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Ausgabe:

Mai/2000

Spalte:

521–523

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Vouga, François

Titel/Untertitel:

An die Galater.

Verlag:

Tübingen: Mohr 1998. VIII, 162 S. gr.8 = Handbuch zum Neuen Testament, 10. Kart. DM 68,-. ISBN 3-16-147002-8.

Rezensent:

Michael Bachmann

Nach fast neun Jahrzehnten wird der 1910 von H. Lietzmann vorgelegte Kommentar (41971) nun durch eine neue Auslegung abgelöst. F. Vouga lässt den Einfluss des zwischenzeitlich geführten Gesprächs sogleich in Vorwort (V f.) und Einleitung (1-12) erkennen, ferner u. a. in den (fünf) Exkursen, zumal in den beiden zum "Gesetz im Galaterbrief" (92-96) und zum "Problem der Konkurrenten ... in Galatien" (159-162). So werden hier die jüngeren Diskussionen über die nord- und südgalatische Hypothese (9-12.161 f.), über die Zugehörigkeit des Schreibens an die galatischen Gemeinden zu einer (bestimmten) Paulusbriefsammlung (3-5.9 f.154), über eine mögliche rhetorische Klassifizierung des Briefes (bes. 5.8 f.) und über einen etwa vorauszusetzenden "covenantal nomism" (bes. V. 93 f.) aufgegriffen, die nicht zuletzt mit den Namen C. Breytenbach, D. Trobisch, H. D. Betz und E. P. Sanders verbunden sind. Trotz der hinzugekommenen Literatur gelingt es V., den Umfang des Kommentars, wie es der Reihe HNT entspricht, überschaubar zu halten. Allerdings ist das auch damit erkauft, dass exegetische Grundinformationen, wie sie für den entschieden knapperen Lietzmannschen Band (31932: 46 S.) besonders charakteristisch waren, nicht mehr in gleichem Maße zur Verfügung gestellt werden. Zum Beispiel fehlt (13 f.) eine Liste der "alten Kommentare" (Lietzmann, 2) - und unter den späteren vermisst man jedenfalls (die M. Luthers und ) den Th. Zahns -; ebenso sucht man (etwa) im Blick auf ÏÙ (1,2) und ÏÙË (3,1) vergeblich nach epigraphischem Material (9-12.17 f.66 f. 161 f.; anders: Lietzmann, 3 f.).

Methodisch liegt bei V. der Akzent eindeutig auf der Synchronie (s. z. B. V. 63). Die Hauptaussage des Schreibens, sein eigentliches und "einziges Thema" (7), soll "apokalyptisch-eschatologischen Charakter" tragen (V; vgl. 7; jeweils Hinweis auf J. L. Martyn): "Aus der Offenbarung des Gekreuzigten als des von Gott gesandten Gottessohnes ergibt sich die Notwendigkeit einer Neudefinition des Gottes- und des Zeitverständnisses" (6; vgl. 93), und 3,13 bezeichne dabei "die logische Verbindung zwischen" der Christusoffenbarung und der Einsicht in die "tödliche Macht, die das Gesetz durch das Leben ergon nomu bekommt" (94 [Hinweis auf R. G. Hamerton-Kelly]; bei V. teils kursive, vgl. 4.61 f.75 f.). Diese Grundlinie prägt, V. zufolge, stringent den Aufbau des Briefes (im Anschluss an das Präskript [1,1-5]), der von einer "systematischen Reihenfolge der Themen" bestimmt sei (4; vgl. WUNT 59, 12f.: H. D. Betz und E. P. Sanders): "Ein autobiographischer Bericht ... als Beleg für die Autorität des paulinischen Gottesevangeliums" (6: bis 2,21) werde abgelöst von einer Reihe von Neudefinitionen traditioneller Topoi wie Glaube, Erbe Abrahams und Gesetz (s. VIII.6.93: bis 3,29), von - ihrerseits durch eine "Neubestimmung der Abrahamssohnschaft" (6: 4,21-5,1) unterbrochenen- imperativischen Passagen (VIII.6.95f.: 4,1-20; 5,2-12; 5,13-6,10) und abgeschlossen durch eine "eigenhändige Subskription": (153: 6,11-18). Obwohl insbesondere die "Neudefinition der Bedeutung und der Rolle des Gesetzes im Kontext einer ... jüdischen Selbstdefinition" erfolge (93), sei doch bei der mit "Mensch"/"Gott" (1,10-12) einsetzenden und über ek pisteos/ex ergon nomu (2,16) bis hin zu "Welt"/ "neue Schöpfung" (6,14 f.) - und "Israel" (!)/"Israel Gottes" (6,16) - reichenden Kette von Oppositionen (7 f.) ein letztlich den Menschen an sich betreffender Sachverhalt im Blick, der zugleich für die Moderne erhebliche Bedeutung gewonnen habe: "die Unterscheidung zwischen der Person und ihren Eigenschaften" (V; vgl. z. B. 58.95.120.160).

