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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

758-761

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Sigrist, Christoph

Titel/Untertitel:

Kirchen Diakonie Raum. Untersuchungen zu einer diakonischen Nutzung von Kirchenräumen. M. Illustrationen v. D. Lienhard.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2014. 468 S. u. 12-seitige Broschüre. Kart. EUR 60,00. ISBN 9783290177737.

Rezensent:

Ralf Hoburg

Die Idee, das kirchliche Handlungsfeld der Diakonie mit dem ästhetischen Aspekt des Kirchenraumes theologisch in Verbindung zu bringen, ist allein schon deswegen neu, weil diese thematische Verknüpfung sich im Zwischenraum zweier eigentlich heterogener theologischer Felder innerhalb der Fachgebiete der Praktischen Theologie bewegt. Einerseits gründet die 2014 im TVZ-Verlag er­schienene Habilitationsschrift von Christoph Sigrist »Kirchen Diakonie Raum« in seinen Untersuchungen und Forschungen zur Diakoniewissenschaft und andererseits geht die Arbeit darüber hin-aus und sucht Anknüpfungspunkte zum Thema der jüngeren Forschung über den Kirchenraum, d. h. einer Raum-Theologie bzw. Überlegungen zur Kirchennutzung. In der Verknüpfung beider The­mengebiete geht es S. dezidiert um die »diakonische Nutzung« von Kirchenräumen (17). Hier liegt der Anknüpfungspunkt zur Diakonie, der – und das ist ein zweiter interessanter Gedanke – zugleich eine Weiterführung der reformierten Theologie darstellt.
In der Einleitung setzt S. bereits seine Akzente und geht von Wahrnehmungen in der Nutzung von Kirchengebäuden aus. Stadtkirchen bilden öffentliche Repräsentanzen der Religion (21). Gleichzeitig unternimmt S. den Versuch, die Nutzung der Kirchenge-bäude von der reformierten Tradition aus zu klären. Liturgie und Diakonie bilden im Erbe der reformierten Theologie eine Einheit. Gleichwohl ist der Kirchenraum in der Diakoniewissenschaft allgemein bisher nicht intensiver diskutiert worden (27).
Anders als die theologisch-hermeneutischen Untersuchungen nähert sich S. dem Thema des Kirchenraumes im zweiten Kapitel empirisch und greift die ihm zugänglichen Untersuchungen auf, die verschiedene Nutzungsprofile des Kirchenraumes durch Besucherinnen und Besucher jenseits von Gottesdiensten evaluiert ha­ben. Der ästhetische Charakter des Raumes lässt Kirchen zu einem »nicht alltäglichen« Raum werden (71). Für S. wird der Kirchenraum zu einem »Resonanzraum« für Existentialität (74). Wenn man so will, bilden Kirchenorte Anders-Orte.
Dem Feld der »sozialen Resonanz« (95) geht S. in seinem dritten Kapitel nach und erörtert die diakonische Tradition. Hierbei kann er auf eigene frühere Untersuchungen zurückgreifen und führt diese in seiner Habilitationsschrift weiter. Den Anknüpfungspunkt sieht S. hierbei in der anthropologischen Struktur und Relevanz des Helfens. Damit ist zunächst der in der Geschichte der Kirche fest verankerte Monopolanspruch christlicher Nächstenliebe in seiner Exklusivität für soziales Handeln relativiert und es öffnet sich der Raum, helfendes Handeln »als Ausdruck christlicher Mitmenschlichkeit schöpfungstheologisch zu deuten« (97). Die schöpfungstheologische Perspektive des Diakonieverständnisses schafft dann nach S. den Zugang zur »Räumlichkeit helfenden Handelns« (103). S. versucht das helfende Handeln in räumliche Kontexte zu stellen, womit nicht allein der extern ausgerichtete sozialräumliche Blick gemeint ist, sondern das Raumdenken im Sinne einer Gastlichkeit gegenüber dem Fremden im Innenraum der Kirche selbst angesiedelt wird. Diakonische Räume sind – so die Schlussfolgerung des Kapitels – Heterotopien helfenden Handelns (118).
