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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

948–951

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Lange van Ravenswaay, J. Marius J., u. Herman J. Selderhuis[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Renaissance und Bibelhumanismus.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 376 S. m. 11 Abb. = Refo500 Academic Studies, 65. Geb. EUR 100,00. ISBN 9783525564790.

Rezensent:

Markus Wriedt

In rascher Folge publiziert das reformationsgeschichtliche Netzwerk Refo500 unter der Leitung von Herman J. Selderhuis seit 2011 zahlreiche Sammelbände mit Dokumentationen von Tagungen und wissenschaftlichen Monographien. Die inzwischen auf 65 Bände angewachsene Reihe variiert in Qualität und thematischer Konzentration. Mit dem jetzt vorgelegten Band wird eine vom 14.–16. September 2016 an der Johannes a Lasco-Bibliothek in Emden abgehaltene Tagung aus Anlass der 500. Wiederkehr des Erscheinens von Novum Instrumentum von Erasmus bei Froben in Basel dokumentiert. Bereits 2016 hatten Martin Wallraff, Silvana Seidel Menchi und Kaspar von Greyerz in der Reihe »Spätmittelalter, Humanismus und Reformation« (Bd. 91) einen eindrücklichen Sammelband zu dieser, eine Zäsur in der Geschichte der Bibelauslegung markierenden Ausgabe des Fürsten der deutschen Humanisten veröffentlicht. Die Tagung in Emden geht über den thematischen Brennpunkt des Ereignisses hinaus und thematisiert »Renaissance-Humanismus. Bibel und Re­formbewegungen des 15. und 16. Jh.s und ihre Bedeutung für das Werden der Reformation«. Die in Verbindung mit der Freien Universität Berlin, der Universität in Göttingen und der Melanchthon- Akademie, die häufiger schon zu Partnern der Aktivitäten des Refo500 Netzwerkes zählten, durchgeführte Tagung vermeidet zwar thematisch den Begriff des »Vor-Reformatorischen«, richtet aber dennoch den Blick auf die geistlichen und theologischen Phänomene des Spätmittelalters und ihre Bedeutung für die Entwicklung der Reformation. Dass dabei der Bibel eine zentrale Bedeutung zukommt, dürfte kaum bezweifelt werden. Allerdings wird die Problematik einer von der Reformation aus rückwärtsgewandten Sicht auf die Bibelauslegung des Spätmittelalters nicht traktiert und in ihrer hermeneutischen Tragweite auch nicht erkannt.
In drei thematischen Blöcken behandeln insgesamt 15 Autoren Aspekte des Bibelgebrauchs und seiner Auswirkungen auf Frömmigkeit, Spiritualität und akademische Lehre. Der erste Teil, mit »Bibel und Exegese« überschrieben, thematisiert vor allem humanistische Ansätze zur Schriftauslegung. Allen Beiträgen ist dabei der Bezug zur Bibelexegese gemeinsam, aber das im Buchtitel angeführte, von Helmar Junghans einstmals für die Erfurter Humanisten am Beginn des 16. Jh.s geprägte Schlagwort »Bibelhumanismus« wird dabei nicht reflektiert. Es geht mehr um Beiträge zu humanistischen Gelehrten und ihrer Aufnahme der Bibel.
Jan-Hendryck de Boer untersucht unter dem Stichwort »riskanter Humanismus« Reuchlins Auseinandersetzung mit den Gegnern und Bestreitern seiner Beschäftigung mit hebräischen Texten. Allerdings steht die Affäre um die »Dunkelmännerbriefe« nicht im Zentrum, sondern Überlegungen zu einer weiteren Klassifizierung des Humanismus als »hegemonial«. Dazu greift de Boer auf die Theorien von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe sowie deren Rezeption von Antonio Gramscis Überlegungen zurück. Die Quelleninterpretation wird nun im Licht von tatsächlichen oder unter stellten Vormachtbestrebungen geleistet. Diese Re-Lektüre be­kannter Texte mit einer bisher wenig berücksichtigten Theorieüberlegung ist inspirierend und innovativ. Ob sie überzeugt, wird allerdings der weitere Diskurs erst zeigen. Auch Saverio Campanini beschäftigt sich mit den Hebräisch-Studien von Humanisten und fragt, ob der christliche Hebraismus eine Folge renaissance-humanistischer Quellenerschließungen war. Sein negatives Ergebnis lautet: »Not much is left, in the XVII century and later centuries, of the humanistic ideal of integrating Hebrew in the classical language canon, nor of the project of including the Hebrew Bible in the library of the layman, Humanism and Renaissance found precisely on the threshold to Hebrew language and Jewish culture an unassailable firewall.