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Ausgabe:

September/2021

Spalte:

826–829

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Quenstedt, Jan

Titel/Untertitel:

Diakonie zwischen Vereinslokal und Herrenmahl. Das Konzept diakonischen Handelns im Licht antiker Vereinigungen und früher christlicher Gemeinden.

Verlag:

Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag 2020. 612 S. = Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, 31. Geb. EUR 108,00. ISBN 978377 2087103.

Rezensent:

Klaus Scholtissek

Mit seiner neutestamentlichen Dissertation an der Theologischen Fakultät in Leipzig betritt Jan Quenstedt neue Wege in einer aktuellen exegetischen und diakoniewissenschaftlichen Debatte: Es geht um nicht weniger als die biblische Grundlage bzw. das bib-lische Profil von »Diakonie« im Zeugnis des Neuen Testaments einerseits und der professionellen bzw. ehrenamtlichen Diakonie in der Gegenwart andererseits. Diese Aufgabenstellung geht Q. in drei großen Schritten an:
Im ersten Hauptteil »›Diakonie‹: Annäherungsversuche« (23–129) reflektiert und rekapituliert Q. das Wortvorkommen von διακονέω κτλ. im Neuen Testament (101 Belege) und in der Septuaginta (sieben Vorkommen), aktuelle diakoniewissenschaftliche Diskurse sowie Positionen in Denkschriften und Leitbildern der verfassten Kirche bzw. verfassten Diakonie in der Gegenwart. Dann wird die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD befragt und die jüngere exegetische Forschungsgeschichte zum Verständnis von διακονέω κτλ. vor Augen geführt.
Im forschungsgeschichtlichen Überblick werden wichtige Beiträge vorgestellt und gewürdigt: »Studienbuch Diakonik« (hg. v. V. Herrmann/M. Horstmann); »Diakonisches Kompendium« (hg. v. G. Ruddat/G. K. Schäfer); »Diakonische Konturen« (hg. v. V. Herrmann); »Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit« (H. Haslinger); »Diakonik« (hgg. v. J. Eurich/H. Schmidt); sowie die exegetischen Positionen von H. W. Beyer, J. N. Collins, A. Hentschel. Im Ergebnis (vgl. 131 f.) scheint sich Q. den Positionen von Collins und Hentschel anzuschließen. Er vertritt die steile, zugespitzte These: »Darin wurde durch die Darstellung der Ausführungen von Beyer, Collins und Hentschel deutlich, dass keine Konvergenz zwischen dem griechischen Lexem διακονέω und seinen Derivaten und dem vorherrschenden Verständnis des deutschen Terminus ›Diakonie‹ besteht. Sowohl das griechische als auch das deutsche Lexem haben unterschiedliche Zielsetzungen und inhaltliche Füllungen. Dieser Umstand problematisiert bzw. verhindert eine biblische Begründung dessen, was gemeinhin unter dem Begriff der ›Diakonie‹ bzw. des diakonischen Handelns verstanden wird« (143). Dieser These stehen jedoch zentrale Ergebnisse seiner eigenen Textauslegungen entgegen (s. u.).
Der zweite Hauptteil »›Diakonie‹ und Vereinigungen« (131–301) beinhaltet den innovativen Schwerpunkt der Monographie: Ausgehend nicht vom Wortvorkommen von διακονέω κτλ., sondern von einem Konzept diakonischen Handelns (s. im Folgenden) analysiert Q. ausgewählte Inschriften von Vereinigungen in der zeitgenössischen Umwelt der neutestamentlichen Gemeinden. Diese Inschriften werden der Zielsetzung entsprechend hinsichtlich ihres »sozial-fürsorglichen Handelns« (135) analysiert und interpretiert. Dabei versteht Q. »›Diakonie‹ nicht als einen Begriff, sondern als ein Konzept […], dem vielfältige Handlungsbezüge zugehörig sein können« (142). Inhaltlich bestimmt er dieses Konzept wie folgt: Es geht um den Verzicht auf einen »Gewinn an Finanz- und Sachmitteln«, ist also »nicht auf materielle Reziprozität ausgelegt« (145). »Anders ausgedrückt muss die Hilfeempfängerin bzw. der Hilfeempfänger die Helferin bzw. den Helfer Anteil haben lassen an ihrer bzw. seiner Situation unter der Perspektive einer möglichen Veränderung dieser Situation aus der Anteilnahme ihres bzw. seines Helfenden heraus« (145). In der Sache geht es also um altruis-tisches Handeln (vgl. 145–148.299).
