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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

959–962

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Nussbaum, Martha

Titel/Untertitel:

Kosmopolitismus. Revision eines Ideals. Aus d. Engl. v. M. Weltecke.

Verlag:

Darmstadt: wbg Theiss 2020. 352 S. Geb. EUR 30,00. ISBN 9783806240580.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Der englische Titel (The Cosmopolitan Tradition. A Noble but Flawed Ideal, 2019) fasst die Pointe dieser Studie präziser zusammen: Es geht um eine Auseinandersetzung mit der kosmopolitischen Tradition der Antike (Stoa, Cicero) und ihrer Rezeption in der protestantischen Moderne (Hugo Grotius, Adam Smith), in der die Stärken und Schwächen dieses Ideals im Rahmen des von Martha Nussbaum vertretenen Fähigkeits-Ansatzes herausgearbeitet werden. Das Buch bietet keinen systematischen Entwurf, sondern nach einer kurzen Einleitung (Bürger einer Welt: Kapitel 1) sechs Einzelstudien zu Cicero und zum stoischen Weltbürgertum (Kapitel 2 und 3), zu Grotius und Adam Smith (Kapitel 4 und 5) sowie zur Entwicklung der Idee des Kosmopolitismus im Rahmen des Fähigkeitsansatzes für die Gegenwart (Kapitel 6 und 7).
Seit dem Kyniker Diogenes versteht die kosmopolitische Tradition Kosmopoliten als »Bürger der Welt«, orientiert sich also allein an dem, was allen Menschen gemeinsam ist, und nicht an dem, was sie wie Herkunft, Status, Klasse oder Geschlecht voneinander trennt. Das entscheidende Gemeinsame wird von der Stoa und Cicero bis zu Kant und darüber hinaus in der »Fähigkeit zu moralischem Lernen und zu moralischen Entscheidungen« gesehen (8). N. analysiert die Stärken und Schwächen dieser Tradition. Auf der einen Seite ist das Würde-Konzept der Stoa nicht hierarchisch, auf der anderen werden nichtmenschliche Tiere systematisch ausgeschlossen. Das ist der eine Punkt, den sie an der stoischen Tradition kritisiert (Kapitel 3). Der andere ist die Meinung, die »Würde des moralischen Vermögens« sei »in sich selbst vollständig« (11). Wo es nur »Pflichten des Respekts« gibt, wie bei Cicero, und nicht auch »Pflichten zu materieller Unterstützung« (11) von Personen, die dessen bedürfen, werde ein zentraler Aspekt der Ungleichheit zwischen den Menschen fragwürdig vernachlässigt (Kapitel 2). Wir können uns heute nicht mehr wie Cicero auf »Pflichten der Gerechtigkeit« beschränken und den »Pflichten der materiellen Hilfeleistung« nicht das gleiche Gewicht einräumen. Denn wir »sind nicht nur für die Fehler verantwortlich, die wir aktiv begehen, sondern auch für die Missstände, die wir nicht verhindern« (16).
Das Problem setzt sich in der Rezeption der klassischen kosmologischen Tradition in der protestantischen Moderne bei Hugo Grotius (Kapitel 4) und Adam Smith (Kapitel 5) fort. Grotius gibt wie Cicero nicht nur »der einzelnen Nation eine moralische Bedeutung«, sondern betont auch gegen Hobbes, »dass Nationen und ihre Bürger moralische Verpflichtungen gegenüber den Menschen anderer Nationen haben« (18). Er anerkennt über Cicero hinaus neben den Pflichten der Gerechtigkeit auch gewisse »transnationale Pflichten der materiellen Hilfeleistung« (19), aber gerade dieser Aspekt seines Denkens sei in der Rezeption vernachlässigt worden. Adam Smith gehe hier weiter. Er weitet die Pflicht der Nationen zur materiellen Hilfeleistung »insbesondere in den Bereichen Gesundheit und Bildung« auf die ganze Welt aus und entwickelt eine Moralpsychologie, die nicht nur »besondere Bindungen an Familie und Freunde verteidigt«, sondern auch eine positive »Auffassung von Patriotismus« vertritt (20).
