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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

834–836

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Parker, Geoffrey

Titel/Untertitel:

Der Kaiser. Die vielen Gesichter Karls V. Aus d. Engl. v. Th. Bertram, T. Gabel u. M. Haupt.

Verlag:

Darmstadt: wbg Theiss 2020. 878 S. m. zahlr. Abb. u. Ktn. Geb. EUR 50,00. ISBN 9783806240085.

Rezensent:

Jobst Reller

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Schilling, Heinz: Karl V. Der Kaiser, dem die Welt zerbrach. Biographie. 3. Aufl. München: C. H. Beck Verlag 2020. 457 S. m. 40 Abb. u. 3 Ktn. Geb. EUR 29,95. ISBN 9783406748998.


Wohl zum 500. Gedenktag an die Begegnung Martin Luthers und des 1519 gewählten deutschen Königs und erwählten Kaisers Karls V. 1521 in Worms erscheinen zwei Biographien über den Letztgenannten, der von 1500–1558 lebte. Man mag sich aussuchen, ob das Datum 1519 oder 1521 leitend ist. Bedeutend sind sie beide. Die Begegnung zwischen einem Kaiser, in »dessen Reich die Sonne nie unterging«, und einem »Mönchlein« aus der kursächsischen Provinz wurde von Anfang an als außergewöhnlich empfunden und erinnert . Heinz Schilling ist emeritierter Professor für Europäische Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin und vollendet mit dieser Biographie sein »Triptychon« aus einer Biographie über Martin Luther (2017) und das Jahr »1517. Weltgeschichte eines Jahres« (2019). Geoffrey Parker ist emeritierter Professor für die Geschichte der Frühen Neuzeit an den Universitäten Cambridge/Großbritannien und Yale, bzw. Ohio State University in den USA. Parkers Buch besticht durch seine thematischen Exkurse zu Einzelproblemen der Forschung am Ende, z. B. »Die Memoiren des Kaisers« (626 ff.), »Das Nachleben des Körpers« Kaiser Karls V. (629 ff.), »Die letzten Instruktionen an Philipp II.« (633 ff.), »die Infantin Isabella von Kastilien« (636 f.), die synoptische Zeittafel (643–662) und ausführliche Hinweise zu den Quellen (670–715). Parker liefert damit dem historisch Interessierten oder Studierenden Hilfsmittel zur selbständigen historischen Arbeit. Ein Register der Personennamen versteht sich in beiden Werken von selbst, Schilling gibt auch eines für die erwähnten Orte. Beide Werke haben den Forschungen des Göttinger Historikers Karl Brandi Grundlegendes zu verdanken.
Schilling wählt eine chronologische Gliederung, indem er markante Stationen des Lebensweges schildert und exemplarisch deutet: 1. Gent 24.2.1500, 2. Valladolid 23.11.1517, 3. Frankfurt 23.6.1519/ Aachen 23.10.1520, 4. Worms 1521, 5. Paris 24.2.1525, 6. Sevilla 10.3. 1526, 7. Bologna/Augsburg 1530, 8. Tunis 1535, 9. Leyes Nuevas 1542, Mühlberg 24.4.1547, Villach Mai 1552, Brüssel 1555/6, Yuste 22.9. 1558. Parker erzählt die Lebensgeschichte fortlaufend und fokussiert jeweils auf ein Porträt am Ende einer Lebensphase: I. Der junge Mann (1500–1517), II. Der Renaissancefürst (1517–1531), III. Der Erfolgreiche »in seinen besten Jahren« (1531–1548), IV. Niedergang und Bilanz (1548–1558). Naturgemäß erhält die Ereignisgeschichte in Parkers Darstellung mehr Raum.
