Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

927–929

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Stolz, Lukas

Titel/Untertitel:

Der Höhepunkt des Hebräerbriefs. Hebräer 12,18–29 und seine Bedeutung für die Struktur und die Theologie des Hebräerbriefs.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XXIV, 527 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament. 2. Reihe, 463. Kart. EUR 109,00. ISBN 9783161557545.

Rezensent:

Hermut Löhr

Ziel der Monographie von Lukas Stolz, die als Dissertation 2017 an der STH Basel verteidigt wurde, ist es, das Stück Hebr 12,18–29, und nicht etwa, wie in der exegetischen Literatur auch zu lesen, die Ausführungen über die Gottesruhe in Kapitel 3 f. oder die Hohepriesterlehre in Kapitel 7,1–10,18 als »Höhepunkt« des Hebräerbriefes zu erweisen. Bedenkt man, dass nach dem genannten Abschnitt nur noch die Paränesen des 13. Kapitels (die, wie gegen die These Walter Übelackers begründet wird, keine peroratio darstellen; vgl. 433 f.) und der briefliche Schluss des Textes folgen, wird man insbesondere der Auffassung, es handele sich um eine die Argumentation abschließende peroratio, schon a limine große Plausibilität zu­billigen, jedenfalls dann, wenn man grundsätzlich den an antiken Handbüchern orientierten »rhetorical criticism« für ein angemessenes Analyseinstrument hält. »Höhepunkt« meint für den Vf. aber noch mehr; das Stück, so die These, bündele und schließe die Argumentation des Hebr ab, in Entsprechung zum exordium in 1,1–4. Die Auffassung ist, wie der einleitende, sehr knappe Einblick in die Forschung selbst signalisiert, nicht wirklich neu; es kommt also auf ihre Begründung und die gezogenen Folgerungen für das Gesamtverständnis des Hebr an.
Zunächst vergewissert sich die Studie der Einordnung des Gesamttextes in Hinsicht auf die klassischen und viel erörterten Einleitungsfragen (Teil A, Kapitel II, 8–37). Der Vf. bestimmt mit Knut Backhaus u. a. den Text als Christus-sermo (im Unterschied zu einer Text-Homilie), der mit einem brieflichen, vom Verfasser selbst verfassten Schluss versehen auf den mündlichen Vortrag berechnet wurde. Von den drei genera der griechisch-römischen Rhetorik entspricht der Hebr nach Auffassung des Vf.s – m. E. zu Recht – dem genus deliberativum (436). Schon deshalb ist es sinn-voll, nach einer dem exordium entsprechenden peroratio zu suchen (21; dispositionell m. E. zu spät kommen die hilfreichen Ausführungen zur peroratio in den antiken Handbüchern, 424–428).
Was die Datierung angeht, votiert die Untersuchung im An­schluss an Luke T. Johnson (2006) für eine Abfassung vor (!) 70 n. Chr., weicht aber der zur Klärung der Argumente unabdingbaren gründlichen Analysen der Verse Hebr 8,4 und 13 in ihrem vom Zitat aus Jer 31 geprägten Kontext eher aus (die Erörterungen S. 207 f. sind nicht auf die Frage der Datierung fokussiert). In Hinsicht auf Datierung wie Lokalisierung wird auch die literarische Abhängigkeit des 1Clem von Hebr zu selbstverständlich vorausgesetzt; ebenso ist die Datierung des 1Clem noch in das 1. Jh. n. Chr. weniger gewiss, als der Vf. annimmt. Als Adressatin wird – mit William Lane u. a. – eine römische Hausgemeinde angenommen, die eine von »Irrlehrern« von innen oder außen beförderte Tendenz zur »Judaisierung« (35) zeige. Auch diese Bestimmungen werden zu wenig am Text geprüft (spricht etwa 10,32–39 für eine Hausgemeinde?), und sie beachten zumal die in den letzten Jahrzehnten intensivierte Diskussion um Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer trennscharfen Unterscheidung von Juden und Christen zumal in der hier angenommenen Abfassungszeit vor 70 n. Chr. nicht.
Der zweite, viel umfangreichere Teil B der Studie ist dann dem Text Hebr 12,18–29 gewidmet (41–362). Zunächst wird nach syntaktischen, semantischen und rhetorischen Kriterien eine kontextuelle Abgrenzung und Strukturierung der Verse 18–29 in zwei und drei Teile vorgenommen (18–24 als expositio, unterteilt in 18–21 einerseits, 22–24 andererseits; 25–29 als exhortatio; vgl. die Übersicht, 50). Diese drei Stücke werden nacheinander einer ausführlichen textsynchronen und -diachronen, insbesondere auch intertextuelle Bezüge zur hebräischen Bibel/LXX beachtenden, Vers-für-Vers-Exegese unterzogen.
Dies wird mit großem Problembewusstsein, argumentativer Sorgfalt und in ausführlichem Gespräch mit der einschlägigen Forschung durchgeführt. Methodisch ist die Untersuchung also »klassisch« zu nennen; das Zurückstellen (nicht: völliges Fehlen!) textpragmatischer Aspekte scheint mir im Hinblick auf die Breite und Variabilität eschatologischer Aussagen im frühen Judentum und im entstehenden Christentum, und so auch im Hebr, die Interpretation doch zu sehr zur Vereinheitlichung der Bilder und Vorstellungen zu nötigen. Auch werden die sich aus dem sogenannten spatial turn in den Kultur- und Literaturwissenschaften ergebenden Anregungen, die sich für die Lektüre des Hebr doch sehr nahelegen und die an anderen neutestamentlichen Texten schon mit Erfolg erprobt wurden, nicht aufgegriffen.
