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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

940–944

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Chappel, James

Titel/Untertitel:

Catholic Modern. The Challenge of Totalitarian-ism and the Remaking of the Church.

Verlag:

Cambridge u. a.: Harvard University Press 2018. 352 S. Geb. £ 25,95. ISBN 9780674972100.

Rezensent:

Michael Seewald

James Chappel (C.), der als Associate Professor of History an der Duke University in Durham lehrt, legt unter dem Titel Catholic Modern eine »transnational intellectual history of the Catholic laity from the 1920s to the 1960s, focusing on France, Germany, and Austria« (5) vor.
Unter dem Begriff der Moderne fasst C. sowohl Merkmale, die der Differenzierungstheorie entnommen sind (»the split between the public sphere of politics and the private sphere of religion« [2]), als auch normative Aspekte (how did Catholics »come to embrace religious pluralism, human rights, and the secular state as positive goods – and not only as brute facts to be grudgingly accepted?« [3]). C. beabsichtigt kein Modernisierungsnarrativ im Sinne eines »simple process of conversion« (16) der katholischen Kirche zur Moderne zu erzählen, sondern die Haltung katholischer Laien in Frankreich, Deutschland und Österreich gegenüber jenen Charakteris-tika, die C. als spezifisch modern qualifiziert, als einen »fractured process« (16), der verschiedene »modernist strategies« (9) hervorgebracht habe, zu untersuchen. Für seine Fokussierung auf die ge­nannten Länder gibt C. zwei Gründe an: Das Gedankengut der dortigen Laien »was replicated elsewhere, even if it did not happen in just the same way or at the same time. For another, the ideas birth-ed in France, Germany, and Austria are the ones that ended up becoming dominant in the Church. Until the 1960s, intellectual innovation in the Church tended to come from Europe, and especially from these three countries.« (8)
Die Arbeit gliedert sich in eine Einleitung und sechs Kapitel. Nach begrifflichen und methodologischen Klärungen stellt C. im ersten Kapitel zwei Theorien vor, die den Zeitraum zwischen 1920 und 1929 exemplarisch abdecken sollen: den »Neomedievalism« (26) und den »Ultramodern Catholicism« (40). Die folgenden beiden Kapitel widmen sich der Zeit zwischen 1929 und 1944, allerdings aus unterschiedlichen Perspektiven. Das zweite Kapitel behandelt jene Strömungen, die C. als »Paternal Catholic Modernism« (59) bezeichnet, das dritte Kapitel beschäftigt sich mit von C. »Fraternal Catholic Modernism« (108) genannten Ansätzen. Das vierte Kapitel untersucht die Entstehung christdemokratischer Bewegungen zwischen 1944 und 1950, das fünfte Kapitel zeichnet die Entwicklung der Christdemokratie »in the Long 1950s« (182) nach. Abschließend skizziert C. unter der Überschrift »The Return of Heresy« (227) das erneute Aufbrechen der Konflikte zwischen paternalistischem und fraternalistischem Modernismus.
Die Grundthese des Buches besagt, dass der Antimodernismus, der katholisches Denken in den 1920er Jahren geprägt habe, in den 1930er Jahren einem Antitotalitarismus gewichen sei, der entweder eine stärker antikommunistisch geprägte, paternalistische Ausrichtung oder eine vorwiegend antifaschistische, fraternalistische Stoßrichtung angenommen habe. Die historische Bedeutung der christdemokratischen Bewegung bestehe nicht nur darin, dass sie Katholiken und Protestanten eine gemeinsame politische Heimat angeboten, sondern auch darin, dass sie die beiden genannten Strömungen innerhalb des Katholizismus integriert und befriedet habe. Diese Synthese sei in den späten 1960er Jahren auseinandergebrochen, was eine Wiederaufnahme der Frontstellungen zwischen vorwiegend hierarchieorientierten, antikommunistisch ausgerichteten Strömungen und stärker sozial-egalisierend, antifaschistisch denkenden Gruppen innerhalb der katholischen Kirche mit sich gebracht habe.
Für die 1920er Jahre bescheinigt C. den Katholiken einen »sense of temporal dislocation« (23), der in Gestalt einer »medievalist premodernity« oder einer »prophetic ultramodernity« die Suche nach einer »proper Catholic alternative to modernity« (25) in Gang gesetzt habe. Während Georg Moenius als Vertreter des »Neomedievalism« (26) seine Demokratieskepsis und seinen Antisemitismus – »Moenius’s general anxieties about the Republic, his nostalgia for older forms of political economy, and even his anti-Semitism were widely shared in Catholic Germany« (31) – in einer idealisierten, vormodernen Vergangenheit verankert gesehen habe, verfolgten die von C. als ultramoderne Katholiken bezeichneten Denker (wie Waldemar Gurian) das Ziel, die Moderne nicht rückwärts-, sondern utopisierend vorwärtsgewandt zu überwinden. Dabei sei en sie zwar »either indifferent or actively hostile to liberal democracy« (47) gewesen, aber nicht antisemitisch. Mit der Wahrnehmung des Kommunismus als einer Gefahr für die katholische Kirche und dem Aufkommen des Faschismus seien die Sehnsüchte nach einer Vor- oder einer Ultramoderne dem Bewusstsein gewichen, dass die Kirche sich antitotalitär – was je nach Kontext bedeutet: antikommunistisch oder antifaschistisch – auszurichten habe. »Both answers«, sowohl der katholische Antikommunismus als auch der katholische Antifaschismus, »were modern, both were explicable from within the ressources of the Catholic tradition, and both pushed the Church toward new kinds of alliances.« (63)