Jedes der beiden gediegenen Werke für sich im Detail vorstellen zu wollen, wäre angesichts des Umfangs dieser Rezension vermessen. Aber vergleichende Stichproben bieten sich an, Karls Tod, Worms 1521, Wittenberg 1547 und die Kolonialpolitik in Amerika. Karl starb 1558 an einer Malariainfektion im Kloster Yuste. Beide Autoren behandeln die Frage, ob er doch dem Luthertum faktisch näher stand, als sein letztes Kodizill zum Testament vom 9.9.1558 vermuten ließ, der Auftrag »an seinen Sohn, die Ketzerei auszurotten«, »Lutheraner […] streng zu bestrafen« (Parker, 573). Karl besaß eine Bibel in Landessprache wie seine Schwestern Maria und Eleonore, ließ sich von Erzbischof Carranza auf dem Totenbett einzig mit dem Bild des gekreuzigten Christus und dem ganzen Vertrauen auf dessen Leiden trösten. Die Worte Carranzas »Alles andere ist lächerlich« wie auch der Besitz einer landessprachlichen Bibel reichten im Nachgang im Spanien der Zeit zum Ketzerprozess (Parker, 573 ff.). Parker lässt die Frage offen, Schilling verweist auf die Erziehung Karls durch Reformkatholiken wie Adrian von Utrecht, den späteren Papst Hadrian VI., und Erasmus von Rotterdam, auf die »noch nicht zertrennte[n] Gemeinsamkeit der Christusfrömmigkeit« (Schilling, 367). Schilling gesteht Karls Einheits- und Friedensidee einer europäischen »Christianitas« in einer vorkonfessionalistischen oder fundamentalistischen Form trotz aller Differenz d urchaus eine mögliche Bedeutung für den europäischen Ge-danken heute zu (Schilling, 388.145). Allerdings machte sich an »Lu­thers Theologie der christlichen Freiheit« ein ebenso ge­schichtswirksames Phänomen der Moderne fest: der »libertär-republikanische[r] Bürgergeist«, der »Selbstbestimmungswillen des Stadtbürgertums« (Schilling, 314).
Beide betonen an den Ereignissen in Worms 1521 die Korrespondenz der Gewissensbindung des einen, Luthers, an das biblische Wort und Vernunftsgründe und des anderen, Karls, der eine Entgegnung am selben Abend nach Luthers berühmten Worten mit eigener Hand niederschrieb, an die kaiserliche Tradition. Ausgehend von einem Gedanken Bernd Moellers standen sich die zwei großen Gegenspieler eines Zeitalters gegenüber, der eine, der Erneuerung der Christianitas aus dem Evangelium erhoffte, der andere aus kaiserlicher Tradition (Schilling, 134). Parker betont entgegen Karls vorsichtigem Taktieren die spanischen Stimmen, die unmittelbar am Versammlungsort die Todesstrafe für Luther forderten oder Schützenhilfe durch Briefe Adrians von Utrecht aus Spanien erhielten (163.165).
Schilling schildert ausführlich die im Wesentlichen auf jüngere mündliche Traditionen zurückgehenden Überlieferungen zu Karls Gang an das Grab Luthers nach der siegreichen Schlacht bei Mühlberg und seinen Widerstand gegen eine Behandlung der Gebeine Luthers als Ketzer, wie sie spanische Stimmen gefordert haben sollen. Karl ließ »gleichermaßen politisches Kalkül wie überkonfessionelle christliche Humanität« walten (Schilling, 293 ff.). Parker er­wähnt eine Tradition eher beiläufig, ohne sie näher auszudeuten. Den von den sächsischen Truppen durch Johannes Aurifaber gefeierten Feldgottesdienst vor der Schlacht erwähnt er nicht. Sein Augenmerk liegt auf dem Umstand, dass Karl im Vorfeld des Krieges konsequent lügt, wenn es um seine wahren Absichten geht (Parker, 384 f.). Das herrliche Brandische Diktum, dass der bekundete Friedenswille »noch immer nicht ganz unwahr«, aber doch eigentlich noch »weniger ganz wahr« war, zitieren beide (Parker, 387.396 ff.; Schilling, 287). Schilling urteilt vorsichtiger, dass es Karl gelinge, seine wahren Absichten lange zu verbergen.