Aufbauend auf der bisherigen Forschung zum Vereinswesen im Römischen Reich (vgl. 164–180) – Q. bevorzugt den Terminus »Vereinigung« (vgl. 180–183) – sowie Ausführungen zu rechtlichen und strukturellen Grundlagen der Vereinigungen werden ausgewählte Inschriften analysiert. Kriterien für die Auswahl der Inschriften sind: temporäre, geographische, situative und soziologische Plausibilität (vgl. 139–142). Drei Vereinigungsstatute (Lanuvium; Thessaloniki; Athen) sowie die Würdigungen von sechs einzelnen Personen (Vereinigung der Oregonen: Chaireas; Vereinigung der Attalistai: Kraton; Vereinigung der Soteriasten: Diodoros; Vereinigung der Anhänger des Dionysos Breiseus: Cherisophos; Würdigung des Herakleitos; Würdigung der Atalante) werden interpretiert im Blick auf das in ihnen begegnende sozial-fürsorgliche Handeln. Dabei fällt die für Inschriften typische Verwendung »gängiger sprachlicher Konventionen« (294) ins Gewicht, die eine gewisse Unschärfe mit sich bringt und deshalb zu vorsichtigen Interpretationen verpflichtet.
Q. hält folgende Ergebnisse fest: Nutznießer für ein Verhalten, das dem Konzept sozial-fürsorglichen Verhaltens entspricht, sind mit zwei Ausnahmen (Getreidespende der Atalante; Menschenfreundlichkeit der Oregonen) ausschließlich die Mitglieder einer Vereinigung. »Dieses fürsorgliche Handeln ist gemeinhin nicht frei von Vorleistungen, insoweit Vereinigungsmitglieder für ihre Mitgliedschaft Gebühren und Beiträge entrichteten und nicht jede Interessentin bzw. jeder Interessent in jeder Vereinigung Mitglied werden konnte.« (295) Herausgehobene Bedeutung kommt dem Patron bzw. den Patroninnen zu, deren Engagement jedoch deutlich mit einem »Zugewinn an Prestige« korrespondiert. Bei den Würdigungen einzelner Personen (Euergeten) steht ihre Vorbildfunktion im Vordergrund. »Jedoch zeigte sich auch, dass es größtenteils von Menschen an den Tag gelegt wurde, die bereits einen finanziellen Vorteil gegenüber anderen Vereinigungsmitgliedern besaßen, d. h. nicht auf eine Rückvergütung angewiesen waren. Ein ideeller Ausgleich der aufgewendeten Mittel erfolgte durch die epigraphische Würdigung, welche als eine Art Gegenleistung zu verstehen ist, die als Währung Anerkennung und Dankbarkeit offerierte und damit zum Prestige der geehrten Persönlichkeit beitrug« (299). »Aus den Inschriften ergibt sich, dass das Konzept diakonischen Handelns nicht zum strukturellen und ideellen Proprium der Vereinigungen gehört.« (299)
Auf dieser Basis und im ständigen »phänomenologischen« (vgl. 18.194–197) Vergleich mit dem Zeugnis der Inschriften wendet sich Q. im dritten Hauptteil (303–520) den neutestamentlichen Schriften zu. Hier gliedert er systematisch nach den »anhand der Inschriften gewonnenen Problembereichen« (305 f.): »Gruppendynamik«, »Ga­ben, Güter und Mahlzeiten«, »Bestattung«, »Philanthropie« und »Philothimia«. Unter der Überschrift »Gruppendynamik« und dem Teilkapitel »Hierarchie« wendet sich Q. der Auslegung von Mk 8,31–9,1; 9,30–37 und 10,41–45 sowie Lk 22.24–27 zu (vgl. 315–336): Sowohl für Lk 22,24–27 als auch für Mk 10,41–45 kommt er zu dem Ergebnis, dass es hier um eine »Top-down-Inversion von Status und Rolle« (326; Zitat von Michael Wolter) geht. Diese Top-down-Inversion wird bei Lukas und Markus christologisch begründet: »Im Vergleich mit Markus 10 ist festzuhalten, dass das Evangelium die Ausführung von mit Hierarchie und Macht verbundenen Aufgaben mit einem Ethos verbindet, das der Evangelist an das Leben und Verhalten Jesu rückbindet und an seiner Person orientiert sein lässt« (334). Diese Auslegung steht konträr zu der Interpretation von J. N. Collins und A. Hentschel, die διακονέω κτλ. ausschließlich als funktionale Auftragserfüllung deuten und jeden christologisch rückgebundenen Statusbezug in der neutestamentlichen Verwendung von διακονέω κτλ. ablehnen. Es ist deshalb nicht nachvollziehbar, weshalb die hier vorgestellte Auslegung von Mk 10,45 bei der Entwicklung der Fragestellung der Arbeit zunächst zurückgewiesen wird (vgl. 132).