Den antikommunistischen Affekt innerhalb der Kirche betrachtet C. als mit größerer lehramtlicher Rückendeckung ausgestattet als die katholische Abgrenzung vom Faschismus oder vom Nationalsozialismus. »While Divini Redemptoris, the 1937 anti-Communist encyclical, offered a sweeping denun­ciation of Communism in the universal language of Latin, its anti-Nazi corollary of the same year, Mit brennender Sorge, was written in German and was directed specifically to a German audience. It did not condemn Nazism as such, restricting itself to a criticism of Nazi excesses and violations of Church privileges.« (63) Entsprechend stark seien die Spuren, die der Antikommunismus in der katholischen Kirche hinterlassen habe. Diese bestehen vor allem in der Forderung nach Abwehrrechten, die die Privatsphäre, in der die Religionsausübung laut C. in der Moderne verortet werde, vor Eingriffen des Staates schütze. »If the state would not itself be Catholic, and if religion would in some sense have to be restricted to the private sphere, then the task for the state was to protect that private sphere. Catholics, therefore, began to use a new set of concepts to rigorously delineate the private sphere into which the state could not intrude: human rights, human dignity, religious freedom, and antitotalitarian-ism.« (61) Das soziale Bollwerk, das – nach Suspension der Theorie, dass der gute Staat ein bekennend katholischer sein müsse – gegen den säkularen Staat und zugleich von diesem verteidigt werden müsse, sei die auf Reproduktion angelegte Kernfamilie. In der sozialen Idealisierung und theologischen Aufladung der so bestimmten, christlichen Familie erblickt C. das zentrale Merkmal des antikommunistischen, paternal-katholischen Modernismus. »The mainstream Catholic modernism of the 1930s defined the private sphere – the space of religion – in terms of reproductive families: a unit that included a working father and a stay-at-home mother, married in the Church and bound by Catholic law to regulate sexuality and divorce, duty bound to procreate for their Church and their fatherland alike. Catholics were still interested in having their own institutions wherever possible, most notably schools and clergy-led Catholic Action organizations. But in the last instance, they tended to see the nuclear family as the last redoubt of social virtue, and the institution to be protected above all else.« (64) Zur Förderung der Kernfamilie seien Katholiken sowohl in Deutschland als auch in Österreich und Frankreich Allianzen mit nationalistischen, teils auch faschistischen Kräften eingegangen, sofern diese Wohlfahrtsregime mit besonderer Förderung der reproduktiven Kernfamilie errichteten und die organisationalen Rechte der Kirche respektierten.
Neben dem Antikommunismus habe sich jedoch auch eine vornehmlich antifaschistische Spielart des Antitotalitarismus entwickelt, die C. als »fraternal Catholic Modernism« bezeichnet. C. nennt beispielhaft Walter Dirks, Paul-Ludwig Landsberg oder Jacques Maritain, dessen Humanisme intégral »the clearest statement of fraternal Catholicism« (111) bilde, als Vertreter dieser Denkrichtung. Der fraternal-katholische Modernismus sei bereit gewesen, »to work with Marxists in order to found a common front against fascism, the greatest enemy of all.« (111) Auch in der Bewertung von Familie, Ehe und Sexualität seien andere Akzente gesetzt worden. »While fraternal modernists did not question fundamental Catholic teachings on divorce, abortion, or contraception, they did focus less on them, and they did seek to dethrone reproduction from its central-ity in the Catholic family imagination. As Landsberg pointed out, an obsessive focus on reproduction in practice led Catholics into alliance with fascists, concerned for their own reasons with raising the birthrate. Therefore, in place of reproduction and child-rearing, fraternal modernists focused on the marriage as a sacramental community of solidarity, love, and desire.« (115)
