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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

728-730

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Mahlmann-Bauer, Barbara [Hg.]

Titel/Untertitel:

Sebastian Castellio (1515–1563) – Dissidenz und Toleranz. Beiträge zu einer internationalen Tagung auf dem Monte Verità in Ascona 2015.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018. 613 S. m. 26 Abb. = Refo500 Academic Studies, 46. Geb. EUR 140,00. ISBN 9783525570890.

Rezensent:

Jan Rohls

Einem breiteren Publikum ist der aus Savoyen stammende Sebastian Castellio (1515–1563) vor allem durch den 1936 erschienenen Roman »Castellio gegen Calvin oder Ein Gewissen gegen die Ge­walt« bekannt, in dem Stefan Zweig dem Genfer Reformator Züge des nationalsozialistischen Diktators verleiht, von dem sich der für Gewissensfreiheit und religiöse Toleranz eintretende Castellio po­sitiv abhebt. Die Berner Germanistin Barbara Mahlmann-Bauer nahm dessen 500. Geburtstag zum Anlass, Kirchen- und Philosophiehistoriker sowie Humanismusforscher und Literaturwissenschaftler zu einer Tagung auf dem Monte Verità zu versammeln, um sich den Themen Dissidenz und Toleranz zu widmen. Die Beiträge liegen nun seit Längerem in einem gewichtigen Band vor und beleuchten den Kämpfer gegen Glaubenszwang und religiöse Diskriminierung auf äußerst erhellende Weise aus verschiedenen Perspektiven.
Castellio gelangte über Lyon, damals eine Hochburg des Humanismus und Umschlagplatz reformatorischer Ideen, nach Straßburg, wo er Calvin kennenlernte, der ihm 1541 eine Stelle als Rektor der Genfer Lateinschule verschaffte. Doch schon drei Jahre später verlor er dieses Amt, nachdem er sich mit dem Reformator überworfen hatte. Dabei spielten auch theologische Differenzen eine Rolle. So widersprach Calvin etwa Castellios Deutung des Hohelieds als eines profanen Liebesgedichts. Nach seiner Entlassung zog Castellio nach Basel, wo der Streit mit Calvin nach der Verbrennung Servets 1553 seinen Höhepunkt erreichte. Ein Jahr später veröffentlichte Castellio seine Schrift »De haereticis, an sint persequendi«, in der er Texte von Theologen zusammenstellte, die sich gegen die strafrechtliche Verfolgung von religiösen Abweichlern aussprechen. Auffallend ist seine Berufung auf den frühen Luther. Als biblische Stütze für die religiöse Toleranz diente ihm das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen. Castellio, der schließlich Griechischprofessor an der Basler Universität wurde, beließ es jedoch nicht bei dieser von den Genfern bekämpften Verteidigung der religiösen Toleranz, sondern er ging in seinen »Dialogi quatuor« und in »De arte dubitandi« auch gegen Calvins Lehre von der Prädestination und der Unfreiheit des Willens ebenso vor wie gegen die lutherische Lehre von der Ubiquität des Leibes Christi und das Trinitätsdogma. Wohl nur durch seinen Tod kam Castellio einer Verurteilung durch die Basler Behörden zuvor, die Beza auf die angeblichen Häresien des Genfer Intimfeindes und seine Kontakte mit dem bis zu seinem Tode unerkannt in der Reichsstadt lebenden Täufer David Joris aufmerksam gemacht hatte.
Castellio steht für das nonformistische Erbe eines Humanismus, der sich zwar auf die Seite der Reformation geschlagen hat, sich aber entschieden gegen deren Entwicklung zur konfessionellen Orthodoxie mit Glaubens- und Bekenntniszwang wendet. Dass es vom heute vorherrschenden Standpunkt westlicher Zivilgesellschaften aus schwerfällt, dagegen die Position Calvins zu verteidigen, merkt man selbst dem einleitenden Beitrag von Herman Selderhuis an, der sich bemüht, dem Genfer Reformator gerecht zu werden. Unter dem Titel »Castellios Toleranzkonzeption« sind eine Reihe von Texten versammelt, die »De haereticis, an sint persequendi« kontextualisieren. Dabei wendet sich Kilian Schindler dem erasmianischen Hintergrund der Schrift zu, während Michael Multhammer sich mit ihrer Rezeption von Luthers Obrigkeitsschrift