Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2021

Spalte:

899–901

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Lehnardt, Andreas [Ed.]

Titel/Untertitel:

European Genizah. Newly Discovered Hebrew Binding Fragments in Context. European Genizah Texts and Studies. Vol. 5.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2020. XX, 347 S. = Studies in Jewish History and Culture, 63. Geb. EUR 150,00. ISBN 9789004427914.

Rezensent:

Annett Martini

Unser Wissen über jüdische Kulturen des europäischen Mittelalters ist fragmentarisch, und kaum ein Forschungsgegenstand macht das so sinnfällig wie die hebräischen Einbandfragmente. Losgelöst aus ihrem ursprünglichen literarischen, traditionellen und kulturellen Kontext findet man biblische, rabbinische, philosophische oder mystische Literatur des Judentums tausendfach in die Bucheinbände der christlichen Umweltkultur verbannt, wo sie bis vor etwa zwanzig Jahren ein beinahe vergessenes Eigenle-ben gleichsam am äußersten Rand der europäischen Geistesgeschichte führten. Die wegen ihrer Festigkeit geschätzten Pergamentblätter der hebräischen Kodizes und Schriftrollen wurden dafür von den Buchbindern in neue Formate zerschnitten, miteinander verklebt und auf die ledernen oder hölzernen Buchdeckel geleimt. Die Provenienz der Schriftenauszüge liegt ebenso im Dunkeln wie die Umstände ihrer Inbesitznahme durch christliche Buchbinder.
Die in dem von Andreas Lehnardt 2020 herausgegebenen Band European Genizah versammelten Beiträge versuchen eine Rekonstruktion der Geschichte ausgesuchter hebräischer Einbandfragmente aus unterschiedlichen – mit Ausnahme eines Berichts aus der Universitätsbibliothek Sidney – europäischen Bibliotheken. Dabei gehen die Autorinnen und Autoren mit kriminalistischem Gespür weit über philologische Textanalysen hinaus und legen einige interessante Mosaiksteine zur Wissens-, Regional- und Alltagsgeschichte der mittelalterlichen jüdischen Kultur in Europa frei. Die Artikel spiegeln in fünf thematischen Abschnitten das enorme Forschungspotential der Fragmente in beeindruckender Breite wider. Ungeachtet der hohen Qualität sämtlicher Beiträge soll ein exemplarischer Blick auf einige Artikel genügen.
Der erste Abschnitt umfasst drei Studien zu kürzlich gefundenen Fragmenten, auf denen – was relativ selten vorkommt – bislang unbekannte Texte aus dem jüdischen Mittelalter entdeckt wurden. So konnte Emanuel Simcha das Korpus jüdischer Schriften um zwei rabbinische Werke aus dem frühmittelalterlichen Paläs-tina bereichern. Im Franziskanerkloster von Graz versteckte sich in den Einbänden der Summa Theologica des Antonius Florentinus aus den späten 1470er Jahren auf mehreren Schichten Pergament ein bislang unbekannter Text im Stil der rabbinischen Abhandlung She’iltot de-Rav Achai – Fragen des Rabbi Achai Gaon, 8. Jh. –, dessen Entstehung Simcha ins 9. oder 10. Jh. datiert. Bei dem anderen Fundstück handelt es sich um eine erweiterte Version der nur fragmentarisch erhaltenen rabbinischen Abhandlung Ha-ma‘asim li-vnei Eretz Yisra’el – Die Handlungsweisen der Menschen aus dem Land Israel. Beide Texte sind für das Verständnis der Entstehung und Rezeption der frühen nachtalmudischen rabbinischen Kultur von großem Wert. Der paläographische Befund der Abschrift der beiden Texte weist nach Süditalien ins 11. Jh. und wirft ein interessantes Licht auf die Route des Wissenstransfers der rabbinischen Tradition Palästinas über Italien in den aschkenasischen Raum.
Die meisten hebräischen Einbandfragmente enthalten Auszüge aus bekannten Schriften der jüdischen Traditionsliteratur. Trotzdem können diese Zeugnisse – beispielsweise durch unbekannte Varianten, Erweiterungen oder auch Kurzformen – ein gänzlich neues Licht auf eine bestimmte Texttradition und deren Rezeption in einer Region werfen. Der zweite Abschnitt des Bandes stellt drei Fundstücke vor, die bislang nicht publizierte Auszüge von Midraschim – exegetischen Texten aus dem rabbinischen Umfeld – enthalten. Andreas Lehnardt diskutiert hier vier Bifolia mit einem Fragment des Midrasch Sifra zum Buch Levitikus, die der Einbandverstärkung der Schrift Lectura super quinque libros Decretalium