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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

965–968

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Stegemann, Bernd

Titel/Untertitel:

Die Öffentlichkeit und ihre Feinde.

Verlag:

Stuttgart: Klett-Cotta-Verlag 2021. 304 S. Geb. EUR 22,00. ISBN 9783608984194.

Rezensent:

Dietrich Korsch

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Schilling, Erik: Authentizität. Karriere einer Sehnsucht. München: C. H. Beck Verlag 2020 (2. Aufl.: 2021). 155 S. = C. H. Beck Paperback, 6403. Kart. EUR 14,95. ISBN 9783406757600.
Nussbaum, Martha: Zorn und Vergebung. Plädoyer für eine Kultur der Gelassenheit. Aus d. Engl. v. A. Walter. Darmstadt: wbg Academic 2017. 408 S. Geb. EUR 42,00. ISBN 9783534268849.


Die aktuellen identitätspolitischen Diskurse in ihren Kontext zu stellen, bedeutet zugleich nach den Modi der möglichen Koexis-tenz verschiedener Identitäten zu fragen. Insofern ist mit dem reflexiven Verhalten zu ihnen stets auch ein Blick über ihre Grenzen hinaus verbunden.
Mit seinem Titelstichwort versucht der Münchner Literaturwissenschaftler Erik Schilling analytisch eine neue Form von Subjektivitätsbildung zu beschreiben, die man als Post-Postmoderne bezeichnen könnte. Nach seiner Einschätzung handelt es sich um ein grundsätzliches Unbefriedigtsein von den als illusionär und willkürlich betrachteten Wahlmöglichkeiten der Postmoderne, wie sie seit den 1980er Jahren propagiert wurden. An die Stelle der Beliebigkeit, die damit verbunden sein sollte, tritt nun die Suche nach wesentlicher Selbstverwirklichung – und genau das ist es, was Schilling zufolge unter der Bezeichnung »Authentizität« gesucht wird.
Vor dem Hintergrund dieser analytischen Einschätzung stellt Schilling die kritische Diagnose, dass das Authentizitätsversprechen eine Verführung darstellt, sich – im Grunde vormodern-essentialistisch – in einen Zustand der Vereinfachung, Vereindeutigung und Entlastung zurückzuträumen. Wesentliche Verwirk-lichung statt beliebiger Wahl, das ist das Grundmuster des Be­fundes, die Triebkraft in der Sehnsucht nach Authentizität. Die Gefahr besteht dabei, Konstruktivismus und Konvention kurzzuschließen. Anders gesagt: So authentisch ist die Authentizität dann auch wiederum nicht, um als unbedingte Individualität gelten zu können. Diese diagnostische Beobachtung wird begriffsanalytisch durchdekliniert und durch oft überraschende, bisweilen amüsante Beispiele aus Literatur (53–84), Politik (85–108) und Identitätskonstruktionen (109–134) veranschaulicht. Die Kennzeichnung des Authentischen als »metaphysisches Zentrum des frühen 21. Jahrhunderts« (108) lässt ahnen, dass der Autor bereits eine Therapie im Sinn hat; in seinem Fall die Umstellung von einem subjektbezogenen auf einen beobachtungsgeleiteten Begriff von Authentizität, der sich auf die Übereinstimmung von Beobachtung und Erwartung seitens eines Beobachters beschränkt (41). Diese Restriktion des Authentizitätsbegriffs soll der metaphy-sischen Entlastung von Selbstansprüchen dienen und damit den Platz freigeben für Professionalität, Situativität und Ambiguitätstoleranz als Umgangsweisen mit der Wirklichkeit, die den Weg eigenen subjektiven Lebens begleiten und erleichtern (139–144).
Man kann Schilling zustimmen, dass die Suche nach Authentizität eine neue Phase der postmodernen Ära einleitet. Doch dürfte das Streben danach nicht erst einer Irritation durch die Vielfalt der vorgestellten Wahlmöglichkeiten entsprungen sein. Vielmehr liegt das Bestreben der authentischen Wahl bereits der scheinbaren Willkür der Postmoderne zugrunde, die ja gerade den Weg zur Individualisierung öffnen sollte. Daher ist es keineswegs zwangsläufig, das Verlangen nach Authentizität als essentialistisch zu brandmarken; auch gewählte Identitäten können sich als beinhart erweisen, ohne Ansprüche auf Wesenhaftigkeit zu erheben. Es scheint vielmehr Schillings Gegensatzbildung von Essentialismus und Beobachtungsperspektive zu sein, die das Argument leitet. Doch ist diese theoretische Weichstellung unplausibel, kann doch die Sehnsucht nach Authentizität durch diese Blickverschiebung nicht eingefangen werden. Gerade die von Schilling empfohlenen Haltungen von Professionalität, Situativität und Ambiguitätstoleranz bedürfen ja eines subjektivitätslogischen Drehpunktes, um so eingesetzt zu werden, dass sie auch subjektiv zielführend sind, ohne zur Maske zu werden. Das ist mit dem Beobachterblick allein nicht zu schaffen. Dennoch: eine auch literarisch anregende Lektüre, die zur Auseinandersetzung einlädt.