befasst. Dabei wird zugleich deutlich, wie sehr sich Luther selbst später von seiner ursprünglichen Position entfernt hat. Daniela Kohler vergleicht die unterschiedlichen Auslegungen des Unkrautgleichnisses Mt 13,24–30, auf das sich Castellio für seine Einwände gegen die strafrechtliche Verfolgung religiöser Abweichler beruft, bei Luther, Calvin, Beza und Bullinger. Dass Castellio das Urteil über vermeintliche Häretiker dem eschatologischen Urteil des göttlichen Richters überlassen möchte, geht aus dem Zitat hervor, das Oliver Bach in den Titel seines Aufsatzes über religiöse Toleranz und Theonomie aufnimmt: »Lasst unns doch warten auf den ausspruch des gerechten richters.« Castellio widmete seine Toleranzschrift Herzog Christoph von Württemberg, und Sonja Klimek geht der toleranten Religionspolitik des Grafen Georg in der württembergischen Exklave Montbéliard nach. Im Unterschied zu Sebastian Franck, der in seiner 1531 erschienenen »Chronica« die Toleranzforderung auch auf Juden und Muslime bezieht, beschränkt Castellio diese jedoch auf den innerchristlichen Be­reich. Hans-Martin Kirn fragt in seinem Beitrag nach der Rolle der Juden und des Judentums in der Toleranzkonzeption des Savoyers.
Aufgrund seines Kontakts mit dem niederländischen Täufer David Joris, der bis zu seinem Tod 1556 unter Pseudonym unerkannt in Basel gelebt hatte, stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis Castellios zu den Täufern. Michael Egger macht deutlich, dass er sich mit seiner Toleranzforderung nicht nur gegen Calvin und die Genfer, sondern ebenso gegen Bullinger und die Zürcher wendet, die anders als die Obrigkeiten in Basel und Straßburg die Verfolgung der Täufer befürworten. Gary Waite untersucht in seinem Aufsatz die spiritualistischen und rationalistischen Strömungen im niederländischen Täufertum. Bei dem Täuferchronisten Pieter Jansz Twisck rücken für ihn Castellio und Joris ähnlich eng zusammen wie später in Gottfried Arnolds Ketzergeschichte. Wie Uwe Plath zeigt, führt Castellio den Ansatz von »De haereticis« in seinem Pamphlet »Contra libellum Calvini« fort, wobei erneut deutlich wird, dass seine Toleranzforderung durchaus ihre Grenzen hat. Denn er gesteht der Obrigkeit das Recht zu, über Gottes-lästerer die Todesstrafe zu verhängen. Vor Calvin warnt er als falschem Propheten. Barbara Mahlmann-Bauer geht in ihrer Analyse von »De Calumnia« dem Bild nach, das Castellio auf dem Hintergrund religiöser Verfolgung von dem herrschsüchtigen Menschen zeichnet. Der Wirkungsgeschichte Castellios in den Toleranzdiskussionen in Spanien, Frankreich und den Niederlanden widmen sich die Beiträge Mariano Delgados, Cornel Zwierleins und Mirjam van Veens, während Ralph Häfner sich dem aufgeklärten Castelliobild bei Johann Conrad Füeßlin zuwendet.
Castellio trat nicht nur mit der Forderung nach religiöser Toleranz, sondern auch als Übersetzer der Bibel ins Lateinische und Französische in Erscheinung. Mit seinen Bibelübersetzungen be­fassen sich Peter Stotz und Max Engammare, während Wilhelm Kühlmann anhand seiner Vorrede zu der griechisch-lateinischen Ausgabe der »Oracula Sibyllina« zeigt, dass Castellio den Monopolanspruch der biblischen Kanons ähnlich wie der Spiritualist Franck zurückweist. Betrachtet Stefania Salvadori Castellio in seiner Bibelhermeneutik als Erben des Renaissancehumanismus, der anders als Ochino auch den Zweifel verteidigt, so sieht Wilhelm Schmidt-Biggemann ihn als Alternative zu dem Gnesiolutheraner Flacius, insofern er sich gegenüber den Dogmen skeptisch verhält und die Autorität der Schrift relativiert.
Der äußerst gelungene Tagungsband, zu dem die verdienstvolle Herausgeberin nicht nur die umfangreiche Einleitung, sondern auch mehrere eigene Aufsätze beigesteuert hat, vermittelt dem Leser ein umfassendes Bild von der literarischen Produktion und der Wirkungsgeschichte eines entscheidenden Wegbereiters religiöser Toleranz in der Epoche des konfessionellen Stellungskriegs.