Beide Spielarten des Antitotalitarismus in der Kirche seien nach dem Zweiten Weltkrieg von den christdemokratischen Bewegungen und Parteien integriert worden, die – da der Faschismus in Westeuropa (außer auf der iberischen Halbinsel) einerseits besiegt war, andererseits jedoch eine neue Blockbildung folgte – stark antikommunistisch geprägt gewesen seien, denen es aber vor allem sozialpolitisch gelungen sei, die fraternalistischen Kräfte zu integrieren. Letztere haben, wie die starke Rezeption des Denkens Jacques Maritains in den 1950er und 1960er Jahren zeige, beträchtlichen Einfluss auf die Theologie und die intellektuelle Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils ausgeübt. »The collapse of Christian democratic modernism led to the revival of the old conflicts of the 1930s and 1940s, as fraternal and paternal modernism emerged once again.« (20) Dabei habe die kirchliche Abwehrreaktion gegen die Sexuelle Revolution, die soziale Verbreitung von Scheidung und Wiederheirat sowie die (zumindest strafrechtliche) Dekriminierung gleichgeschlechtlicher Sexualität den paternalen Modernismus, der sich als Bollwerk gegen diese Tendenzen anzubieten schien, begünstigt. »Catholics organized with great success around family matters, reasoning that the healthy family is the primary building block of the healthy society. The sphere of family and reproduction, they insist, falls under religious jurisdiction […]. This is the paradigmatic approach of paternal modernism, one shared by Pope John Paul II, and one that has enormously shaped the political intervention of the Church since the late 1960s.« (20)
C. hat eines der originellsten Bücher geschrieben, die über den Katholizismus des 20. Jh.s in jüngerer Zeit erschienen sind. Dieses Werk ist nicht nur kultur- oder kirchengeschichtlich, sondern auch aus systematisch-theologischer Perspektive interessant. Wer wissen möchte, wie es geschehen konnte, dass die Identitätsmarker des Katholischen, die in den vergangenen Jahrzehnten lehramtlich gesetzt wurden und von auf Rechtgläubigkeit pochenden Katholiken bis heute als articuli stantis et cadentis ecclesiae aggressiv verteidigt werden, allesamt um Fragen von Sexualität und Geschlechterrollen kreisen – man denke an die Positionierung zur Frauenordination, zum Gebrauch von Verhütungsmitteln, zum Verhältnis von ehelicher Liebe und Fortpflanzung, zu Scheidung und Wiederheirat oder zur Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften –, wird in diesem Buch Antworten finden. C. gelingt es, die »intellectual history« katholischen Denkens mit lehramtlichen Entwicklungen des 20. Jh.s überzeugend zu verbinden. Während Leo XIII. 1880 in seiner Familienenzyklika Arcanum über die Nachkommenschaft in der Ehe nur zu sagen wusste, dass Kinder katholisch erzogen werden und ihren Eltern gehorsam sein sollten, die Rolle des Staates aber »purely negative« (70) dahingehend bestimmte, dass der Staat und seine Gesetzgebung sich aus Fragen der Ehe heraushalten müssen, setzte Pius XI. 1930 in Casti connubii den reproduktiven Aspekt in das Zentrum seines Familienverständnisses und definierte den guten Staat dahingehend, dass dieser die Familie, die der Schlüssel seines Wohlergehens sei, aktiv fördern müsse. Wie sehr die gegenwärtige »Hierarchie der Wahrheiten« das Resultat eines, mit Peter L. Berger gesprochen, typisch modernen Imperativs zur Häresie im wörtlichen Sinne darstellt, skizziert C. in scharfsinniger Weise. Erst in den späten 1920er Jahren »did it become obvi-ous that Catholic law should apply in questions of sexuality, marriage, and reproduction, but not directly in questions of commerce or politics. Catholics called on the state to ban contraception, while presuming that Catholic doctrines of usury, private property, or trade union liberty were open to negotiation. Catholics called on the state to ban divorce, too, while abandoning the traditional insis-tence that the state publicly commit itself to Christ.« (66) Während manche Lehr- und Traditionsgehalte katholischen Denkens stillschweigend aufgegeben wurden, bestand der »paternal Catholic modernism« gleichzeitig umso nachdrücklicher auf anderen und gruppierte dadurch den Fokus kirchlicher Aufmerksamkeit »around the putatively private spaces of the body and the home« (66).
Trotz der überzeugenden Gesamtdarstellung besitzt das Buch ein Manko: Manche Begriffe werden nicht hinreichend definiert oder leichtfertig verwendet. Dafür, dass sowohl »Moderne« als auch »Totalitarismus« im Titel des Buches vorkommen und es zu beiden Termini ausgedehnte Forschungsdebatten gibt, hält C. sich er­staunlich kurz mit der Klärung dieser Begriffe auf – zumal die Rede von einem »Catholic modernism« im Kontext der Modernismuskrise, die sich im Pontifikat Benedikts XV. (in dem das Buch ansetzt) zwar beruhigt hatte, aber noch nicht ausgestanden war, besonders delikat erscheint. Auch der Begriff des Dogmas wird theologisch nicht konzise verwendet. Was soll ein »corporatist turn in papal dogma« (79) sein? Sätze, wie »Since the origin of the Church, Catholics have been divided over how to interpret their faith, and this is no less true in the age of modern Catholicism« (4), scheinen vorauszusetzen, dass es zu Beginn des Christentums bereits Katholiken im konfessionellen Sinne gab.
Theologisch bewanderten Lesern, die sich von solchen Lapsus nicht abschrecken lassen, wird in diesem gelehrten Buch ein hoch origineller und für gegenwärtige Diskussionen äußerst aufschlussreicher Blick auf die Geschichte des katholischen Denkens im 20. Jh. geboten.