Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

938–940

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Brauer, Karl

Titel/Untertitel:

Für die Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche. Eugen Gerstenmaiers religiöse und theologische Entwicklung im Spannungs- und Handlungsfeld von Kirche und Staat bis 1945.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. 540 S. m. 8 Abb. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, 76. Kart. EUR 100,00. ISBN 9783525564912.

Rezensent:

Helmut Goerlich

»Es besteht keine Staatskirche«, lautet der schlichte Satz der Weimarer Reichsverfassung von 1919 – ein Satz, der bis heute unter dem Grundgesetz fortgilt. Der allmähliche Prozess insbesondere der evangelischen Landeskirchen, die ja Staatskirchen gewesen waren, hin zu einem angemessenen Verständnis dieses säkularen Rechtssatzes lässt sich auf verschiedene Weise nachzeichnen. Eine Variante liegt hier vor: eine mehr oder weniger auch intellektuelle Biographie eines Kirchenmannes und späteren Politikers, nämlich von Eugen Gerstenmaier. Besonders reizvoll ist diese Alternative dadurch, dass er in Zeiten extremer Umbrüche lebte und in den Widerstand gegen das Dritte Reich fand, und zwar aufgrund früher Erfahrungen als Student, besonders während seiner Semester in Rostock in den ersten Jahren dieses Regimes.
Nach einer Einleitung macht die Schrift von Karl Brauer – eine Dissertation der Philosophischen Fakultät an der Universität zu Köln – zunächst grundlegende Ausführungen zur religiösen Sozialisation Gerstenmaiers, danach zu seiner familiären Sozialisation sowie dann auch zu seiner religiösen Verwurzelung, an die ein Abschnitt zur Jugendbewegung und der auch durch sie bewirkten religiösen Befreiung anschließt. Diese Schritte sind notwendig, will man die Emanzipation eines Schwaben aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, eingebettet in den spezifischen Pietismus Württembergs, hin zu einem Theologiestudium auf dem zweiten Bildungsweg, d. h. nach einer kaufmännischen Ausbildung, verständlich machen. Das geschieht umso mehr, indem die Bedeutung der Literatur für einen Wanderer auf diesem vermutlich oft einsamen Weg hervorgehoben wird, beginnend mit der selbständigen Entscheidung als Wahlbürger für die Weimaer Republik. Gerstenmaier entwickelte einen Sinn auch für sozialistische, mit dem Proletariat solidarische Autoren, dann auch – in Schwaben damals noch häufig – mit einer Wahrnehmung der weltbürgerlichen Perspektive des Landsmanns Friedrich Schiller, danach aber auch mit dem Abgesang der preußisch-deutschen »Kultur« im Gegensatz zur westlichen »Zivilisation« bei Oswald Spengler. Das Buch sieht diese Lektüre zugleich begleitet vom Rat eines Freundes der Familie, eines Altphilologen, das Abitur nachzuholen und sich so für ein Studium zu qualifizieren.
Das Studium zunächst in Tübingen, danach in Rostock und dann in Zürich, ergänzt durch ein ökumenisches Seminar in Genf, nahm nicht nur seinen Lauf, es führte auch zur Begegnung mit akademischen Lehrern sowie anderen Persönlichkeiten, und es führte auch in Konfliktlagen, die zu Stellungsnahmen und da­durch auch zu Erfahrungen auf dem Weg zu einer Emanzipation der Kirchen von staatlichen Strömungen, die von vielen zunächst noch zustimmend aufgegriffen wurden, in den Kirchen und von ihren Amtsträgern. Das spiegelte sich für Gerstenmaier in einer Frontstellung gegenüber einem Kommilitonen, der das Christentum dem Nationalsozialismus unterwerfen wollte, dann in einer Stellungnahme zugunsten der »Freiheit und Unabhängigkeit der