Das gilt weniger von Bernd Stegemanns Buch, das eher in die Kategorie der Betroffenheitsliteratur fällt, welche der polemischen Lage identitätspolitischer Streitigkeiten entsprungen ist. Es be­wegt sich zwischen Vorwürfen und Schuldzuweisungen, ohne sich auf einen Umgang mit den Problemen zu besinnen, der einen Ausweg ermöglichte. Anders als es die anspruchsvolle Anleihe des Titels bei Poppers Buch »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« (1945) erhoffen lässt, schickt Stegemann seine Leser auf die vergebliche Suche nach haltbaren Argumenten, die sich hinter der Mi­schung aus Luhmann, Habermas, Reckwitz e tutti quanti verbergen könnten. Den Literaturgebrauch im Text und in den Anmerkungen wirft Fragen auf.
»Öffentlichkeit« soll offenbar als Zentralinstanz aufgerufen werden, deren freiheitlich-rationale (»deliberative«) Verfassung durch die »offene Öffentlichkeit« bedroht sei, in der jedem belie-bigen Teilnehmer argumentfreie Beiträge zu einem rauschenden Diskurs verstattet seien – weshalb sich offensichtliche Egoismen und medial inszenierte Aufmerksamkeitsverstärker in den Vordergrund spielen. Das Verhältnis von Öffentlichkeit, Politik, Kultur und Wirtschaft bleibt in dieser groben Skizze freilich nebulös; der inflationäre Gebrauch von Diskursphrasen wie »Anthropozän«, »Spätmoderne« etc. trägt zur Klarheit nichts bei. Irgendwie müsste alles anders sein, so Stegemanns Tenor.
Interessant aber ist am Ende das deutlich geäußerte Verlangen nach »Transzendenz«. Gerade der Unbeholfenheit dieses Wunsches, der sich um begriffliche Klarheit wenig müht, wird man die Ahnung abspüren können, dass nach einem Bezugspunkt individuellen Lebens gesucht wird, der nicht nur dem aktuellen Kampf entsprungen ist, auf dass er in dessen Getümmel Halt gebe. Dass die vom Autor aufgebotenen Kandidaten der Transzendenz, »Ökologie« und »Klima«, diese Funktion bereits erfüllen, muss man bezweifeln. Wenn man schon den Begriff der Transzendenz be­müht, müsste man sich stärker um dessen Bedeutung und Im-plikationen bemühen. Immerhin kann man auch bei Stegemann sehen, dass es einer Alternative zu vorhandenen innerpolemi-schen Orientierungen bedarf. Diese müsste aber in der Lage sein, auch die individuelle Selbstfindung anzuregen und gelingen zu lassen, von der bei Schilling unter dem Namen der Authentizität die Rede war.
Am Ende dieser Rezension steht der Titel von Martha Nussbaum, der die Schwierigkeiten, der polemischen Identitätspolitik zu entkommen, besonders deutlich vor Augen führt – gerade darum, weil die Autorin sich deren Bedingungen entziehen möchte.
Nussbaum nimmt in diesem Buch, das aus ihren John-Locke-Vorlesungen in Oxford 2014 erwachsen ist, nämlich Abschied von ihrer früheren Auffassung, dass es das Schuldbewusstsein und die mit ihm verbundenen Gewissensqualen seien, die Kraft zu moralischem Handeln geben (186–188). Darum verändert sie den Kontext, von dem aus auch auf die Probleme der von Schuldvorwürfen gekennzeichneten Identitätsdiskurse zurückzukommen ist, und widmet ihre Aufmerksamkeit dem Zorn – einem unvermeidlichen, aber nicht unveränderlichen Grundphänomen menschlichen Le­bens. Dabei wird miterörtert, ob und inwiefern Vergebung einen Modus des Umgangs mit dem Zorn, seinen Voraussetzungen und Folgen, darstellen kann. Überraschend ist, dass der Ausdruck »Ge­lassenheit«, der mystischer Herkunft ist, nur im deutschen Untertitel, im Buch aber gar nicht auftaucht; das wäre ein interessanter Nebenaspekt gewesen.
Regungen des Zorns, so Nussbaums Analyse, verbinden sich mit dem Weltverhältnis und dem Selbstverhältnis der Menschen. Zorn, der sich gegen Beeinträchtigungen im Weltverhältnis richtet, erregt das Bedürfnis der »Heimzahlung« (16); dabei steht eine metaphysische Phantasie des kosmischen Ausgleichs im Hintergrund. Zorn, der aus der Beeinträchtigung des Selbstverhältnisses entsteht, also den »Status« der Person betrifft (17), neigt dazu, den anderen vergeltend herabzusetzen. »Diskriminierung aus Rasse- und Geschlechtergründen wird häufig als Verletzung betrachtet. […] Die Positionen durch Herabsetzung umzukehren, schafft keine Gleichheit.« (48) De facto hängen beide Typen des Zorns zusammen – und beide sind, lässt man sie unbearbeitet gewähren, zerstörerisch. Allenfalls sofern man Zorn als Initialimpuls zum Handeln sehen kann, sofern er sich selbst in rationale Abwägung verwandelt, kann er moralisch anerkannt werden (28–86).