« (50) Zu einer anderen Einschätzung gelangt Matthias Dall’Asta, der »Reuchlins Beitrag zur Lektüre der Bibel« untersucht und hierbei ebenfalls bis ins 17. und 18. Jh. ausgreift, um die wohlmeinende und hochschätzende Rezeptionsgeschichte des hebräischkundigen Humanisten zu rekonstruieren. Chronologisch die Reihe der Beiträge aufsprengend rekonstruiert Bernhard Huss »Heilige Schrift und paganer Text in Francesco Petrarcas De otio religioso«. Die in diesem Text performierte humanistische An­eignung in Form der imitatio führt dazu, dass er den Bibeltexten eine hohe Autorität als Vorbild beimaß. Das wiederum erlaubte es ihm, die Schrift insgesamt zu einer artes-Lehre mit eigentümlicher Hochschätzung von Bibel und Kirchenvätern auszuarbeiten. Die »Herkunft und Wirkungen eines humanistischen Schlagwortes« untersucht Olivier Millet am Beispiel der bekannten Formel ad fontes. Er erkennt das Jahr 1516 als »Drehjahr« (113) – Wendepunkt? – für den Gebrauch des gelehrten Slogans. Besonders Erasmus ist es, der eine Intensivierung der philologischen Bearbeitung des Literalsinnes von Bibelzitaten bewirkt und die Klarheit der Schrift vor allem in dieser Dimension der Exegese zum Ursprungsort spiritueller Deutungen werden lässt. Dass sich auf dieser Basis dennoch der einsetzende konfessionelle Streit um die Deutungshoheit von Bibeltexten nicht entscheiden lässt, erläutert Christoph Schönau in seinem Beitrag »Jacques Lefèvre d’Etaples und die Bibel. Die Auseinandersetzung mit Erasmus um die Auslegung von Hebr. 2,7«. Die interessante Studie gibt einen Einblick in die in der Literatur immer noch häufig vorgetragene Identifikation französischer Hu­manisten mit reformatorischem Gedankengut. Zumindest in der Rezeption des Œuvres von Faber Stapulensis wird man erkennen, dass er auch humanistisch gesonnenen Luthergegnern als Ge­währsmann diente.
Der zweite thematische Schwerpunkt der Beitragssammlung beschäftigt sich unter der Überschrift »Kirche und Spiritualität« mit der geistlichen Anwendung von Bibellektüren. Zunächst un­tersucht Mathilde van Dijk die Praxis der Bibelstudien in der Frömmigkeitsbewegung der Devotio Moderna. Ihr wurde eine cha-rakteristische Schriftlektüre unterstellt, die nun exemplarisch nachgewiesen wird. Die zentrale Bedeutung der Bibel für das Gemeinschaftsleben der Laienbewegung kann dabei herausgearbeitet werden. Die Frage nach der Schriftrezeption in den Jahren der frühen Reformation untersucht Suzan Folkerts anhand einer Rekonstruktion der Produktion und Verwendung niederländischer Bibeldrucke. Deren sprachliche Vielfalt in den niederdeutschen und mittelniederländischen Dialekten erlaubte eine ebenso vielfältige Lesepraxis. Dabei verweist die Autorin gleichermaßen auf den kirchlichen wie den häuslichen Gebrauch. Die kulturwissenschaftlich initiierte Frage nach den Räumen, in denen die Bibellektüre ihren Ort fand, nimmt Margriet Hoogvliet auf, wenn sie das sozialgeschichtlich adaptierte Raum-Paradigma auf die Lesegewohnheiten im vorreformatorischen Amiens untersucht. Der Beitrag kommt zu dem Ergebnis, dass es zahlreiche, unterschiedliche Räume für eine alltagspraktische Übung von Bibellektüren gab, die insbesondere dem Laienpublikum dazu Möglichkeiten bot. Dass diese Übung später aufgegeben wurde, ist wohl auch der staatlichen Kontrolle von reformatorischen Aufbrüchen und der altgläubigen Gegenreaktion zu verdanken.
Der dritte und letzte Teil behandelt schließlich insgesamt sechs Beiträge mit akademisch-universitätsgeschichtlichem Kontext in einer Zusammenstellung, die weder systematische noch historiographische Kriterien erfüllt. Benedict Fischer, Wim François, Antonio Gerace und Luke Murray untersuchen die katholische Exegese in ihrer Verbindung zum »biblischen Humanismus« – der Ausdruck ist nicht völlig kompatibel zum im Titel verwendeten Begriff »Bibelhumanismus«. Die Zeit zwischen 1550 und 1650 wird von ihnen als das »Goldene Zeitalter« der römischen Bibelauslegung charakterisiert. Der umfangreiche, höchst lesenswerte Beitrag analysiert die Verbindungen von frühen Formen historisch-kritischer Exegese und deren Auswirkungen auf die Ausbildung von kirchlichen Lehren in der Folge des Konzils von Trient. Dass in der zweiten Hälfte des 17. Jh.s dann erneut dogmatische Vorgaben die Dominanz über die exegetische Arbeit erlangten, lässt mannigfaltige Konflikte besser verstehen. Die Verbindung von Exegese und