Sehr angenehm liest sich die Arbeit nicht zum Geringsten deshalb, weil die exegetische Diskussion durchweg vorbildlich unpolemisch geführt wird, und dies auch dort, wo der Vf. konträre Auffassungen meint entschieden abweisen zu sollen. Ohne dass die Diskussionen der zweiten Hälfte des 20. Jh.s um die religionsgeschichtliche Einordnung des Hebr wiederholt würden, ist deutlich die Tendenz erkennbar, den Text in biblisch-jüdischer, vor allem auch apokalyptischer Tradition zu verorten. Zugleich vermag der Vf. gleichwohl denjenigen (in früheren Zeiten freilich von der inzwischen obsoleten Gnosis-These belasteten) Interpretationen viel abzugewinnen, die den Hebr insgesamt vom Motiv des »wandernden Gottesvolkes« (Ernst Käsemann; Erich Gräßer) geprägt sehen (vgl. 396 f.). Überwiegend ist dies überzeugend, manchmal wirken die dazu nötigen Argumente jedoch auch etwas gezwungen.
So wird, um einer ›platonischen‹ Deutung von ψηλαφωμένῳ in Hebr 12,18 zu entgehen, sinngemäß zum Adjektiv (und entsprechend dem expliziten Wortlaut in einem Teil der Handschriften) ὄρει hinzugedacht – es ergibt sich das Verständnis, dass man nicht zu einem Berg hinzugetreten sei, der, weil im Dunkel verborgen, ertastet werden müsse (54–63) – was mir eine kontextuell unwahrscheinliche Lesart zu sein scheint. Im Hintergrund steht, wie der Vf. zu Recht betont, die Frage, ob sich der auctor ad Hebraeos die himmlische Welt materiell oder immateriell vorstelle – die vorliegende Arbeit entscheidet sich, auch im Blick auf V. 26–28, für die erstgenannte Option. Auf derselben Linie liegt es, dass das »himm lische Jerusalem« aus V. 22 auf der neuen bzw. erneuerten Erde lokalisiert wird (114–119); dasselbe gilt für die Myriaden von Engeln (120–126 – mit bedenkenswerten Hinweisen zur Auslegungsgeschichte von Dan 7,9–14) und das Gericht Gottes (169–173). Die »Geister der vollendeten Gerechten« (V. 23) werden, auf einigen exegetischen Umwegen (174–194), die auch mich nicht überzeugende Lektüren von 4Esr 7,32 und 2Bar 30,1 f. einschließen (eine ausführliche Diskussion des Prätextes Dan 12,2 f. unterbleibt), zu den leiblich Auferstandenen. Das Postulat eines »›irdischen‹ Himmels« (282) kann ich nicht nachvollziehen.
Das Perfekt προσεληλύθατε V. 22 wird resultativ verstanden; das Stück gründe auf der Vorstellung der im Lobpreis vor Gott versammelten Gemeinde, die »proleptisch« und »antizipativ« be­reits beim himmlischen Jerusalem und vor Gott angelangt sei (265). Wenn ich den Vf. recht verstehe, bildet für ihn (wie für viele andere Ausleger) damit der Gottesdienst den konkreten Hintergrund der Textaussagen. Auch die eschatologischen Aussagen in V. 27 f. werden, der bisherigen Interpretationslinie folgend, nicht als Ausdruck einer ontologischen Unterscheidung zwischen Geschaffenem und Nicht-Geschaffenem gelesen; in dieser Lesart zählen zu den σαλευόμενα auch die himmlischen Dinge, und unter den μὴ σαλευόμενα ist das durch Erschütterung Geprüfte, Neugeschaffene und dann Bleibende zu verstehen (vgl. 301–325). Diese Ausführungen regen durchaus dazu an, gewohnte Lektüren der Eschatologie des Hebr zu überdenken, und zugleich dazu, auch insgesamt die Frage von Kontinuität und Diskontinuität zwischen alter Welt und neuer Welt in jedem einzelnen Entwurf frühjüdischer und -christlicher apokalyptischer Kosmologie genau zu studieren. Mo­tiv-, traditions- und religionsgeschichtlich entspannend könnte dabei die Einsicht wirken, dass jüdische und ihr folgend frühchristliche apokalyptische Kosmologie selbst Phänomene hellenistischen Denkens sind.
Teil C (365–439) stellt die gewonnenen Einsichten hilfreich in den größeren Zusammenhang des Hebr ein. Dass durch 5,11 und besonders 8,1 die Hohepriesterlehre als Hauptsache des Textes herausgestellt wird, sieht der Vf. sehr wohl (vgl. 388.390 f. und besonders 414), doch wird die sich mir nahelegende Konsequenz, in 12,18–29 zwar sehr wohl die peroratio, nicht aber den »Höhepunkt« des Hebr zu sehen, nicht gezogen.
Der noch einmal in zwei Teile gegliederte Teil D schließlich umfasst anderthalb m. E. entbehrliche Seiten. Das Buch ist, den bewährten Standards der Reihe entsprechend, mit gegliedertem Literaturverzeichnis und Registern leicht erschließbar. Es ist nach meinem Eindruck insgesamt sehr sorgfältig gearbeitet. Auf S. 68 mit Anm. 113 ist »Parachese« in »Parechese« zu korrigieren. Der auf den Seiten 330, Anm. 355 und 468, Helmut Merklein zugeschriebene Aufsatz zur »Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu« stammt tatsächlich von Helmut Merkel. Auf S. 371, Anm. 16, findet sich der Plural »synkrises« (statt Synkrisen oder synkriseis). Dass der Schweizerdeutschen Orthographie des Bandes folgend aus Erich Gräßer stets Erich »Grässer« wird, hätte den Namensträger wohl nicht gefreut.