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Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

935–937

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Gärtner, Eva-Maria

Titel/Untertitel:

Heilig-Land-Pilgerinnen des lateinischen Westens im 4. Jahrhundert. Eine prosopographische Studie zu ihren Biographien, Itinerarien und Motiven.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2019. 279 S. = Jerusalemer Theologisches Forum, 34. Kart. EUR 43,00. ISBN 9783402110492.

Rezensent:

Heinrich Schlange-Schöningen

Hieronymus, der seit 386 in Bethlehem lebte und gemeinsam mit seiner Gönnerin Paula dort Klöster gebaut hatte, richtete in einem in den 90er Jahren des 4. Jh.s verfassten Brief den eindringlichen Aufruf an die in Rom lebende Marcella, sie möge sich doch möglichst bald auf die Reise in das Heilige Land begeben (ep. 46). Im idyllischen Bethlehem fände sie ein beschauliches, dem Gottesdienst geweihtes Leben. Jerusalem stehe zwar im Mittelpunkt des Interesses, sei aber inzwischen von Pilgern überfüllt, die von weither kämen, sogar aus Britannien, Persien oder Indien. Das Heilige Land zu besuchen, stellte offensichtlich einen großen Reiz dar. Hieronymus selbst hatte sich Jahre zuvor ganz vom Westen verabschiedet; jetzt suchte er die Authentizität des heiligen Raums auch dafür einzusetzen, finanzielle Unterstützung für die eigenen Klös-ter zu gewinnen. Aber die Grundlage seines Appells bestand in der Faszination, die von den Stätten des Alten und vor allem Neuen Testaments für die Christen nicht nur des 4. Jh.s ausging. Hier war die göttliche Botschaft an zahlreichen Gedenkorten sichtbar, hier war Gottesnähe in einmaliger Weise zu erleben, hier erfuhren fromme Frauen wie Paula visionäre Erlebnisse, wenn sie sich in die zentralen Ereignisse der christlichen Heilsgeschichte vertieften. Am Anfang des 4. Jh.s standen dagegen noch politische und religionspolitische Aspekte im Vordergrund, als sich Helena, die Mutter des Kaisers Konstantin, als erstes Mitglied einer Kaiserfamilie auf dem Weg in das Heilige Land machte. 326 n. Chr. galt es, den Osten für die Herrschaft ihres Sohnes zu gewinnen und damit die Reichseinheit unter christlichen Vorzeichen zu befestigen. Verbunden war Helenas Reise indes auch mit dem Bau von Kirchen in Jerusalem und Bethlehem, die dann ihrerseits die Anziehungskraft des Heiligen Landes noch verstärkten. Mit diesen beiden Aspekten der Frömmigkeit und der Religionspolitik ist der Rahmen abgesteckt, in dem sich das Pilgerwesen seit Helena und dann weit über das 4. Jh. hinaus entfalten sollte.
Einzelne Gestalten im Spektrum der Pilgergeschichte wie Helena oder Egeria, die am Ende des Jahrhunderts einen Bericht über ihre Reise verfasste, wie auch das Pilgerwesen insgesamt haben schon seit Langem die Aufmerksamkeit der Forschung gefunden; grundlegende Studien stammen von Bernhard Kötting (Peregrinatio religiosa, 1950) und Edward David Hunt (Holy Land Pilgrimage, 1984). Was aber bislang fehlte, war eine systematische Prüfung von Motivationen und Abläufen der Pilgerreisen für die uns besser bekannten, da in den Quellen genauer dokumentierten Fälle. Die Autorin Eva-Maria Gärtner hat dieses Unternehmen aus einer Gender-Perspektive für die Pilgerinnen des 4. Jh.s in Angriff genommen, soweit bei diesen eine westliche Herkunft bekannt oder zu­mindest vorauszusetzen ist. In ihrer Arbeit verbindet sie also die prosopographische Methode mit der Motivationsforschung.
Die Anzahl der behandelten Pilgerinnen ist überschaubar, es sind Eutropia (Pilgerreise vor 326), Helena (326), Melania (372), Egeria (381–384), Paula und ihre Tochter Julia Eustochium (Aufbruch in den Osten 385/386), Fabiola (394), Poimenia (zwischen 384 und 395) und zuletzt Silvia (zwischen 395 und 397); alle stammen aus wohlhabenden, hocharistokratischen Familien. Damit reicht die Abfolge von der konstantinischen bis in die theodosianische Zeit; ist mit Helena noch die Vermittlung der christlichen Botschaft verbunden, so verkörpern die letzten Pilgerinnen G. zufolge die nizänische Position der Kirchenpolitik des Kaisers Theodosius I. Die Quellen zu den genannten neun Pilgerinnen werden einem konsequent angewandten Fragenschema unterworfen: G. stellt jeweils die Quellenlage vor, erläutert – soweit dokumentiert – die Lebensge schichte der Protagonistinnen vor ihrer Pilgerfahrt, befragt die Nachrichten zur Pilgerfahrt im Hinblick auf zunächst »Stationen und Datierung«, sodann »Motivationsfaktoren«, wirft noch einen Blick auf die jeweilige Lebensgeschichte nach der Pilgerreise und schließt mit einem Resümee. Liegen