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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

681-683

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Houghton, H. A. G., Kreinecker, C. M., MacLachlan, R. F., and C. J. Smith

Titel/Untertitel:

The Principal Pauline Epistles. A Collation of Old Latin Witnesses.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2019. XII, 442 S. = New Testament Tools, Studies and Documents, 59. Geb. EUR 145,00. ISBN 9789004315990.

Rezensent:

Annette Weissenrieder/André Luiz Visinoni

Die Edition »Vetus Latina. Die Reste der altlateinischen Bibel«, die den Bibeltext aller erhaltenen Handschriften der altlateinischen Überlieferung einer umfangreichen Belegsammlung von Zitaten der Kirchenschriftsteller gegenüberstellt, hat für das Neue Testament bereits die katholischen Briefe (W. Thiele, 1956–1969), die »Paulus«briefe von Epheser bis Hebräer (H. J. Frede, 1962–1991), die Offenbarung (R. Gryson, 2000–2003), das Johannes-Evangelium (P. H. Burton et al., 2011–) und das Markus-Evangelium (J.-C. Haele-wyck, 2013–2018) abgedeckt, während die Arbeiten an der Apos-telgeschichte (W. Blümer), am Lukas-Evangeliums (Th. J. Bauer; A. Weissenrieder) und am Matthäus-Evangeliums (Th. J. Bauer) noch nicht abgeschlossen sind.
Der vorliegende Band kapriziert sich auf vier Paulusbriefe (Römer, 1/2Korinther, Galater), die bislang noch nicht ediert wurden, und hat demnach zum Ziel, ein Desiderat der Forschung zu erschließen und zugänglich zu machen. Zusammengefasst werden in erster Linie die Ergebnisse eines Forschungsprojektes am Institute for Textual Scholarship and Electronic Editing (ITSEE) der Universität Birmingham, das ab 2011 von einem European Re­search Council Starting Grant über fünf Jahre finanziert worden war. Der Hauptfokus des COMPAUL-Projektes lag darin, Kommentare zum Corpus Paulinum Latinum als Quellen für den altlateinischen Bibeltext zu sammeln und zu analysieren. Das gesamte Material wurde transkribiert, digitalisiert und im Anschluss daran unter der Verwendung der Software CollateX automatisch kollationiert, wofür vor allem C. J. Smith verantwortlich zeichnet; die Texttranskriptionen wurden auf http://www.epistulae.org unter einer Common Creative-License veröffentlicht. Die Publikation der hier aufgeführten Daten gehörte zwar nicht zum ursprünglichen Vor haben der Forschergruppe, wurde aber gleichwohl verfolgt, da deutlich wurde, dass man hiermit einen zentralen Beitrag zur Vetus Latina-Forschung leisten könne. Gleichsam weisen die Autoren darauf hin, dass als langfristiges Ziel eine Vetus Latina-Ausgabe gedacht ist, für die dieser Band die Vorarbeit darstellt.
Neben der Kollation der Paulusbriefe findet sich eine sehr kurze Einführung in die methodischen Grundlagen der Studie wie auch eine Liste der herangezogenen Zeugen. Der Band erschließt die zentralen altlateinischen Handschriften des Vetus Latina-Re-gisters, wie den Codex Gigas (VL 51), den Codex Perpinianensis (VL 54), den Codex Wernigerodensis (VL 58) oder den Palimpsestus Legionensis (VL 67), die alle einen Vulgata-Text tradieren, das Liber Ardmachanus (VL 61), das einen altlateinischen Text bietet und Gemeinsamkeiten mit der Bobbio-Bibel aufweist (VL 135; hier ediert von Alba Fideli). Daneben werden viele Bilinguen, die die vier Briefe führen, herangezogen, wie z. B. der