Sympathisch wirkt die Offenheit gegenüber unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten (z. B. 5.10-12.59.75), wie denn V. auch den Mut gehabt hat, das zunächst (mit H. D. Betz) der dikanischen Gattung zugerechnete Schreiben später (mit G. A. Kennedy) dem genus deliberativum zuzuordnen (ZNW 75, 1984, 259[-269]; 79, 1988, 291 f.) und auch diese Einschätzung durch die (nun [3-5; vgl. 9 f.] freilich nur vorsichtig angesprochene) These zur relativieren (s. FS J. Ernst 1996, 243-258, bes. 254), das uns vorliegende Dokument sei gar "kein Brief an die Galater, sondern eine systematisierende und verfeinerte Zusammenfassung des Römerbriefes und der Korintherbriefe": "das Testament des Paulus" (ebd., 250). Aber mit diesem Zug hängen auch die heiklen Seiten des Kommentars zusammen.

Zum einen wird m. E. zu viel offengelassen (bzw. zu wenig mit Wahrscheinlichkeitsurteilen operiert) oder für vereinbar gehalten. Das erstere dürfte z. B. für die Datierung (3[-5]: es "ist der Platz des Gal unentscheidbar"), für die Interpretation der erga nomu ("Dienst des Gesetzes" [u. a. 58; Hinweis auf E. Lohmeyer] oder "zunächst die ... Reinheitsgebote" [94]; primär sie [ebd.] oder doch "Symbole des ganzen Gesetzes" [58], ja allgemein-anthropologisch: Hinweis auf menschliche "Eigenschaften und Qualitäten" [ebd.]) und des mit ihnen (in 3,10 [vgl. 3,22]) verknüpften Fluchs (als Ursache entweder Nichterfüllbarkeit oder Fixierung auf das Tun oder "Wechselspiel" von beidem [74]; "Zweideutigkeit" [94]) gelten, das letztere etwa für die bis in die Übersetzung hinein (51 [2,16]; anders [trotz 83]: 81[3,22]) unentschieden gelassene (und angeblich "nicht den Sinn der Mitteilung" 2,16 beeinflussende [59]) Alternative, "ob man Jesu Christu als Gen. obj. oder als Gen. subj." zu verstehen hat (59).