besondere Nachrichten vor, so ergänzt G. ihr Schema, so z. B. zu Helenas Kreuzesauffindung oder zum Stil des von Egeria verfassten Pilgerberichts. Die Arbeit schließt mit einem Resümee, das die Einzelergebnisse zunächst in zwei Tabellen (zu den »grundlegenden Informationen« sowie zu den Motiven der Reisen) erfasst und dann noch einmal ausführlich die ermittelten Motivationsfaktoren in einer systematischen Auswertung betrachtet und den Pilgerinnen in unterschiedlicher Relevanz zuordnet: Neben der Anziehungskraft des Heiligen Landes wird hier, wie in der ganzen Arbeit, gut deutlich, dass die Pilgerfahrt als ein Ausdruck der christlich-asketischen Lebensführung gemeint sein konnte (z. B. für Paula); als Motivationsfaktoren kommen aber auch Vorbilder wie die Kaiserin Helena, die reiche Römerin Melania oder dann auch Paula in Frage. Weiterhin beleuchtet G. die Wirksamkeit von »Netzwerken«, womit einerseits der weite Kreis um Hieronymus mit seiner Wirkung auf Paula, Eustochium und Fabiola und andererseits das »theodosianische Netzwerk« gemeint sind, dem Poimenia und Silvia und vermutlich auch Egeria angehörten. Zuletzt wird auch die »politisch bzw. kirchenpolitisch motivierte Pilgerreise« als eigener Motivationsfaktor angeführt (eben bei Helena, aber auch bei Poimenia und Silvia). Vielleicht wäre die theologische Gelehrsamkeit noch als eigener Faktor (für Paula und Eustochium) zu werten gewesen, doch ist der Deutungsrahmen auch so durchaus erhellend. Und im Hinblick auf die Gender-Perspektive betont G. mehrfach, dass sich den Frauen durch Askese und Pilgerfahrt, die meistens auf Ehen und Geburten folgten, neue Handlungsräume erschlossen; hier folgt sie den wichtigen Arbeiten von Barbara Feichtinger.
Insgesamt hat G., wie schon deutlich geworden sein dürfte, eine sehr genaue und systematische Untersuchung vorgelegt, die auch zu klaren und interessanten Befunden führt. Dabei sticht besonders hervor, dass und wie G. abgewogen argumentiert. Das Problem etwa der genauen Datierung der Pilgereisen, das im politischen Kontext durchaus eine wichtige Rolle spielen kann, wird unter Auswertung der divergierenden Stimmen der Forschung vorsichtig gehandhabt. Auch die Aufgabe, zwischen den oftmals zusammenlaufenden Motivationsfaktoren im Einzelfall hierarchisch zu differenzieren, löst G. auf eine vermittelnde und sehr ansprechende Weise. Manchen ihrer Deutungen wird man gleichwohl nicht folgen wollen, etwa bei ihrem Urteil über Hieronymus, der von Reisen in das Heilige Land abgeraten habe (14 f.). Dass Eutropia ihre Pilgerreise »weit vor 326« angetreten habe (34), er­scheint angesichts der Konflikte zwischen Konstantin und Lici-nius, die bis 324 andauerten, doch eher unwahrscheinlich. Und könnte sich Eutropia möglicherweise bereits um 310 an Konstantin gewandt haben (34), um die aus christlicher Sicht unerträglichen Zustände in Mamre abzustellen? Doch das ist wohl auszuschließen, denn Konstantin hätte damals noch keinen Kirchenbau in Palästina anordnen können. War sodann Melanias Rückkehr in den Westen nur eine kurze Unterbrechung ihres frommen Lebens im Heiligen Land (68.89)? Es trifft sicher zu, dass ihre Reise in den Westen durch den Konflikt um Origenes, der in Palästina ausgebrochen war, verursacht wurde und sie im Westen für ihre Partei werben wollte. Aber kann man die immerhin zehn Jahre in Italien als kurze Zwischenphase verstehen? War es nicht eben die auch von G. erwähnte (87) Bedrohung Italiens durch Alarich, die Melanie zum erneuten Aufbruch in den Osten veranlasst hat, so wie das Heilige Land in dieser Zeit zahlreiche Flüchtlinge aus dem Westen aufnahm? Dann könnte es sich um eine auf Dauer angelegte Rückkehr in den Westen gehandelt haben, die aufgrund veränderter Bedingungen wieder revidiert wurde. Wie verträgt sich weiterhin die Datierung der Pilgerfahrt der Egeria auf die Jahre nach 381 mit der für ihren Pilgerberichte vermuteten Verwendung der von Hieronymus um 390 erarbeiteten Übersetzung des Onomastikons Eusebs (95)? Wäre für Paulas Aufenthalt in Ägypten (156) nicht auch die Nachricht des Hieronymus zu bedenken, seine Gönnerin habe sich bei den Mönchen in der Wüste ansiedeln wollen? Und klarer müsste zu Poimenia gesagt sein, dass es ihr, die eng mit dem Kai serhof verbunden war, zwar nicht gelang, von dem Eremiten Johannes in Lykopolis empfangen zu werden, dass sie aber doch eine Nachricht von ihm entgegennehmen durfte (187 mit Anm. 1015).
Alle diese Punkte betreffen Details, die noch genauer hätten ausgelotet werden können, doch mindern diese Nachfragen den Wert der konzisen und lesenswerten Studie keineswegs.