des Nicolaus de Tudeschis (gest. 1445) dienten. Die insgesamt sechs Bände, die heute in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe aufbewahrt sind, wurden 1476 von den Verlegern und Buchhändlern Johann aus Köln und Johann Manthen in Venedig gedruckt und sind später in den Besitz des Benediktinerklosters in Ettenheimmünster gelangt. Das hebräische Handschriftenfragment – das konnte Lehnardt im Vergleich mit dem wichtigsten Textzeugnis dieser Schrift (MS Biblioteca Apostolica Vaticana, ebr. 66) zeigen – reflektiert eine aschkenasische Lesart und bereichert dementsprechend unser Wissen über die Transformationen dieses antiken Midrasch in unterschiedlichen Kulturräumen.
Die Betrachtung der hebräischen Einbandfragmente einer ganzen Bibliothek – Gegenstand des dritten Buchabschnitts – offenbart nicht selten Interessantes über die jüdische Geschichte einer bestimmten Region. Die von Kardinal Girolamo Casanate (gest. 1700) in Rom gestiftete Biblioteca Casanatense beherbergt einige Kodizes, in der sich zahlreiche hebräische Fragmente in den Einbänden oder als fliegende Blätter verbergen. Emma Abate widmet sich in einem Beitrag diesen Handschriften, die vor allem mystische, wissenschaftliche und philosophische Werke beinhalten und damit die bevorzugten Interessengebiete der Juden Italiens im späten Mittelalter bzw. der Renaissance widerspiegeln. Abate weist in diesem Zusammenhang auf den Mitte des 16. Jh.s von Seiten der Kirche angelegten Index der verbotenen Bücher ( Index Librorum Prohibitorum cum regulis confectis) hin, der auch hebräische – darunter zahlreiche mystische – Werke enthielt, die das Christentum angeblich in Frage stellten oder blasphemische Aussagen enthielten. Entsprechende Passagen wurden geschwärzt, herausgeschnitten oder mit dem ganzen Kodex konfisziert. Es ist sehr wahrscheinlich – so Abate –, dass solche zensierten Manuskripte in der von Dominikanern geleiteten Biblioteca Casanatense zerstört und zu Einbänden verarbeitet wurden. Die Geschichte der Zensur ist dementsprechend eng mit dem der recycelten Manuskripte ver-woben.
Die vierte Themengruppe wendet sich den kleinsten Elementen der Einbandfragmente zu: der Schrift und dem Prozess des Schreibens. Judith Olszowy-Schlanger bespricht hier mittelalterliche Torarollen-Fragmente der Krakauer Jagiellonischen Bibliothek. Die jüdische Tradition sieht für ausgediente Torarollen die Lagerung in einer Geniza und die spätere Beerdigung auf einem Friedhof vor, wo das organische Material dann schnell verrottet. Unter anderem aus diesem Grund ist nur eine sehr begrenzte Anzahl von vollständig erhaltenen mittelalterlichen Torarollen überliefert, die im europäischen Kulturraum beinahe ausschließlich in christlichen Bibliotheken überdauerten. Die fragmentarischen Überlieferungen sind deshalb wichtige Quellen, um mehr über die Herstellung rituell reiner Torarollen zu erfahren. Olszowy-Schlanger kann auf Grundlage der fragmentarischen Artefakte paläographische Besonderheiten der Schriftrollenherstellung im spätmittelalterlichen Polen herausarbeiten und dazu beitragen, die schwierige Datierung und Verortung der seltenen Schriftrollenfunde zu erleichtern.
Last but not least sei der Beitrag von Ilona Steinmann aus dem Bereich »Forschungsgeschichte« erwähnt, der sich mit der Sicht christlicher Hebraisten und philologisch interessierter Humanisten auf die hebräischen Fragmente befasst. Steinmann beschreibt das neu erwachte Interesse an originalen hebräischen Texten und auch die damit verbundene Faszination am Fragmentarischen, in dem das Geheimnisvolle der verborgenen (christlichen) Wahrheit sinnfällig würde.
Der vom Herausgeber sorgfältig redigierte Band, der auch die kritischen Editionen einiger untersuchter Texte enthält, gibt mit seinen unterschiedlichen Perspektiven auf das Phänomen der hebräischen Einbandfragmente spannende Einblicke in ein relativ junges Forschungsgebiet. In Anbetracht der zahlreichen Fragmente, die in europäischen Bibliotheken noch auf ihre Entdeckung warten, bleibt nur zu hoffen, dass weitere derartige Studien möglich sein und – nicht nur innerhalb der jüdischen Studien – für einige Überraschungen sorgen werden.