Die Eroberung und Unterwerfung der karibischen Inseln, Mexikos und Perus wird in beiden Werken detailliert geschildert. Schilling urteilt, dass Karl nur an den Einnahmen interessiert gewesen sei und für die Leiden der Eingeborenen wenig Empathie besessen habe. Allein der Misserfolg vor Algier habe, als Gottes Zorn gedeutet, Karls Gewissen irritiert und seine skrupulöse religiöse Natur zum Erlass der neuen Gesetze veranlasst. Allerdings habe Karl im Sinne des zeitgenössischen Staatsgedankens wissenschaftlich fundierte Besserung der Verhältnisse auch wirklich zu fördern ge­sucht. Die wissenschaftliche Diskussion zwischen Bartholomé de las Casas und Juan Ginés de Sepúlveda um die naturrechtliche, nach Aristoteles vollständige vernünftige Humanitas der indigenen Völker wirkte sich leider auf die Praxis vor Ort wenig aus. Das von Horst Pietschmann übernommene Urteil wirklicher »humanitäre[r] Sorge« bleibt m. E. unausgeglichen neben dem ersten, o. g. stehen (Schilling, 261–282: 269 f.276.278–282). Parker widmet diesem Aspekt der »Zähmung Amerikas« erwartungsgemäß mehr Raum (413–450). In Karls Regierungszeit falle die Erweiterung des Landes, die Einrichtung einer Verwaltung und kirchlichen Hierarchie mit drei Erzbistümern. Karl habe sich den Argumenten von Bartholomé de las Casas mit anhaltendem Interesse für die indigene Bevölkerung geöffnet, diese entsprechend durch Importgenehmigungen für Kontingente afrikanischer Sklaven zur Arbeit in den Goldm inen geöffnet. Dabei wird auch die Augsburger Handelsgesellschaft der Welser schon 1528 tätig. Natürlich hätten die Goldgewinne auch Kriege wie den gegen Tunis 1535 oder die Belagerung Parmas 1551/2 ermöglicht (Parker, 413 ff.). Die Rücknahme des vom Eroberer Mexikos Cortes nach 1521 eingeführten Systems der Grundherr- und Leibeigenschaft der »encomienda«, von Karl vor dem tunesischen Abenteuer dem Eroberer Perus Pizarro 1532 offiziell gestattet, durch die »neuen Gesetze« 1542 führte zur Rebellion der Siedler in Peru, die den Bestand spanischer Herrschaft, Wirtschaft und Mission durch Befreiung der indigenen Bevölkerung gefährdet sahen. Pikanterweise ruderte Karl zumindest taktisch zurück, als er im Schmalkaldischen Krieg 1546 einen freien Rücken brauchte (Parker, 420.433 f.438). Parker ist geneigt, Karl zumindest in der Frühzeit aufrichtiges humanitäres Engagement für die in-digene Bevölkerung, wenn auch nicht für die Sklaven aus Afrika zuzugestehen. Interessant ist, dass Karl wie viele Fürsten seiner Zeit das erfolgreiche Ergehen unmittelbar mit Gott wohlgefälligem Tun etwa im Kampf gegen den Unglauben nach dem Gedanken der Landeswohlfahrt zusammenbringt – im Prinzip dasselbe Gedankenmuster wie bei vielen protestantischen Landesfürsten seiner Zeit (Parker, 432.442.449; Schilling, 286 ff.).
Blickt man auf das Kaiserleben Karls zurück, so ist kaum ein Jahr des Friedens dabei, in dem nicht Krieg geplant oder geführt wurde. Parker bescheinigt Karl im Schmalkaldischen Krieg ausgesprochenes militärisches Führungsgeschick. Jedenfalls führt Karl wie ein mittelalterlicher »defensor fidei« in den Kriegen in Nordafrika, in der neuen Welt, gegen die Osmanen und Protestanten, auch wenn er dies kaschiert, »heilige Kriege«, treibt wie manch anderer seiner Zeit mit religiös motivierter militärischer Gewalt Politik (439 ff.; vgl. Jobst Reller: Die Anfänge der evangelischen Militärseelsorge und Soldatenfrömmigkeit, Berlin 22021, 38.41.49–56.83.119).
Pizarro beim »Timing« der Eroberung Perus »eine glückliche Hand« zu attestieren (Parker, 428), wirkt allerdings wie Hohn. Möglicherweise ging bei der ansonsten vorbildlichen Übersetzung ins Deutsche ein ironischer Nebensinn verloren.
Parker gelingt eine Biographie, die im Verlauf der Ereignisgeschichte viel Raum für das Widersprüchliche der Persönlichkeit Karls V., seine vielen Gesichter, lässt, die sich der Eindeutigkeit entziehen. Schilling schildert Karl V. geistesgeschichtlich als die Herrschergestalt, der nicht nur die Welt, sondern die eine »Christianitas« Europas zerbrach. Beide werden je auf ihre Weise ihren Titeln ge­recht.