Zum anderen werden dann doch nicht selten Entscheidungen getroffen, ohne dass die dafür relevanten Faktoren hinreichend abgewogen worden zu sein scheinen. So ist es angesichts der zahlreichen (nicht zuletzt den Bezug auf Gen 15,6 [bzw. Parallelen] einschließenden) Entsprechungen zwischen Galaterbrief und 4QMMT (s. NTS 43, 1997, 147-153 [J. D. G. Dunn]; vgl. ThZ 49, 1993, 1-33, bes. 27-31; ZNW 89, 1998, 91-113, bes. 91-99 [M. Bachmann]), aber auch angesichts von Röm 2,15 (und 4,6), kaum überzeugend, wenn V. argumentiert: "Wegen der sinngebenden Funktion der Präpositionen [ek und dia] ist mcsj hrwrh in 4QMMT [C 27] ... keine sachliche Parallele zu den paulinischen [erga-nomu-] Formulierungen" (58). Da in 1,4 sogleich der Aspekt der Sünde(n) ins Bewusstsein gerückt wird (vgl. 2,20) und da "the catchword kataratos von 3,10 (bzw. Dtn 27,26) nahezu unmittelbar auf 3,13 (bzw. Dtn 21,23) bezogen ist (BEThL 73, 345-350 [C. M. Tuckett], 349), ist es äußerst schwierig (s. ebd., 340: "one cannot"), speziell 3,13 als Verbindungsglied von Christologie und Soteriologie zu benennen, das Paulus eine neue Einschätzung des Gesetzes ermögliche (s. o.). Dass wieder einmal die Wendung o onontoi galatai von 3,1 als "ausschlaggebend für die alte, klassische ,nord’galatische Hypothese" gewertet wird (11), leuchtet so ebenfalls kaum ein; die Untersuchungen zum paulinischen wie zum sonstigen Sprachgebrauch (s. nur WUNT 71 [R. Riesner], bes. 254-259) und zur Geschichte des frühen Christentums in der Provinz Galatien (s. nur AGJU 38 [C. Breytenbach], bes. 125 f.165-171) zwingen zumindest zu mehr Vorsicht (s. z. B. NTD 188/1, 14-16 [J. Becker]).

Insgesamt fallen hier und auch darüber hinaus die Entscheidungen eher im Sinne des im deutschsprachigen Raum seit längerem Üblichen, und das finde ich nicht selten bedauerlich (vgl. dazu WUNT 59, 130-139.148 f. [samt Anm. 162.265]; NTOA 40, 146 f. [samt Anm. 52].159-180 [vgl. 81-158]; jeweils mit Lit.), z. B. bei der Einschätzung der 1. pers.plur. in 3,13 (u. ö.) (75 ["nicht den ethne heilsgeschichtlich gegenübergestellt"]; vgl. 9), des schwierigen Verses 3,20 ([82-]84): "Syllogismus"; "Gott dem Gesetz fremd"), des Imperativs von 4,30 (bzw. Gen 21,10) (115 [vgl.119]: "direkte Empfehlung") und des Ausdrucks "Israel Gottes" von 6,16 (8.157 f.). Der Kommentar ist insofern nur wenig von dem bestimmt, was J. D. G. Dunn "the New Perspective on Paul" (BJRL 65, 1983, 95[-122]; vgl. KuI 11, 1996, 3[-18] [Ch. Strecker]) genannt hat. Damit ist indes nicht gesagt, dass V.s Auslegung nicht auch Erwägungen böte, die man eher dort, also im Rahmen einer weniger anthropologisch als soziologisch orientierten Exegese, einordnen würde, die bei diesem Schreiben insbesondere den Hinweisen (s. 1,14; 2,13.7-10 usw.) auf die vorgegebene Grenze zwischen Judentum und "Völkern" besondere Aufmerksamkeit schenkt. Hierhin stellen lassen sich insbesondere die Überlegungenen zum âaÓ Ì von 2,16 (58.95; vgl. BJRL 65, 1983, 112 f. [J. D. G. Dunn]), zum parabates von 2,18 (60; vgl. WUNT 59, VII: J. Lambrecht; M. Bachmann), zum ton parabaseon charin von 3,19 (82 f.; Hinweis auf Ch. Burchard) und zu der paidagogos-Metapher von 3,24 (samt Kontext) (bes. 88.93; Hinweise auf L. L. Belleville, D. J. Lull und N. H. Young). - So wird man den neuen HNT-Band fraglos mit Gewinn konsultieren können, auch wenn er manchen Wunsch unerfüllt lässt.