Codex Claromontanus (VL 75, davon abhängig VL 76 und VL 83), der Codex Boernerianus (VL 77, dessen interlinearer lateinischer Text sich häufig an der griechischen Grammatik orientiert), der Codex Augiensis (VL 78, ebenfalls ein Vulgata-Text) und der Codex Carolinus (VL 79; lateinisch-gotisch, möglicherweise auf einen altlateinischen Texttyp zurückzuführen). Zudem werden fünf Lektionare angeführt, wie das der Biblioteca Ambrosiana (VL 31) oder das Lectionarium Guelferbytanus (VL 32). Erwähnenswert ist, dass ebenso die spanischen Handschriften berücksichtigt werden, wie etwa die Biblia de Rosas (VL 62). Dabei fällt freilich auf, dass einige Handschriften fehlen, wie etwa der Codex Colbertinus (VL 6), dessen Text zwar meistens der Vulgata entspricht, aber doch einige Varianten enthält, die gerade nicht gelistet sind, wie etwa Röm 1, wo man in V. 3 die Hinzufügung des Pronomens ei liest, in V. 12 die Variante fidem meam atque vestram, eine Sonderlesung des Manuskripts (Wortstellung), in V. 18 die Hinzufügung von dei nach veritatem, oder im darauffolgenden Vers revelavit statt manifestavit der Vulgata. Außerdem fehlt die älteste Handschrift der spanischen Editionen, der Codex Gothicus (VL 91, 92).
Was die Belege bei den Kirchenschriftstellern anbelangt, wird die Kollation durch mehrere Kommentare zu den Paulusbriefen erweitert: Marius Victorinus (Galater), Ambrosiaster (alle vier Briefe), Hieronymus (Galater), Augustin (Römer und Galater) und Pelagius (alle vier Briefe), was allerdings für die Arbeit an der Vetus Latina nicht ungewöhnlich ist. Augustins Römer-Kommentar, der nicht vollständig tradiert wurde, wird mit dem biblischen Text aus seinen exegetischen Predigten zu diesem Brief ergänzt. Dazu kommen zwei griechische Kommentare, die ins Lateinische übersetzt wurden: Rufinus von Aquileia, der eine lateinische Version von Origenes’ Kommentar zum Römerbrief verfasste, und Theodor von Mopsuestia, dessen Kommentar zu den Paulusbriefen erst ab Galater erhalten ist; kollationiert werden ebenfalls die auf Latein ge­schriebenen Complexiones von Cassiodorus. Vier Testimoniasammlungen werden zudem herangezogen: Cyprians Ad Quirinum und Ad Fortunatum, das anonyme Speculum oder Liber de divinis scripturis, und das Speculum quis ignorat, ein spätes Werk von Augustin.
In der Literatur unterscheidet man in der Regel für das Corpus Paulinum zwei Texttypen, von denen einer der K-Typ ist und den frühen »Afra«-Text repräsentiert und der andere der D-Typ. Der Vulgata-Text sei dann aus diesen beiden Textformen hervorgegangen, so die These von B. Fischer (siehe dazu ausführlich B. Fischer, Beiträge zur Geschichte der lateinischen Bibeltexte, Freiburg i. Br. 1986, 244 f.). Augenscheinlich folgen die Autoren des Bandes dieser An­sicht nicht, denn die Auswahl der Handschriften und der Kirchenschriftsteller setzt sich mehrzählig aus den Zeugen der Vulgata zusammen. Die Qualität der Zeugen wird zudem nicht differenziert dargestellt, so dass unklar bleibt, ob es eine Wertigkeit der Textzeugen gibt. Jedenfalls orientiert sich die Darstellung am Vulgata-Text und gerade nicht, wie der Titel des Buches »Old Latin Witnesses« suggeriert, an den altlateinischen Zeugen.