Dogmatik untersucht auch Mark W. Elliott am Beispiel von John Wycliff, dessen Auslegung des Neuen Testaments und deren Auswirkung auf die spätmittelalterliche Ekklesiologie. Er vermag einerseits das Scheitern der durch Wycliff initiierten Reformen zu beleuchten und wählt die Aufnahme etlicher Lehren des englischen Theologen in reformatorischen Positionen als Nachweis für eine wirkungsgeschichtliche Kontinuität. Riemer Faber interpretiert das Novum Instrumentum von Erasmus als initium einer Entwicklung, die mittelfristig zu einer reformatorischen Bibelinterpretation führt. Freilich betont er im deutlichen Kontrast zu dieser analogen These der Erasmusforschung zu Beginn des letzten Jh.s die Selbständigkeit des Ansatzes und die Eigenständigkeit von Erasmus als Theologe. Günter Frank untersucht Positionen zur Anthropologie im Wechselspiel zwischen Humanismus und Reformation am Beispiel der einschlägigen Aussagen von Georgios Gemistos Plethon, Marsilio Ficino, Giovanni Pico della Mirandola sowie Erasmus von Rotterdam auf der Seite der Humanisten und Martin Luther, Johannes Calvin sowie Philipp Melanchthon auf reformatorischer Seite. Den Abschluss bildet ein knapper Ausblick auf das Konzil von Trient. Letzteres leistet Frank zufolge den Ausgleich zwischen der positiven Anthropologie der Humanisten im Unterschied zur pessimistischen Sicht des Menschen bei den Reformatoren. Diese These dürfte während der Konferenz zu einigen Diskussionen geführt haben. Volker Leppin skizziert Entwicklungen der akademischen Schriftauslegung zwischen Spätmittelalter, Humanismus und Reformation am Beispiel der Psalmen- und Römerbriefauslegung von dem exegetischen Standardwerk der Glossa Ordinaria bis zu Martin Luther. Auch wenn sein Beitrag nurmehr exemplarische Bedeutung hat und aufgrund mangelnder Forschung noch nicht zu generalisierenden Aussagen Anlass geben sollte, ist zu erkennen, dass die klassischen Frontlinien zwischen einer verderbten spätmittelalterlichen Auslegung und der katalysatorischen Wirkung des Humanismus für die Reformation in der Schärfe keinen Bestand haben. Leppin wird nicht müde, seine These von der bestehenden Kontinuität in den theologiegeschichtlichen Entwicklungen auch hier mit treffenden Argumenten vorzutragen. Ueli Zahnd beschließt den Reigen der Beiträge zu diesem Abschnitt mit acht Thesen zur akademischen Theologie des ausgehenden Mittelalters. In ihnen greift er etliche Aspekte der Vermessung des Feldes »spätmittelalterlicher Theologie« auf und nivelliert scharfe Differenzen etwa im Blick auf den Wegestreit zwischen via antiqua und via moderna, der Bedeutung der philosophischen Grundlegung theologischer Argumentation, die große Vielfalt scholastischer Lehrmeinungen und die grundlegend pädagogisch-pastorale Dimension der akademischen Lehre. Auch wenn das 14. und 15. Jh. im ökumenischen Konsens in der Regel negativ bewertet werden, sieht er gute Gründe die mittelalterliche Spätscholastik nicht als Negativfolie, sondern als produktiven Grund der frühen Neuzeit zu interpretieren. Dabei hebt er noch einmal eindringlich hervor, dass die Bibelauslegung nicht zu den Hauptaufgaben der akademischen Elite im Zeitalter der Spätscholastik gehört.
Wer schon einmal eine Konferenz zu einem Thema mit Übersichtscharakter veranstaltet hat, weiß, wie schwierig es ist, zwischen den Beiträgen einen inneren Bezug und eine kohärente Bearbeitung des Tagungsthemas zu bewirken. Greift man zu stark ein, verliert man Referentinnen und Referenten. Lässt man die Themen kaleidoskopartig nebeneinander bestehen, ist der Eindruck von Willkür und einer gewaltsamen Zusammenstellung nicht immer zu vermeiden. Das ist auch im vorliegenden Band der Fall. Aufgrund so mancher der vorgetragenen Thesen wäre der Rezensent – und nicht nur er – gern Zeuge der durch die Vorträge angeregten Diskussionen gewesen. Eine Dokumentation dieses für den Erfolg einer Konferenz besonders wichtigen Kommunikationsgeschehens fehlt leider. Das kann auch eine Besprechung nicht nachholen, obwohl so manche Positionierung reichlich Anlass zu kritischen Gegenfragen oder auch -positionen gibt. Das müssen jetzt die Leserinnen und Leser unter sich ausmachen. Auch wenn der Anlass des Kolloquiums immer wieder aus dem Blick gerät, sind doch etliche Beiträge von hohem Wert und verdienten eine intensive Lektüre und weiterführende Diskussion.