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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

863–864

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Herzig, Ferenc

Titel/Untertitel:

Unsinn zur Unzeit. Ein Dialog mit Gilles Deleuze über »Ereignis« im homiletischen und liturgischen Horizont.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; Würzburg: Echter Verlag 2020. 264 S. m. 1 Abb. = Evangelisch-Katholische Studien zu Gottesdienst und Predigt, 6. Kart. EUR 50,00. ISBN 9783788734596 (Vandenhoeck & Ruprecht); 9783429055264 (Echter).

Rezensent:

Michael Pflaum

Diese Doktorarbeit, die an der Theologischen Fakultät Leipzig entstanden ist, setzt sich zum Ziel, Deleuzes Philosophie und besonders seine Philosophie des Ereignisses in einen fruchtbaren Dialog mit drei liturgisch-homiletischen Theorien zu bringen.
Gilles Deleuze ist inzwischen gerade im anglikanischen Raum zu einem vieldiskutierten modernen Klassiker der Philosophie geworden. Gerade weil sich in der deutschsprachigen Theologie bis jetzt nur eine Monographie mit Gilles Deleuzes Philosophie auseinandergesetzt hat, ist das Ziel des Projektes sehr zu begrüßen. Ferenc Herzig hat sich damit einer sehr großen Herausforderung gestellt: Um Deleuze verstehen zu können, braucht man sowohl fundierte Grundkenntnisse in Klassikern der Philosophie wie Kant, Leibniz, Spinoza, Nietzsche als auch Leseerfahrungen mit modernen Philosophen wie Bergson und den Strukturalisten. Sein Hauptwerk »Differenz und Wiederholung« (DW) ist nichts Geringeres als eine postmoderne »Wiederholung« der »Kritik der reinen Vernunft«, in der Deleuze all die großen und kleinen Philosophen Re­vue passieren lässt.
Wird H. dieser Herausforderung gerecht? Er musste sich nicht nur in eine der schwierigsten Philosophien des 20. Jh.s einarbeiten, er musste auch aus dem großen Œuvre von Deleuze eine sinnvolle Auswahl treffen. In seinem Einführungskapitel zu Deleuze greift H. zum Einstieg den Rhizombegriff, die Kritik des Platonismus und die Kritik am Repräsentationsdenken aus dem 3. Kapitel von DW auf. Dieses Kapitel argumentiert ähnlich schlüssig wie seine Zusammenfassung von Deleuzes wichtigem Artikel »Woran er­kennt man den Strukturalismus?« und der Sprachtheorie, die Deleuze in »Logik des Sinns« entwickelt hat. Aber viele andere Kapitel zu Deleuzes Philosophie zeigen, dass sich H. häufig nur ein oberflächliches Verständnis erarbeitet hat, so dass seine Darstellung unvollständig, seltsam gewichtet und manchmal auch verwirrend falsch ist. Einige Beispiele:
Deleuze hat ein philosophisches Buch über Proust geschrieben, das H. kompakt darzustellen sucht. Den zentralen Begriff der Essenz als Differenz, die sich besonders in den Zeichen der Kunst offenbart, erwähnt H. ebenso wenig wie die zentrale Analyse, dass es bei der Deutung der Zeichen einen objektivistischen und einen subjektivistischen Straßengraben gibt. Beides sind wichtige philosophische Gedanken, die man sinnvoll mit der Theologie in Verbindung bringen kann. Es gibt auch leider Beispiele regelrechter Fehlinterpretationen und Lücken: Wie kann man einen der wicht igsten Philosophen zum Thema Zeit betiteln mit: »Henri Bergson – zeitlos«? Warum wird das Kantkapitel mit »Immanuel Kant– raumlos« überschrieben? Warum erscheint weder im Kantkapitel noch anderswo ein zentrales Thema der Philosophie von Deleuze: der Riss im Ich (den Deleuze in vielen Büchern be­handelt)?