Kirche«, die in ein »Hände weg von der Kirche« mündete; und das in einer Zeit, in der sich der Versuch anbahnte, die Kontrolle über die Kirchen durch die »Deutschen Christen«, einen Reichsbischof und eine Amtsenthebung auch deutschnational gesonnener Bischöfe wie Wurm in Württemberg und Meiser in Bayern zu etablieren. Die Bischöfe besaßen hinreichende Unterstützung in ihren Kirchen, so dass diese Schritte des Regimes scheiterten. Das führte auch dazu, dass Gerstenmaier schon als Student die Diffamierung kirchlichen Handelns als solche wahrnahm und sich den Rücktrittsforderungen gegenüber dem Reichsbischof aus Rostock und Erlangen an­schloss. Diese Erfahrungen führten gegen Ende des Studiums auch zu einem vertieften theologischen Verständnis, dann in das verkürzte Vikariat und wirkten über die Ordination hinaus. Als weitere Erfahrung der Distanz zum nationalsozialistischen Staat wird man den Kampf um eine Dozentur sehen können, der damit en-dete, dass der Weg zur akademischen Lehre in der Systematischen Theologie dem engagierten jungen Wissenschaftler Gerstenmaier über die Teilnahme an einem »Dozentenlager« verlegt wurde, eine Erfahrung, die auch in anderen Fächern nicht so selten war, man denke etwa an die Schüler Georg Maier, der umkam, und Ludwig Raiser, der überlebte, sowie den Zivilrechtler Martin Wolff in Berlin, der entlassen wurde und emigrierte.
Nach diesen Stationen der Konfrontation mit dem neuen Staat lag es für Gerstenmaier nahe, sich weiterhin auf der durch die Studien in der Schweiz zugänglich gewordene internationale Ebene kirchlichen Wirkens zu begeben. Innerhalb Deutschlands bot sich dafür das neu eingerichtete Kirchliche Außenamt als Basis an. Es war zwar eine Schöpfung der Versuche der Zentralisierung der kirchlichen Einrichtungen im Reich, aber es konnte zugleich zur Basis von Kontakten zu den Kirchen in der Welt werden, die sich zum jeweiligen Staat in Distanz befanden. Dem entsprach, dass dieses Amt auch dazu dienen sollte, evangelische Kirchen außerhalb Deutschlands an den neuen Staat zu binden, andererseits sollte es diese Kirchen stützen, auch wenn diese keineswegs solcher Bindungen bedurften. Für Bedienstete in diesem Außenamt be­stand die Gefahr, zwischen Staat und Kirche in eine Doppelrolle zu geraten, was aber bei Gerstenmaier sicherlich die im Studium gewonnene Sympathie für eine deutliche Distanz zum Staat stärkt e. Eingehend wird dazu die Entstehung des Reichskirchenmi-nisteriums geschildert, ebenso wie des kirchlichen Außenamts unter Theodor Heckel und die Erfahrungen der Einheit der Kirche im Sinne einer christlichen Kirche durch die Teilnahme an ökumenischen Konferenzen in Chamby und in Oxford sowie aufgrund ambivalenter Missionen, teils nämlich auch im Auftrag des Auswärtigen Amtes des Staates in England und Skandinavien. Die eigene Glaubwürdigkeit stand so des Öfteren auf dem Spiel, zumal in Kontakten zur Orthodoxie als Teil der Kirchendiplomatie oder im Falle von Veröffentlichungen. Für den Hintergrund der Emanzipation vom diese Probleme auslösenden Staat sprechen die eingehenden Schilderungen des Buches im Laufe der Zeit. So ist es kaum mehr erstaunlich, dass Gerstenmaier über einen kirchlich motivierten Widerstand zu dessen politischen Varianten vorstieß. Zu­nächst ergab sich ein innerer Zwiespalt, ob man sich in diese Situa tion begeben sollte, dann aber eine konsequente Entscheidung, insbesondere zugunsten ziviler Ansätze für Widerstand für die Zeit »danach«. Das führte zur Arbeit an einer Denkschrift des Widerstandes für die britische Regierung zusammen mit den Diplomaten