noch offen, für wen und in welchem Kontext dieser Zweig der »Forschung« Relevanz gewinnen sollte.
Einheitliche Antworten sind bei einem vielstimmigen Band wie diesem nicht zu erwarten. Diese Veröffentlichung geht auf eine Veranstaltungsreihe zurück, die an der LMU München 2018/19 stattgefunden hatte; den institutionellen Rahmen bildete ein Kolloquium, in dem zumeist jüngere Kolleginnen und Kollegen sowie Studierende aus allen Bereichen der Theologie und einigen angrenzenden Disziplinen Seminar- und Abschlussarbeiten zur Diskussion stellen konnten. Daraus resultiert das breite thematische Spektrum der Beiträge, die auf einer »Metaebene« dadurch zusammengehalten werden sollen, dass die »Bedeutung der einzelnen Forschungsergebnisse« integraler Bestandteil der Ausführungen sein werde (8).
Die beiden Herausgeber sind Annette Haußmann (Juniorprofessorin für Praktische Theologie in Heidelberg) und Niklas Schleicher (wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systema­-tische Theologie in München). Sie haben zwölf thematisch, sprachlich und teilweise stilistisch sehr unterschiedliche Artikel ver- ­sammelt, von denen drei (von Daria Pezzoli-Olgiati, Anna-Katharina Höpflinger und ein Dialog zwischen den Herausgebern über »Mut und Demut« plus whatsapp-Nachtrag) die Verbindung zu methodischen und interdisziplinären Fragestellungen leisten.
In den restlichen neun materialen und thematisch fokussierten Aufsätzen kommen sehr unterschiedliche Anliegen zum Ausdruck, die hier nur angedeutet werden können: Sie reichen von der Religionsphilosophie Kants, der jedoch interessanterweise eine Lektüre von Dantes Gastmahl vorgeschaltet ist (M. Berkefeld), über die weithin marginalisierten Predigten R. W. Emersons (Megan Arndt), eine Theologie des Geistes (M. Schalück), friedensethische Überlegungen (exemplarisch: Afghanistan-Einsätze; dazu F. Stasik; institutionell-normativ: kirchliche Verlautbarungen; A. F. Hoffmann), schließlich Überlegungen zur klassischen Spannung zwischen Religion und Gewalt (L. Meyer), einige Problematiken innerhalb der Schulseelsorge zwischen Prävention und Intervention (E. Ku­nad), Dynamiken der Ausgrenzung (V. M. Eberhardt) bis zu einem Beitrag zu »Paratexten« in der griechischen Bibel (A. Mele).
Wie man bei diesem Band fragen kann, so auch im Blick auf die Theologie insgesamt: Was hält die Kapitel des Bandes und des Faches zusammen? Die Herausgeber sind sich dieser traditionellen, »enzyklopädischen« Problematik ganz bewusst. Ist es ein gemeinsames Thema, das vereinigend wirkt? Ist es eine von allen geteilte Methodik, zumindest ein Modus der Herangehensweise, die alles zusammenhält? Ist es der »kirchenleitende« Zweck oder ein von unterschiedlichen Seiten traktiertes Programm oder gar ein bestehendes oder ausgehandeltes Ziel, das den Fliehkräften entgegenwirkt? Oder sollten wir jenes Ideal der einigenden Gemeinsamkeit aufgeben und durch vorsichtigere Alternativen ersetzen – gerade in Zeiten, in denen disziplinäre Selbstverständlichkeiten erodieren und Inter-, Multi- oder Transdisziplinarität zumindest als Versprechen in jeden Antrag gehört?
In diesem Band wird – im Bewusstsein der genannten Probleme– anders vorgegangen: Die Freiheit der Beiträge ohne vorangehende Limitierungen sollte verbunden werden mit einer zu­mindest formalen Klammer. Das kann nur nachträglich erfolgen, so dass die eingangs skizzierte Frage nach der Relevanz »in Gesellschaft, Kultur, Öffentlichkeit und Wissenschaft« (8) an die Texte herangetragen wird. Auch das ist ein Versprechen, das nicht immer eingelöst worden ist, so dass sich die Probleme des Faches genau darin wiederholen, dass man sie benannt, aber nicht ge­bannt hat.
Es ist ein gutes Zeichen, dass durch Publikationen wie diese das lange (und immer noch?) dominierende »Fanal der Seniorität« (so Andreas Reckwitz in ganz anderem Kontext) engagiert herausgefordert wird, indem sich neue, junge, experimentierfreudige Stimmen bemerkbar machen. Nur habe ich die Sorge, dass die teilweise wirklich gelungenen Texte in dieser editorischen Nische wieder verlorengehen; denn entweder traktiert man Methodenprobleme der Theologie ganz direkt und unmittelbar oder man nimmt sich ein spannungsreiches Thema, um »relevante« Stimmen dazu zu vereinigen. So finden entsprechende Aufsätze viel eher ihre Leserschaft. Der Band geht einen anderen Weg. Doch bleiben Zweifel, dass die »Aktualität der Theologie« – zwischen Tautologie und Widerspruch – einen hinreichend greifbaren Fokus bildet, damit sich die Polyphonie der Beiträge nicht selbst in die Quere kommt, sondern hörbar wird.