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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

970–972

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Döhn, Raphael

Titel/Untertitel:

Der Mensch in der Verantwortung. Die Theodizeefrage bei Hans Jonas, Dorothee Sölle und Abraham Joshua Heschel.

Verlag:

Berlin: Logos Verlag 2020. 370 S. = Hans Jonas, 2. Kart. EUR 49,00. ISBN 9783832551285.

Rezensent:

Robert Martin Jockel

Den Menschen an Gottes Statt in der Theodizeefrage in die Verantwortung zu nehmen, scheint religiös wie intellektuell gewagt. Doch eben diesen Weg gehen Hans Jonas, Dorothee Sölle und Abraham Joshua Heschel nach der These von Raphael Döhn. Dessen Buch Der Mensch in der Verantwortung. Die Theodizeefrage bei Hans Jonas, Dorothee Sölle und Abraham Joshua Heschel wurde 2020 von der Universität Kassel (Betreuer Tom Kleffmann) als systematisch-theologische Dissertation angenommen und liegt nun als Veröffentlichung der Reihe Hans Jonas des gleichnamigen Instituts vor.
Die Auswahl dieser drei Ansätze zur Gretchenfrage nach der Gerechtigkeit Gottes liege nah: Denn bei allen dreien sei der Mensch nicht nur vor, sondern auch für Gott verantwortlich (vgl. 283 f.). Schlage sich das bei Jonas und Sölle als Kritik an theistischen Allmachtsvorstellungen nieder, so führe bei Heschel die Kritik am Missbrauch Gottes als »Sündenbock« (47) für menschliche Verfehlungen zum selben Ziel: der Überführung der Theodizee in Anthropodizee. Die Theodizeefrage werde bei allen dreien zur kritischen Rückfrage an den Theismus und zur ethischen Entscheidungsfrage.
Um diesen Gedanken zu belegen, untersucht D. nach einer Einführung in Terminologie und Forschungsgeschichte (Kapitel 1) insgesamt acht aktuelle Dogmatiken und macht sie trotz aller Binnendifferenzierung als »konventionelle« Kontrastfolie zu Jonas, Sölle und Heschel geltend (Kapitel 2). Denn bestimmte Gemeinplätze gegenwärtiger Überlegungen zur Theodizeefrage würden bei den drei Genannten gerade ausgelassen, abgelehnt oder stark modifiziert (41). In der Regel entzünde sich das Theodizeeproblem demnach an der Vereinbarkeit der drei göttlichen Eigenschaften Allmacht, Liebe (bzw. Güte) und (fragmentarischer) Verstehbarkeit angesichts menschlichen Leids. Um die zu gewährleisten, werde die Allmachtsvorstellung meist kreuzeschristologisch und/oder eschatologisch transformiert. In den »konventionellen« Dogmatiken balancieren demnach eschatologische Hoffnung und das Rechnen auf Gottes liebendes Mitleiden den Ruf in die gegenwärtige ethische Verantwortung aus.
Demgegenüber seien gerade Jonas’ und Sölles Ansätze »unkonventionell«, insofern sie auf dieses Gegengewicht verzichten. Nicht nur lehnen sie – wie auch Heschel – eschatologische Perspektiven ab, sondern verstehen auch Gottes Mitleiden nicht als eine freie Entscheidung, sondern denken Gott als dem Menschen gewissermaßen ausgeliefert (283 f.). Das ergebe sich aus ihrer Ausmusterung der Allmacht aus den genannten integralen Gottesattributen. So erklärt sich D.s – auf den ersten Blick schematisch wirkende – Unterscheidung von konventionellen und unkonventionellen Ansätzen durch das unterschiedliche Kräfteverhältnis zwischen Gott und Mensch als klarer Trennlinie zwischen beiden Gruppen.
Plastisch wird das bereits an seiner Untersuchung von Hans Jonas’ Gottesbegriff nach Auschwitz (Kapitel 3). Die Weltvernei-nung des Urbild-Abbild-Schemas der Gnosis werde von Jonas an-tignostisch transformiert in ein völliges Eingehen des Bildes Gottes (d. h.: Gottes selbst) in seine Schöpfung, so dass der nun autarke Kurs dieser Schöpfung auf dieses Bild positiv oder negativ rückwirke (112). In diesem Sinne sei Gott bei Jonas ohnmächtig und von der ethischen Integrität des Menschen nachgerade ontisch abhängig. Sein »gefährdeter Gott […] mit eigenem Risiko« (123) könne »nur hoffen und werben« (124). Die religionsphilosophische Überlegung gehe damit in einen ethischen Verantwortungsruf über.