Vergebung, die zunächst als Weg der Bewältigung des Zorns angesehen werden mag, erweist sich bei näherer Betrachtung als von dessen Gegensatzgehalt infiziert. Denn die institutionelle Verzeihung, wie sie im jüdisch-christlichen Vergebungsritual präsent ist, bekräftigt nach Nussbaum die Differenzen noch einmal und führt zu einer Selbsterniedrigung des Schuldigen, der dadurch eben nicht frei wird. Diese Dynamik wirkt sich auch noch im persönlich-informellen Vergebungsgeschehen aus. Erst da, wo bedingungslose Liebe in die »Zornlosigkeit« führt, also das Verbindende nicht mehr unter der Signatur des Trennenden steht, wird die Ausgangslage des Zorns überwunden. Dafür gibt es einige religiöse Anstöße, die aber nach Auffassung der Autorin nicht systematisiert wurden (87–131).
Diesen Grundgedanken führt Nussbaum in drei Bereichen durch: den vertrauten Beziehungen intimen Lebens in Partnerschaft und Familie (132–195), dem »mittleren Bereich« von Berufsleben und Alltagsbegegnungen (196–238) sowie dem politischen Bereich unter dem Index der »Alltagsgerechtigkeit« (239–296) und dem Index der »revolutionären Gerechtigkeit« (297–343). Im ersten Sektor, dem der Intimität, ist die Verletzlichkeit am größten und der Bedarf nach Vertrauen am stärksten; hier den Zorn zu überwinden, macht nichts weniger als eine Neugründung der Vertrauensverhältnisse durch abermals überschießende Liebe nötig; diese gibt es tatsächlich, so unwahrscheinlich sie auch erscheinen mag. Nur daraus erwächst eine von allen bejahte Zukunft. Der distanziertere »mittlere« Bereich von Beruf und Alltag ist am besten dadurch zu ertragen, dass man die Bedeutung des eigenen »Status«, also den Rang des Selbstbildes im eigenen Selbstbewusstsein, ermäßigt und sich »ambiguitätstolerant« verhält, wie Schilling sagen würde. Wenn es um Politik geht, dann plädiert Nussbaum energisch für ein strikt resozialisierungsbezogenes Strafrecht; gewiss auch vor dem Hintergrund ihrer amerikanischen Erfahrungen. Von besonderem Interesse ist dann das, was unter »revolutionärer Gerechtigkeit« behandelt wird; hier geht es um nichts weniger als um die Errichtung von gesellschaftlichen Zuständen, die die Un­terdrückungsmechanismen der Vergangenheit nicht mehr wiederholen; dafür greift sie vor allem auf Nelson Mandela als Maß und Vorbild zurück.
Das logische Problem der Identitätspolitik wird in Nussbaums Buch so aufzulösen versucht, dass der Herrschaftsstatus der Vergangenheit bestritten wird. Aus den vorausliegenden Diskriminierungs- und Gewaltverhältnissen erwächst keine Gerechtigkeit. Stattdessen sei die gemeinsame Zukunft der Orientierungsrahmen für eine gelingende Selbstbestimmung. Diese muss sich also von der Fixierung auf die Herkunft aus Natur und Geschichte befreien. Man spürt es der Autorin an, wie stark sie an der Modellierung dieser Selbstsicht interessiert ist, die sie durch ihre Gedankengänge auf den Spuren eines utilitaristischen Eudämonismus zu fördern beabsichtigt.
Doch genau hier setzen auch die Rückfragen an. So sehr der Gedanke einleuchtet, dass eine »umfassende Liebe« nötig ist, die die mit den Zornesregungen verbundenen Straf- und Rachewünsche nicht mehr verfolgt: Wie ist sie möglich, wenn doch die Ausgangslage der Zornesdynamik nicht zu leugnen ist? Was bewegt denn Menschen zu Identitätskonstruktionen, die sich durch Ausschließung und Abgrenzung aufbauen? Unter welchen gesellschaftlichen Zuständen verfahren sie so? Was bei Nussbaum mit dem emphatischen Wort »Liebe« bezeichnet wird, muss ja selbst von subjektkonstitutiver Art sein, also in sich selbst und aus sich selbst den Übergang von Zorn zu Liebe vermitteln. Dass das möglich sei, wird von der Autorin schlicht unterstellt – und soll sich aus der durchweg rhetorisch-perlokutionären Art ihrer Argumentation ergeben, welche »die Liebe« in einer quasitranszendenten Unmittelbarkeit inszenieren möchte. Man braucht diesem Anliegen nicht widersprechen zu wollen, doch ist hier der Ort, an dem man die – rational verantwortete – Transzendenz ins Spiel bringen muss, von der die Religion weiß und von der her man den systematischen Gedanken derjenigen Vergebung bilden kann, die tatsächlich aus der Macht schuldhafter Vergangenheit befreit.