Dem Raum in seiner biblisch-theologischen und dann auch diakonischen Funktion geht explizit das vierte Kapitel in exegetischer Perspektive nach. Hierbei werden verschiedene Raumtypen und Raumkonzepte biblischer Provenienz erörtert wie das Haus, die Synagoge oder die Stiftshütte. Interessant ist, dass hier die besonders in der reformierten Tradition verwurzelte Vorstellung der Einwohnung Gottes an zentraler Stelle erörtert wird. Dem liturgischen Verständnis von Raum tritt hier ein soziales Raumverständnis zur Seite. Kirchenräume können sich damit zu Klageräumen bis hin zu Asylräumen öffnen.
Es ist aus dem angelegten Duktus der Arbeit, der diakoniewissenschaftlichen Einordnung sowie ihrer schöpfungstheologischen Fokussierung heraus stimmig und argumentativ konsequent, dass S. im fünften Kapitel die Betrachtung des Kirchenraumes aus der Perspektive reformierter Theologie vornimmt. Über die diakonische Begründung von Raum wird hier zugleich ein konfessionsspezi-fischer Zugang zu einer Raumtheologie eröffnet. Der Kirchenraum unterliegt einer transformativen Kraft. Durch Entsakralisierung öffnet sich der Raum zu einem ästhetisch-ethischen Raum, der den Blick auf die Not der Menschen frei macht. Auf diese Weise zeigt S. die Transformation des sakralen zum diakonischen Raum. Die diakonische Räumlichkeit wird im Folgenden in unterschiedlichen Facetten als Teil der Stadtöffentlichkeit dargestellt. In diakonischer Perspektive vollzieht sich im Kirchenraum »der Blick zum Anderen hin und vom Anderen her als Grundzug menschlicher Verantwortung und Hilfe« (208).
Auf dieser Spur bleibend entfaltet das sechste Kapitel die diakonischen Funktionen des Kirchenraumes im Einzelnen. S. steigt in ein konstruktivistisches Raumverständnis individueller Aneignungs- und Deutungsprozesse ein. Weiterführend über die Literatur der Raumrezeption in der Praktischen Theologie greift S. explizit auf das raumsoziologische Theorem von Martina Löw zurück. Danach entsteht Raum bewusst als Syntheseleistung des Rezipienten. Es gelingt S. immer wieder, durch Umdeutung traditioneller Begrifflichkeiten die soziale Bedeutung des Kirchenraumes in hermeneutischer Prinzipialität zu erklären. Mit den Begriffen »Offenheit, Respekt und Präsenz« wird die soziale Dimension des Raumes unterstrichen und dann in Aufnahme der Überlegungen des Franzosen Pierre Bourdieu von Ungleichheit, Macht bzw. der Herstellung von Gleichheit verbunden. Diese Rezeption dient der theoretischen Herleitung der Sozialität des Raumes.
Die Absicht der Theorie in der neuen Begründung von Raum wird deutlich, wenn S. als letzten Aspekt neben Relationalität und Sozialität den Begriff der Potentialität einführt, wie er anhand von Winnicott erörtert wird. Dem Aspekt des Sozialen in der Raumbegründung tritt nun das intermediäre Feld zur Seite. Der Raum enthält die Potentialität von Möglichkeiten, Erfahrungen und Entwicklungen, die offen sind zum Religiösen (266). Indem der Erfahrungsbezug in die Erörterung mit hinzutritt, öffnet sich der Raum zu der Möglichkeit eines performativen Geschehens. In Aufnahme der Literatur kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass der Raum »Alteritätserfahrungen« ermöglicht. Für S. kulminieren die Begrifflichkeiten von Relationalität, Sozialität und Potentialität in den Termini der »Gastlichkeit«, der »Verbindlichkeit« und der »Befreiung«. Ihre Anordnung finden sie in der schematischen Darstellung auf S. 401, die die Dimensionen der diakonischen Nutzung von Kirchenräumen komprimiert enthält.