In den beiden Schlusskapiteln versucht N., die so kritisch rekonstruierte kosmopolitische Tradition im Rahmen ihres normativen Fähigkeitsansatzes neu zu fassen, indem ihre Stärken gewürdigt und ihre Schwächen vermieden werden. Unter Berufung auf die aristotelische Tradition und den frühen Marx hat sie in den vergangenen Jahren zehn menschliche Grundfunktionen für ein menschenwürdiges Leben zu einem normativen Konzept des guten menschlichen Lebens verdichtet (vgl. Women and Human Development: The Capabilities Approach, New York 2000; Frontiers of Jus-tice: Disability, Nationality, Species Membership, Cambridge, Mass. 2006, Kapitel 6; Creating Capabilities: The Human Development Ap-proach, Cambridge, Mass. 2015). Weil Menschen diese Fähigkeiten nur in einer geeigneten materialen und politischen Umwelt entwickeln können, muss die kosmopolitische Tradition so korrigiert werden, dass die Ausbildung und Ausübung dieser Fähigkeiten möglich wird. In Kapitel 6 beschreibt sie entsprechend fünf Problemfelder, die heute in der internationalen Politik eine Rolle spielen müssen: die Frage der Moralpsychologie, die Pluralität von An­sichten über das beste menschliche Leben, die Schwäche der in­ ternationalen Menschenrechtsgesetze, die materielle Hilfeleistung unter den Nationen und das Problem der Migration. Das größte Problem sieht sie aber in der »Geringschätzung nichtmenschlicher Tiere und der Welt der Natur« (24). In Kapitel 7 legt sie daher dar, inwiefern eine wahrhaft kosmopolitische Politik »auf dem Wert und der Würde empfindungsfähiger Körper basieren [muss], nicht allein auf demjenigen der Vernunft« (25). Und sie betont, dass moralische Pflichten nicht an nationalen Grenzen enden, weil wir »durch Anerkennung und Anteilnahme mit allen anderen Menschen verbunden« sind (25 f.). Deshalb sei die entscheidende Herausforderung heute, die kosmopolitische Tradition auf die nichtmenschlichen Tiere und die Welt der Natur auszudehnen.
N. spricht eine verbreitete Sensibilität unserer säkularen Kultur an, wenn sie mit Nachdruck dafür plädiert, die Menschen als Tiere unter Tieren zu verstehen. In kritischer Wendung gegen die europäische Vernunft- und Moraltradition geht ihr Fähigkeitsansatz vom »Wert und der Würde empfindungsfähiger Körper« aus und wendet sich entschieden gegen die Abwertung von »unvernünftigen Tieren« (25). »Wenn der Mensch Würde hat, dann hat er sie […], weil er über komplizierte Fähigkeiten für ein empfindungsfähiges Leben verfügt, das danach strebt sich zu entwickeln. Aber das gilt auch für andere Tiere« (315). Doch der Verweis auf die Gemeinsamkeit eines empfindungsfähigen Lebens ist keine Antwort auf die Frage nach der Eigentümlichkeit menschlichen Lebens. Es führt auch nicht weiter, Würde undifferenziert mit Wert gleichzusetzen und zu pluralisieren, indem man von »vielen verschiedenen Erscheinungsformen« von Würde spricht (314). Der Fehler ist nicht ein auf den Menschen verengtes Würdekonzept, sondern der Versuch, Würde durch eine Menge von (notwendigen und/oder hinreichenden) Eigenschaften zu definieren, die ein Wesen haben muss, um als Mensch gelten zu können. Wie N. richtig sieht, gerät man damit in ein Dilemma. Wer darauf besteht, »dass zumindest einige menschliche Fähigkeiten vorhanden sein müssen, damit ein Wesen als gleichwertig behandelt werden sollte«, der rechnet damit, dass nicht alle diesen Kriterien genügen. Damit werden aber nicht nur Wesen ausgeschlossen, die keine Menschen sind, weil sie es gar nicht sein könnten, sondern auch solche, die es sein könnten, aber faktisch nicht sind. Auch für N. muss man mindestens »Wahrnehmung, emotionale Fähigkeiten und die Fähigkeit, sich zu bewegen« besitzen, um »den gleichen Respekt« zu verdienen (314). Damit lässt sich vermeiden, eine »Person im Wachkoma oder vielleicht ein Kind mit Anenzephalie« (314) nicht zu würdigen. Aber wenn man alles auf basale Empfindungsfähigkeit reduziert, dann kann man andere Lebewesen – andere Tiere, aber auch Pflanzen – nicht mehr ausschließen. Der Fähigkeitsansatz taugt daher nicht dazu, das gemeinsame Menschliche zu bestimmen: Er schließt immer entweder zu wenige oder zu viele ein. Man muss schon wissen, was Menschen sind, um mit ihm vernünftig arbeiten zu können.
