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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

865–866

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Klie, Thomas, Kumlehn, Martina, Kunz, Ralph, u. Thomas Schlag [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Machtvergessenheit. Deutungsmachtkonflikte in praktisch-theologischer Perspektive.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2021. VII, 354 S. m. 3 Tab. = Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs, 25. Geb. EUR 89,95. ISBN 9783110632088.

Rezensent:

Christian Grethlein

Der Band will für Praktische Theologie eine neue Reflexionsperspektive, nämlich die der Deutungsmacht, eröffnen. Dazu nimmt er Impulse des Rostocker Graduiertenkollegs »Deutungsmacht, Religion und belief systems in Deutungskonflikten« auf. Er gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Drittel soll grundlegend »die Erschließungskraft der Deutungsmachtperspektive für die Erhellung gegenwärtiger Grundfragen des Faches« (8) gezeigt werden. Es folgen sodann Beiträge, die exemplarische Deutungskonflikte in einzelnen Praxisfeldern der Praktischen Theologie vorstellen und reflektieren. Knapp, aber instruktiv stellen die in Rostock und Zürich lehrenden Herausgebenden eingangs (8–15) die wesentlichen Kernaussagen der einzelnen – insgesamt 14 – Beiträge vor.
Am Beginn des 1. Teils »Deutungsmacht und Grundfragen der Praktischen Theologie« steht die ausführliche, semiotisch argumentierende Einführung von Gesche Linde zu »Deutungsmacht«. Praktisch-theologische Perspektiven kommen dabei allerdings ebenso wenig in den Blick, wie umgekehrt spätere Beiträge auf ihre Ausführungen Bezug nehmen. Doch bietet die Rostocker Systematikerin durch ihre Rekonstruktion des Peirceschen Systems der Zeichenklassifikation für eventuelle praktisch-theologische Feldstudien zur Deutungsmacht einen differenzierten Kriterienkatalog an (ohne dies allerdings explizit kenntlich zu machen).
Michael Meyer-Blanck stellt sodann die Machtfrage, und zwar für die Praktische Theologie die Frage nach der »Macht der Theorie«. Der Deutungsgesichtspunkt tritt demgegenüber zurück. Eine Fokussierung auf die Religionspädagogik nimmt anschließend Marcell Saß vor. Zum einen zeigt er im Vergleich dreier wichtiger Lehrbücher zum Fach (Friedrich Schweitzer, Bernd Schröder, Michael Domsgen) unterschiedliche Deutungen der Fachgeschichte; zum anderen hebt er die Bedeutung Michel Foucaults für Diskurs- und Machtanalysen hervor. Andreas Kubik nähert sich der Thematik aus der Perspektive theologischer Kulturhermeneutik und erweist – nach kritischen Reflexionen zum Religionsbegriff – die seit dem 18. Jh. entstehende Öffentlichkeit als wichtigen Rahmen für theologisch relevante Deutungen. Den Abschluss des ers-ten grundsätzlichen Teils bilden Überlegungen Ilona Nords zu Impulsen durch die digitalen Medien.
Im zweiten Teil werden homiletische (Manuel Stetter), liturgische (Ralph Kunz), pastoraltheologische (Thomas Schlag), seelsorgliche (Maike Schult), tauftheologische (Thomas Klie), religions-pädagogische (Bernhard Dressler sowie Martina Kumlehn), diako-nische (Thorsten Moos) und kirchentheoretische (Lars Charbonnier) Themen bearbeitet.
Insgesamt sind die Fülle der Gesichtspunkte und das breite Spektrum der jeweiligen Anschlüsse an unterschiedliche Theorieformationen beeindruckend und anregend. Entsprechende An­merkungen in den sorgfältig ausgearbeiteten einzelnen Beiträgen ermöglichen an jeweils einzelnen Themen Interessierten vertiefte Studien. Dabei ist der explorative Gesamtcharakter des Bandes un­übersehbar. So eröffnet nicht zuletzt die unterschiedliche Verwendung zentraler Begriffe wie »Deutung« und »Macht« in den einzelnen Beiträgen vielfältige Themenfelder, ohne dass es jedoch schon zu einem systematischen Zugang oder gar Gesamtkonzept kommt. So steht etwa der »tollkühne Ritt durch die Theologie Karl Barths« (Kunz) neben der Auseinandersetzung mit einem FAZ-Kommentar zum Religionsunterricht (Dressler) oder der Auseinandersetzung mit der Corona-Krise (Kumlehn).
Trotz dieser anregenden Vielfalt ist zugleich eine problematische Engführung zu markieren. »Kirche«, »Religion«, »christlich« und »theologisch« beziehen sich (fast) stets auf deren (deutschsprachige) evangelische Fassung. Die teilweise erheblich anderen Ak­zentsetzungen innerhalb der römisch-katholischen Kirche und Theologie sowie freikirchlicher Gemeinschaften kommen nicht in den Blick. Auch bleiben wesentliche, durch staatliche Macht ge­stützte Fundamente der staatsanalogen Organisation deutscher Kirchen wie die Kirchensteuer oder die Fähigkeit, öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse zu begründen, unbehandelt.
So markiert der vorliegende Band multiperspektivisch ein wichtiges Forschungsdesiderat für Praktische Theologie. Deren systematische, begrifflich konzise und konfessionsübergreifende Ausarbeitung liegt aber noch vor uns.