Nach den argumentativ sehr dicht geschriebenen und mit viel Detailwissen angereicherten theoretischen Grundsatzerörterungen der Kapitel fünf und sechs soll in den letzten Kapiteln der Arbeit die Praxisrelevanz der entworfenen Raumtheorie anhand von Kriterien und Handlungsperspektiven aufgezeigt werden. Verschiedene theoretische Linien laufen hier wiederum zusammen: Ausgehend von der Funktion eines Kirchenraumes kommt die ordnende Funktion in den Blick, aber auch die Annahme hat Relevanz, dass die die Kirche aufsuchende Person selbst definiert, mit welcher Funktion und Ab­sicht sie den Kirchenraum aufsucht. Diakonische Funktionen liegen dann vor, wenn »Personen im Raum Hilfe suchen, erwarten und finden« (291). In Anwendung der sozialen und diakonischen Dimension stellt sich der Kirchenraum zunächst als »Gastraum« dar, in dem Gastlichkeit existiert und Gastfreundschaft praktiziert wird. Der Gastraum weist eine spezifische Struktur auf, deren Ordnungskriterium die Offenheit darstellt. Gastraum, Gastlichkeit und Gast sind (in Parallelität zu Relationalität, Sozialität und Potentialität) so einander zugeordnet, dass mit der »Aufnahme des fremden Gastes Gott selbst aufgenommen wird« (305). Das zweite entscheidende Kriterium des Kirchenraumes liegt in der Funktion als Schutzraum, der die soziale Dimension verkörpert. Hier wird der Kirchenraum diakonisch als Forum für Verfolgte und Gefährdete betrachtet. Mit dem dritten Kriterium des Zwischenraumes wird die theoretische Ebene der Potentialität wieder aufgegriffen. Die religiöse Dimension einer potentiell möglichen Verwandlung zur »glaubenden Existenz« wird darin erkennbar. Als Zwischenraum hat der Kirchenraum die Funktion, Schwellen abzubauen oder Brücken zu bauen. Letztlich geht es S. darum, dass sich Erfahrungen im Raum generieren und sich dadurch ein »Bezugsgewebe« herstellt (334).
Einen Schritt weiter in Richtung der Praxisrelevanz gehen dann im Folgenden die Überlegungen zu handlungsleitenden Kriterien, die in der Gestaltung von Kirchenräumen Beachtung finden könnten. Sie orientieren sich an den Hauptkriterien von Gastraum, Schutzraum und Zwischenraum und arbeiten in einem Diskurs über Bedeutungen Begriffsbestimmungen zwischen Egalität, Solidarität und Hilfsgemeinschaften ab, deren Mittelpunkt in der Annahme einer Konvivenz gesehen werden kann. In der Bestimmung des Kirchenraumes als Festsaal fallen liturgische und diakonische Dimension zusammen. Sakralität, Segnen und Heilen sind dann die wesentlichen Zuordnungen im Kriterium des Zwischenraumes. Hier nähert sich die Arbeit wieder jenseits der soziologischen Begründungen der genuin theologischen Deutung des Kirchenraumes.
Den Abschluss der Studie bilden Überlegungen zu Handlungsperspektiven, die im Sinn des Erörterten Beispiele und Spuren diakonisch-sozialer Kirchenraumnutzungen als »Fundgrube« und Anregungen zum Weiterdenken von Möglichkeiten der Raumnutzungen zusammenträgt.
S. legt eine wissenschaftliche Studie vor, die bezogen auf eine theologische Grundlegung einer Kirchenraumtheorie selbst über die Theologie hinausgreift und in der Rezeption soziologischer Raumtheorien sowie grundlegender Entwürfe aus Strukturalismus und Systemtheorie eine eigenständige Kriteriologie als Handlungstheorie religiöser Räume entwirft, die den Anspruch einer inneren Konsis-tenz und Geschlossenheit erhebt.
Bleibt als Fazit der umfangreichen Arbeit festzuhalten, dass S. »Blickveränderungen« (426) auf den Kirchenraum vorgenommen hat und seine theoretische Begründung sowohl in den gegenwärtigen praktisch-theologischen Diskurs gestellt als auch eine konfessionell-reformierte Perspektive eingebracht hat.