Die Probleme einer auf Vernunft und moralische Selbstbestimmung verengten Konzeption des Menschen lassen sich nicht dadurch überwinden, dass die Konzeption des Menschen um weitere Fähigkeiten angereichert wird. Hatte die Tradition gesagt, der Mensch habe Würde, weil er vernunftfähig ist, so sagt N., er habe Würde, weil er empfindungsfähig sei. Das Erste ist zu eng, weil es »Menschen mit schweren kognitiven Behinderungen« ausschließt (314), das Zweite ist zu weit, weil es nichtmenschliche Tiere einschließt. In beiden Fällen wird Würde über eine Reihe von Fähigkeiten definiert, deren Vorliegen darüber entscheidet, ob jemand oder etwas Würde in diesem Sinn zugesprochen werden kann. Wer solche Fähigkeiten nicht besitzt, verdient keinen Respekt, auch wenn er ein Mensch ist, wer sie besitzt, verdient Respekt, auch wenn er kein Mensch ist.
Das ist eine missbrauchsgefährdete Position. Nicht die Art und Menge der angeführten Fähigkeiten ist das entscheidende Problem, sondern Würde und Respekt an das Vorliegen bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten zu knüpfen. Damit wird Würde im Prinzip »antastbar«, d. h. der ihr gebührende Respekt wird an das Vorliegen von Bedingungen geknüpft, bei denen immer erst zu entscheiden ist, ob sie erfüllt sind oder nicht. Für N. entscheidet der Rekurs auf Fähigkeiten nicht darüber, ob jemand ein Mensch ist, sondern ob er ein Wesen ist, das Würde hat und Respekt verdient. Doch Würde kommt Menschen nicht nur unter bestimmten Be­dingungen zu, sondern unbedingt. Sie hängt am Menschsein und nicht an einer bestimmten Art oder Qualität des Menschseins. N. betont, dass die von ihr angeführten Empfindungsfähigkeiten den Vorteil haben, nicht nur für Menschen, sondern auch für andere Lebewesen zu gelten. Sie nimmt aber ausdrücklich in Kauf, dass Menschen nicht als Wesen mit Würde zu behandeln sind, wenn sie diese Fähigkeiten nicht aufweisen (314). Was auf der einen Seite gewonnen wird, wird auf der anderen verspielt.
Theologie ist gut beraten, solchen Argumenten nicht zu folgen. Menschsein erschöpft sich nicht in den Fähigkeiten, die wir besitzen, sondern schließt auch das ein, was uns an Gutem im Leben zufällt und an Möglichkeiten zugespielt wird, die wir nicht unseren Fähigkeiten zurechnen können. Und Tiere lassen sich nicht erst dann respektieren, wenn man Menschen nicht mehr uneingeschränkt respektiert. Der Fähigkeitsansatz N.s verdankt sich der stoisch-aristotelischen Tradition, auf die er sich stützt. Er betont Wichtiges, aber übersieht Entscheidendes. Theologisch ist er aus ähnlichen Gründen zu würdigen und zu kritisieren, aus denen Luther den Aristotelismus seiner Zeit gewürdigt und kritisiert hat. N. denkt Gleichheit über die Fähigkeiten, die Menschen und andere Lebewesen teilen. Christliche Theologie denkt sie über den Exis-tenzort coram Deo, an dem Menschen und alle anderen Lebewesen existieren und an dem sie ihr Leben auf ihre unterschiedliche Weise leben. Die Anerkennung der Würde der Menschen hängt theologisch nicht an den Fähigkeiten, die sie besitzen, sondern an ihrem Da-Sein und damit ihrem Existenzort vor Gott. Sie werden nicht respektiert, weil sie empfinden können, sondern weil sie Gottes Geschöpfe und damit Adressaten von Gottes Zuwendung und Fürsorge sind. Das ist der entscheidende Grund, sie und alle anderen Geschöpfe in ihrer jeweiligen Eigenart zu respektieren. Ausschlaggebend ist nicht das, was sie können, sondern was ihnen von Gott her widerfährt und geschieht. Menschen verdienen als Adressaten von Gottes Zuwendung gewürdigt zu werden, und zwar auch dann, wenn sie die Fähigkeiten nicht oder nicht mehr aufweisen, ohne die es für N. keine guten Gründe gibt, sie gleichwertig zu behandeln. Entsprechendes gilt von allen anderen Lebewesen. Sie verdienen unseren Respekt als Gottes Geschöpfe, und dieser Respekt steht nicht unter dem Vorbehalt ihrer Empfindungsfähigkeit oder irgendeiner anderen Bedingung, die sie zu erfüllen hätten, damit sie ein Recht hätten, von uns respektiert zu werden, oder wir eine Pflicht, sie zu respektieren.