Adam von Trott zu Solz und Hans Bernd von Haeften, die beide dem Kreisauer Kreis angehörten, zu dem Gerstenmaier als »Mann von Wurm«, d. h. des Landesbischofs von Württemberg, fand. In diesem Kreis wurden wie gesagt Überlegungen für die Zeit nach dem Regime angestellt, was unvermeidlich wiederum auch die Frage des Verhältnisses der Kirche zum Staat aufwarf. Zugleich war das klassische Thema des Tyrannenmords damit Gegenstand, unabhängig von der Kritik aus anderen Gründen, etwa denen des älteren Bruders von Trott, Werner von Trott zu Solz, der von dieser Tat abriet, weil sie nach seiner Sicht eine neue Dolchstoßlegende ermöglichen würde – weshalb er meinte, dass die Niederlage in ihrer Gänze durchlitten werden müsse. Die etwas saloppe Zwischenüberschrift »Mit Bibel und Pistole« markiert dann den Weg, den die Dinge nahmen. Es kam zur Verhaftungswelle. Die Verhöre nahmen ihren Lauf. Nicht alle hielten in ihnen Stand. Gersten-maier wählte die Option der »Idiotenversion« zur Erklärung seiner Teilnahme in den Kreisen der Offiziere und der zivilen Fronde, wonach er von nichts wusste, sich in Kreisau nur habe satt essen wollen und militärische Dienststellen nur auf der Suche nach einem Freund aufgesucht habe. Er wurde verschärftem Verhör durch die Gestapo unterzogen, dort wurde ihm nicht geglaubt, aber vor Freisler im Volksgerichtshof hatte er mit dieser Version dann doch Erfolg. Er verstand dies als Zeichen, dass Gott ihm mit dem Wunder des schonenden Urteils zu leben aufgegeben habe. Gerstenmaier hat diese Verpflichtung alsdann gelebt, wie das Buch eingehend deutlich macht.
Beigefügt ist dem Band ein Anhang, der die verschiedenen Stationen der Entwicklung nachzeichnet, anfangs mit dem Protestschreiben aus Rostock und Erlangen an den Reichsbischof samt einer Beilage zu diesem Schreiben, das von zumal heute irritierenden Fällen des Umgangs mit Kirche und Kirchenvertretern berichtet, dann finden sich dort zwei Gefängnis-Briefe von Gerstenmaier an seine Frau abgedruckt, ebenso wie ein solcher Brief von Helmuth J. Graf von Moltke an ihn und seine Antwort darauf sowie schließlich die Predigt von Gerstenmaier kurz nach der Befreiung durch amerikanische Truppen in Bayreuth. Dabei sind die Briefe von besonderem Wert, weil sie den umfassenden Charakter ebenso wie die Stärke des christlichen Glaubens gegenüber der totalitären Inanspruchnahme des Menschen durch den nationalsozialistischen Staat sichtbar machen. Das dringt trotz ganz unterschiedlicher individueller persönlicher Erfahrungen bei Moltke und bei Gerstenmaier durch. Und die Predigt gelangte dank solcher Erfahrungen auch über die Schwelle hin zu einer gegenüber dem Staat freien Kirche als sozialer Organisation. Insgesamt fasst die Arbeit den gesamten Duktus des Lebens von Gerstenmaier in der gebotenen Breite zusammen, auch soweit es hier nicht nachgezeichnet werden kann.
Für eine Dissertation liegt auch für den über die Theologie der Zeit nicht hinreichend informierten Betrachter ein außerordent-liches Werk vor. Das Buch ist sorgfältig und erschöpfend recherchiert und dokumentiert, wohlgeordnet gefasst und in leicht zugänglicher Sprache gehalten. Zugleich wird damit der exemplarische Charakter eines außerordentlichen Lebens auf dem Weg aus einfachen Verhältnissen in Kreise widerständiger und besonders hervortretender Persönlichkeiten ganz deutlich. Und das, was später »freie Kirche im – damals allerdings offensichtlich nicht – demokratischen Gemeinwesen« genannt wurde, scheint auf. All dies verdient, zur Kenntnis genommen und immer wieder aufgegriffen zu werden.