Die Transkriptionen, die mehrheitlich von C. M. Kreinecker und R. F. MacLachlan hergestellt wurden, gründen sich oftmals auf erst jüngst zugänglich gemachten Farbabzügen (VL 51, 54, 77, 87 vor allem); andere Transkriptionen basieren auf schwarz-weiß-Fotographien oder Microfilmen (VL 67, 76, 83, 262). Viele Transkriptionen beruhen indes auf bereits existierenden Editionen (VL 31, 32, 61, 77, 78, 79, 80, 84, 86, 251), wobei freilich darauf verwiesen wird, dass Korrekturen vorgenommen wurden, die jedoch leider nicht eigens vermerkt sind.
Die Zeugen werden konzis dargestellt. Im Vordergrund stehen eventuelle Abweichungen von der Vulgata, so dass die Kollation selbst in Form eines negativen Apparats präsentiert wird, mit dem Text der Stuttgarter Vulgata (fettgedruckt) als Lemma für die Variationseinheiten. Abweichungen davon sind durch eine Änderung der Zeugen-Sigle angezeigt: Kursivschrift für orthographische Diskrepanzen; eckige Klammern für unvollständigen oder teilweise lesbaren Text; Klammern für Formen, die von den Herausgebern für Schreibfehler gehalten werden, usw. Abbreviaturen und Initialen werden mit Recht nicht angegeben, was die Hervorhebung der wirklich bedeutenden Textvarianten begünstigt. Die Verwendung von E-Caudata wird durchgängig als Variante für ae oder e behandelt; übrige Ligaturen werden ebenfalls nicht als Abweichungen angegeben.
Trotz der Sorgfalt, mit der die Kollation der Zeugen durchgeführt wurde, ist – vor allem bei einer so umfassenden Studie – mit Ungenauigkeiten zu rechnen. So wird in Röm 1,3 für VL 51 das Lemma secundum carnem als Auslassung angegeben, obwohl die Lesung der Handschrift durchaus unbestritten ist (vgl. Codex Gigas, 278r). In Röm 8,5 ist die Angabe einer Glossierung für VL 61 zwar richtig, aber die Angabe einer Auslassung von sapiunt sorgt für Verwirrung: Die Lesung des Manuskripts lautet sapiunt vel sentiunt (vgl. Codex Ardmachanus, 112r). Von der Kollation wurde die Textvari-ante non falsum testimonium dices in Röm 13,9 für VL 54 (vgl. Codex Perpinianensis, 148v) nicht erfasst. Fehlerhaft ist auch die Angabe bei 1Kor 9,7 für VL 54, wo die Handschrift den klassischen Ablativ (de fructu), nicht den Akkusativ (de fructum) überliefert (vgl. Codex Perpinianensis, 155v). Merkwürdig ist die Variante ait nescitis in Röm 6,16 für VL 54, weil das Manuskript die sinngemäße Lesung an nescitis tradiert (vgl. Codex Perpinianensis, 143v). Zudem wurden die Unterschiede in der Orthographie häufig nicht berücksichtigt, wie z. B. in Röm 6,13, wo die nachklassische Form exibete in VL 54 nicht berücksichtigt wurde (vgl. Codex Perpinianensis, 143v). Röm 5,2 führt abemus statt habemus, auch wenn zwei Zeilen zuvor abeamus statt habeamus vermerkt wurde (vgl. Codex Perpinianensis, 142v). Diese Ungenauigkeiten finden sich ebenfalls in den Digitaltranskriptionen wieder www.epistulae.org, die im Rahmen von COMPAUL vorbereitet wurden und als Grundlage für die vorliegende Kollation dienten.
Aufs Ganze gesehen leistet diese Edition dennoch einen wichtigen Beitrag für künftige Studien der paulinischen Texttradition sowie für die Vetus Latina-Forschung im Allgemeinen. Die genannten Ungenauigkeiten liegen bei einer Edition dieser Größenordnung im Rahmen und mindern keineswegs die Qualität des vorliegenden Bandes. Wie die Autoren selbst anmerken, fehlt eine ausführlichere Bewertung der zusammengestellten Daten, sowohl aus philologischer als auch aus theologischer Perspektive, was freilich den Rahmen der Arbeit gesprengt hätte.