Zentral für das Verständnis der Philosophie von Deleuze ist die Unterscheidung zwischen Virtualität und Aktualität. Diese Unterscheidung ist auch wichtig, um Deleuzes Ereignisbegriff, den H. ja besonders philosophisch-theologisch bedenken will, zu verstehen. Wir denken normalerweise nur an die aktuelle Seite: Ein Ereignis geschieht. Aber was sind die Bedingungen, dass dieses Ereignis ak­tuell geschieht? Diese Frage führt uns zur virtuellen Seite, zu den Kräfteverhältnissen, die für das Aktuelle der zureichende Grund sind. H. erwähnt zwar an manchen Stellen diese Unterscheidung. Aber diese wesentliche Grundfigur von Deleuze wird nicht herausgearbeitet.
Ein ähnliches Ergebnis stellt sich beim Kapitel »Deleuze zur Wiederholung« ein, in dem H. versucht, das 2. Kapitel von »Differenz und Wiederholung« kompakt darzustellen. H. schafft es z. B. nicht, die zweite passive Synthese verständlich darzustellen. Das wäre ihm gelungen, wenn er die Quellen, die Deleuze aufgreift, aufmerksam studiert hätte. Denn allein der Aufsatz von Bergson über das Déjà-vu, das falsche Wiedererinnern, hätte H. gezeigt, welche Gedankenstruktur Deleuzes Ausführungen über die Vergangenheit bei Bergson zugrunde liegt, nämlich Bergsons These, dass gleichzeitig zu jedem aktuellen Bild, das ich mir von dem jetzigen gegenwärtigen Moment mache, ein virtuelles Bild entsteht, das der virtuellen Vergangenheit als offenes Ganzes zugefügt wird.
Im Klappentext verspricht der Autor, den Versuch zu unternehmen, »die Frage nach Gott (nicht nur im Gottesdienst) unter poststrukturalistischen Vorzeichen zu stellen.« Wenn man aber in sein Schlusskapitel schaut, kommt Deleuzes Philosophie eigentlich nicht mehr vor, dafür Karl Barths Dialektik. Wer Deleuze nur ein bisschen kennt, fragt sich, warum im ganzen Buch Deleuzes Ontologie, die Univozität des Seins, nicht thematisiert wurde. Insbesondere kommt die Frage auf: Steht nicht diese Ontologie in eklatantem Widerspruch zum Gottesverständnis von Karl Barth, der im­mer stets die unantastbare Transzendenz Gottes herausstrich? Die spannende Frage, ob und wie eine christliche Theologie innerhalb einer Immanenzphilosophie wie der von Deleuze möglich ist, wird nicht gestellt. Mit Whiteheads Prozessphilosophie, die Deleuze in seinem Leibniz-Buch ja auch ausführlicher behandelt, hätte H. eine Brücke zwischen christlicher Theologie und Deleuzes Philosophie schlagen können.
Die Arbeit besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil widmet sich der Ereignisphilosophie von Deleuze. Der zweite Teil behandelt die liturgisch-homiletischen Theorien von Peter Brunner, Wilhelm Gräb und Martin Nicol.
Mit Deleuzes Philosophie will H. diese Theorien kritisch reflektieren. Wenn in dieser Doktorarbeit die Erarbeitung der Philosophie von Deleuze die Kür ist, dann ist gewissermaßen die Darstellung der drei Theorien die Pflicht, die H. gelingt. An einigen Stellen schafft es H. auch, aus seinem oberflächlichen Deleuze-Verständnis heraus die theologischen Theorien kritisch zu reflektieren. Z. B. mahnt er an, dass Brunners Anamnesis-Begriff letztlich nur eine Wiederholung des Selben, also eine Kopie ist, und dass es Brunner nicht gelingt, die Wiederholung einer Differenz, die Neues bzw. ein Werden hervorbringt, zu denken (s. 172). Ebenso ein Gewinn ist es, den Werdensprozess einer Predigt nicht linear, auch nicht zirkulär wie Nicol, sondern rhizomatisch wie H. mit Deleuzes Philosophie zu begreifen (s. 240.).
Wer H.s Buch lesen möchte, um die drei liturgisch-homiletischen Theorien kennenzulernen, dem kann das Buch empfohlen werden. Wer dagegen sein Buch lesen möchte, um Deleuzes Philosophie und ihr kritisches Potential für die Theologie kennenzulernen, dem kann ich das Buch leider nicht empfehlen.