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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

861–863

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Burke, Andree

Titel/Untertitel:

Das Ereignis des Menschlichen. Menschenwürde und Seelsorge: Ein pastoraltheologischer Entwurf.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2020. 208 S. m. 2 Abb. = Praktische Theologie heute, 171. Kart. EUR 39,00. ISBN 9783170376830.

Rezensent:

Hans-Martin Rieger

Seelsorge vom Ereignis des Menschlichen her zu verstehen, so könnte man das Anliegen der von der Katholisch-Theologischen Fakultät Münster angenommenen Untersuchung zusammenfassen. Dahinter verbergen sich ein stringenter Gedankengang und ein klar gezeichnetes Bild von Seelsorge. Mit dem Untertitel gesagt handelt es sich um einen mutigen »Entwurf«, der frei ist von unnötigen Wissensansammlungen. Er setzt allerdings einige Alternativsetzungen voraus, die etwa dem herangezogenen Menschenwürdediskurs fremd sind.
Ausgegangen wird vom Menschenwürdebegriff des Grundgesetzes, dieser wird gleichsam als Suchbegriff installiert. Die Orientierung am rechtlichen Diskurs bringt es mit sich, dass die vom Prinzip der Menschenwürde ausgehende ethische Diskussion in den Hintergrund tritt. Die positive Verfassungsnorm rekurriert mit »Menschenwürde« auf eine Gegebenheit, die jenseits ihrer selbst steht. Andree Burke begibt sich auf die Suche nach dieser Gegebenheit, in welcher sich das Menschliche am Menschen phänomenal zeige – und findet es, der Haupttitel zeigt es an, im »Ereignis des Menschlichen«.
In der Regel wird die Begründungsoffenheit des Menschenwürdebegriffs kompatibel gesehen mit pluralen Rechtfertigungen. Eine vertragstheoretische Rechtfertigung wäre dann ebenso möglich wie eine theologische Rechtfertigung mithilfe der »Gottesebenbildlichkeit«. Der Vf. unterstellt, damit würde eine weitere Vorstellung der Menschenwürde selbst konstruiert oder gesetzt. Er sieht die Aufgabe der Theologie darin, sich auf die Suche nach dem Ereignis des Menschlichen zu machen.
Unter der erkenntnisleitenden Frage, was denn das Mensch-liche am Menschlichen sei, werden bedeutende Menschenbilder (Cicero, Thomas von Aquin, Kant, Fichte u. a.) gemustert. Der Durchgang verstärkt die Alternative, nicht auf Merkmale des Menschlichen zu setzen, sondern auf Ereignisse des Menschlichen.
An dieser Stelle erweist es sich als nachteilig, etablierte ethische Differenzierungen des Menschenwürdediskurses zu übergehen: Die Begriffsintension ist nicht die Begriffsextension. Erst bei der Extension, der Frage also, wem Menschenwürde zukommt, haben Merkmale ihren Ort. Und selbst hier ist zwischen Zuschreibungsgrund und Zuschreibungskriterium (zwischen Persondefinition und Personidentifikation) zu unterscheiden: Wer Selbstbestimmung im Blick auf die Persondefinition für konstitutiv hält, muss nicht automatisch Menschen ausschließen, deren Selbstbestimmungsfähigkeit empirisch nicht (mehr) vorliegt. Gerade in diesem Zusammenhang wurden die Nachteile einer Ereignis-Ontologie für den Status von komatösen oder dementen Menschen vielfach diskutiert.
Das Ereignis des Menschlichen, das allen begrifflichen Fassungen vorausliege, wird im Anschluss an B. Waldenfels und E. Lévinas als Widerfahrnis des Anderen bestimmt. Während eine Substanz-Ontologie die Rede vom Ereignis verfehle, wahre eine solche Ereignis-Ontologie die Außerordentlichkeit des Menschen, welcher im Grundgesetz lediglich der Platz freigehalten worden sei. Das Ereigniserleben wird dann vor allem an der Begegnung zweier Menschen festgemacht. Das »Menschliche am Menschen« ereignet sich dort, wo ein Mensch als ein völlig Anderer erscheint. Die Erfahrung des Anderen ist dabei nur Fragment einer dahinter verborgenen Ganzheit, die analog dem »Antlitz« bei Lévinas unantastbar und nicht verletzbar sei.
Mit dieser »philosophisch tragfähigen Begründung« (142) ist der Raum umrissen, den der Vf. der Seelsorge einzunehmen empfiehlt: Seelsorge stellt sich phänomenologisch als Begegnungsgeschehen dar, in dem die verborgene Ganzheit eines Menschen sichtbar zu werden vermag. Ein Fallbeispiel zeigt eindrücklich, wie solches gerade in Situationen der Depravation des Menschlichen statthaben kann. Die Pastoralkonstitution Gaudium et spes lässt das verborgene Geheimnis eines Menschen als Berufung zur Gemeinschaft mit Gott deuten. Letztlich ist in dieser Berufung nicht nur die Würde des Menschen begründet, sondern auch der christliche Auftrag, dieses Menschliche wieder sichtbar werden zu lassen. Seelsorgende glauben an die Berufung des Anderen, an die Offenbarung im Anderen (177).
Die Untersuchung gipfelt im Anspruch, dass sich die Pastoralität einer menschlichen Seelsorge daran bemisst, ob sie dem Phänomen der Begegnung dahingehend gerecht wird, dass sie zugunsten des Anderen das Geschehen aus der Hand geben und sich Ereignismöglichkeiten geben lassen kann.
Dem Vf. gelingt es, deutlich zu machen, was deutlich gemacht zu werden verdient: Seelsorge bringt die Menschenwürde zur Geltung. Seelsorgende sind Zeugen, die für die Menschlichkeit des noch so entstellten Menschen einstehen. Fragen wird man dürfen, ob die Wahl der Pferde, auf die er setzt, so ausschließlich ist: Bereits Kant, nicht erst Waldenfels, zollt mit seinem homo noumenon der Verborgenheit und Andersheit des Anderen Beachtung – und wenn man will, bindet er dies an die Leiblichkeit eines homo phaenomenon zurück. Ähnliches wäre zu seiner Präferenz des Außerordentlichen gegenüber dem Ordentlichen zu sagen (Stichwort: leibliche Habitualisierungen), zur Präferenz nichttheologischer Rechtfertigungen der Menschenwürde gegenüber theologischen (Stichwort: Mut zur Positionalität), zur Präferenz harmonischer Handlungsformen der Seelsorge gegenüber entmächtigenden Formen (Stichwort: Liebe impliziert auch die Befreiung von fremdbestimmtem Müssen). Und schließlich lehren die Diskussionen um eine Ethik der Wahrnehmung, dass der Rekurs auf Phänomene nicht erübrigt, die soziokulturell imprägnierten Bedeutsamkeitshorizonte, die un­sere Wahrnehmung des Anderen immer schon leiten, zu thematisieren.