Daran schließe D. Sölle mit ihrer Rede von »Gottes Schmerz und unsere[n] Schmerzen« (Kapitel 4) eng an. Diese ziele auf eine Kritik am theistischen Absolutheitsaxiom zugunsten eines Verständnisses Gottes als Beziehungsgeschehen. So sei es der Schmerz Gottes über unseren Schmerz, der wiederum uns zum eigenen aktiven Kampf gegen das menschliche Leiden dränge.
Etwas aus dieser Reihe fällt lediglich Heschel (Kapitel 5), der in seiner unsystematischen »Tiefentheologie« den handelnden Glaubensvollzug in den Vordergrund rücke (211). Gott komme dabei in erster Linie als Fordernder und vom menschlichen Handeln Bewegter (253 ff.) – soweit sei die Kritik am Apathieaxiom auch bei Heschel gegeben –, nicht aber als selbst Schuldiger in den Blick. Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes werde also zugunsten der Frage nach der Gerechtigkeit des Menschen sistiert (202.232). Die ontologische Abhängigkeit Gottes bei Jonas und Sölle entschärfe sich bei Heschel zu einer (höchstens) soteriologischen, da Gott auf die Hilfe der Menschen bei deren und der Welt Erlösung lediglich angewiesen sein wolle (269 f.). Insofern fällt die Asymmetrie der Abhängigkeitsbeziehung Gottes zum Menschen im Vergleich (Kapitel 6) bei Heschel eher »zugunsten« Gottes und bei Jonas »zugunsten« des Menschen aus, während Sölle eine weitgehende Symmetrie gegenseitiger Abhängigkeit denke. Die Pointe ist, dass jede Positionierung auf diesem Spektrum zum selben Ergebnis führe: der Überführung der Theodizee in Anthropodizee.
In seiner abschließenden Würdigung (Kapitel 7) bejaht D. grundsätzlich die ethische Entschiedenheit aller drei Positionen, sucht aber – m. E. sinnvollerweise – die implizierte menschliche Überforderung durch eine Rehabilitation des Allmachtsbegriffs abzufedern. Denn aus evangelischer Perspektive drängt sich im Lauf der Lektüre immer wieder die Frage auf, wie der Mensch der ihm hier aufgebürdeten Verantwortung je entsprechen können soll. D. schließt sich dazu zunächst der Reformulierung göttlicher Allmacht als »Allmacht der Liebe« an, die E. Jüngel in Replik auf Jonas unternommen hatte (277), und hält kritisch fest, dass die Kritik von Jonas und Sölle am Allmachtsbegriff hier nicht treffe, sondern beim Zerrbild der Willkür-Allmacht stehenbleibe (126 f.160 f.). Sodann entwickelt er das Konzept zum trinitätstheologischen Begriff einer Liebesmacht Gottes weiter, deren ethische Pointe eine pneumatologische Ermächtigung des Menschen zum Handeln ist (306 ff.).
Im Ausgang von D. wäre m. E. zu fragen, wie diese Ermächtigung genauer zu denken wäre; es wären also auf dieser Grundlage Implikate für die Gotteslehre darzustellen. D. liefert dafür in seinen abschließenden Überlegungen zur Theodizee bereits Ansätze, indem er an der Freiwilligkeit des Eingehens Gottes in das menschliche Leid festhält und so dessen ontische Abhängigkeit vom Menschen korrigiert. Denn durch diese werde das Liebeshandeln Gottes von Jonas und Sölle letztlich entwertet, indem die Sorge Gottes um den Menschen sich als Sorge um sein eigenes Sein entpuppe (314 f.). Dagegen plädiert D. erneut im Anschluss an E. Jüngel und andere dafür, das Kreuz auch in seinen Implikationen für den Gottesbegriff ernst zu nehmen (312 f.) und Gottes Sorge um den Menschen ausschließlich transitiv, d. h. als gleichzeitige Sorglosigkeit um sein eigenes Sein zu denken. Mit diesem Ergebnis steht er Heschel deutlich näher als Jonas und Sölle, indem er das Verhältnis von Gott und Mensch mit einem Begriff M. L. Frettlöhs als »asymmetrische Reziprozität« (315) bestimmt, die asymmetrisch genug ist, eben auch dem Rechtfertigungsartikel zu entsprechen (316).
D. geht diesen Denkweg mit einer wissenschaftlichen Sorgfalt, die beinahe zu ernst genommen ist, insofern die akribische Untersuchung immer wieder auch für Redundanzen sorgt – ein geringer Preis allerdings für eine umfassend überzeugende und im besten Sinne »unkonventionelle« Auseinandersetzung mit po­larisierenden Positionen zu einem Grundproblem christlicher Theologie.