Am Beispiel des 1. Timotheusbriefes untersucht Q. die Rollen von Episkopen, Diakonen, Witwen, Presbytern, Sklaven und Reichen. Im Vergleich mit den Aussagen der Vereinigungsinschriften kommt er zu dem Ergebnis, »dass die christliche Gemeinde nicht nur einen Raum für wechselseitige Anteilgabe und -nahme bot, sondern vielmehr diese grundsätzlich von ihren Gliedern erwartete oder sogar einforderte. Anhand des Kreises der Witwen (vgl. 1Tim 5,10) und der Gruppen der Reichen (vgl. 1Tim 6,18) zeigt sich, dass sich dieses wechselseitige Geschehen jeweils im Rahmen persönlicher Möglichkeiten vollzog und nicht auf einen materiellen Ge­winn abzielte. Dieser Zusammenhang entspricht dem Konzept diakonischen Handelns« (379). Für 1Tim hält Q. fest: »Dass der Be­griff διακόνος eine Vorstellung von Dienst impliziert, steht außer Frage« (345).
Das Konzept diakonischen Handelns sieht er auch in 1Kor 6,1–11 und Gal 6,1–5 belegt (vgl. 379–398: »Strategien zur Lösung von Problemen und zur Konfliktprävention«). Bei der Interpretation der paulinischen Perikopen zu »Mimesis und Nachahmung« (vgl. 1Kor 4,14–17; 10,31–11,2; 1Thess 2,2–10.13–16; Phil 3,12–21) stellt er insbesondere die christologische Begründung und Gestalt der geforderten Mimesis heraus: »Die aufgezeigte Vorstellung der Mimesis evoziert auch Verhaltensweisen, die dem Konzept diakonischen Handelns zuzuordnen sind. Demnach kann das Konzept diakonischen Handelns als ein praktischer Ausdruck einer persönlichen, christologisch-orientierten Mimesis verstanden werden« (423).
Weitere Themenfelder für die vergleichende Betrachtung der Aussagen in Vereinigungsinschriften und in neutestamentlichen Zeugnissen sind: »Gaben, Güter, Mahlzeiten« (besonders Apg, Paulus); »Bestattung«, »Philanthropie« und »Philotimia«. Hier werden jeweils die Übereinstimmungen mit dem Konzept diakonischen Handelns herausgearbeitet.
Bei der Interpretation der paulinischen Kollekte arbeitet Q. überzeugend die theologische Dimension dieser διακονία (vgl. die Verwendung in 2Kor 8–9) heraus und berücksichtigt auch den Zusammenhang mit 2Kor 5,18: »Durch den Bezug auf die Gnade schafft die Kollekte einerseits einen Ausgleich zwischen den Gemeinden und andererseits stellt Paulus einen Ausgleich zwischen Gott und Mensch durch seine aus der Gnade schöpfende Predigt von Christus her. Im Licht dieses Zusammenhangs erschließt sich auch die Verwendung des Begriffs der διακονία im Kontext von 2Kor 5,18. Hier wird eine Verbindung zwischen dem Begriff der διακονία und dem Begriff der καταλλαγή hergestellt und da­durch der Gedanke des Ausgleichs theologisch profiliert. Durch diesen Zusammenhang wird deutlich, warum die von Hentschel etablierte Kategorie der mit Autorität verbundenen Beauftragung für den Begriff διακονία im Kontext von 2Kor 8–9 zu kurz greift: Das Ansinnen, einen geistlich-materiellen Ausgleich zu schaffen, geht weit über Handlungsvollzüge und Verhaltensweisen hinaus, die sich allein durch eine mit Autorität versehene Beauftragung erreichen lassen« (467; vgl. 450–469).
Die Studie schließt mit »Ertrag« und »Praktisch-theologischen Perspektiven«. Dabei stellt Q. erneut den entscheidenden Differenzpunkt zwischen den Aussagen der Vereinigungsinschriften und den neutestamentlichen Bezugstexten heraus: Das Konzept diakonischen Handelns wird »innerhalb der neutestamentlichen Literatur als ein Ausdruck des soteriologischen Vollzugs in Jesus Christus verstanden« (526) und ist »als ein integratives und gemeinschaftsbildendes Moment zu verstehen, das Solidarität und Ausgleich im Raum der Gemeinde schafft« (528). Es ist schwer zu ver stehen, warum – gerade auf dem Hintergrund der vorgestellten Interpretationen Q.s selbst – die abschließende Definition von »Diakonie« (vgl. 550 f.) ohne jede theologisch-christologische Qualifikation auskommen muss. Hier fällt Q. hinter seine eigenen Ausführungen zurück.
Gleichwohl: Das Buch ist ein großer Gewinn für die exegeti-sche und diakoniewissenschaftliche Diskussion. Der vergleichende Blick auf die Vereinigungsinschriften ist hochinnovativ. Die Be­rücksichtigung neutestamentlicher Perikopen und Themen über den Gebrauch des Lexems διακονέω κτλ. hinaus verbreitert die Basis für eine biblische Begründung diakonischen Handelns in der jeweiligen Gegenwart erheblich. Der interdisziplinäre Ansatz der Studie zeigt, wie exegetisches Arbeiten fruchtbar gemacht werden kann für die Gegenwart.