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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

674-676

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Christ-von Wedel, Christine, u. Sven Grosse[Hgg.]

Titel/Untertitel:

Auslegung und Hermeneutik der Bibel in der Reformationszeit.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. XVII, 425 S. m. 9 Abb. = Historia Hermeneutica. Series Studia, 14. Geb. EUR 79,95. ISBN 9783110462777.

Rezensent:

Christoph T. Nooke

Das Jubiläumsjahr ist schon wieder Geschichte, einige diskutierte Themen gehören aber zu den grundlegenden Fragen der Theologie, wie etwa die Frage nach einem rechten Umgang mit der Heiligen Schrift. Der vorliegende Sammelband widmet sich einigen Schlaglichtern dazu. Dabei soll das gesamte Kräfte- und Diskursfeld der Zeit wahrgenommen werden. Zusammengestellt in Querschnitten und Einzelbetrachtungen, gegliedert durch örtliche (»II. Wittenberg«), konfessionelle (»III. Reformierte«) und weitere »Perspektiven« (I.) sowie »Querverbindungen« (IV.) erscheinen insgesamt 17 Beiträge sehr unterschiedlicher Fragestellungen und Tiefenschärfen. Sie bilden ein Kaleidoskop möglicher Herangehensweisen und Fragen zur sacra scriptura. Die beigegebenen Register (Autorenverzeichnis, Personenregister, Sachregister und Bibelstellenregister) erleichtern die Arbeit.
In einem umfangreichen Vorwort von Sven Grosse werden alle Beiträge kurz vorgestellt. Es gehe in jedem der Beiträge »um Auslegungen, damit aber immer auch um bestimmte Auslegungsmus-ter, mithin um Hermeneutik.« Die Bibelübersetzung als Medium der Exegese wird leider nicht beleuchtet (XI). Der kritische Umgang mit der Bibel soll seinerseits kritisch beleuchtet werden: »Dass die Einteilung dieser Geschichte in eine vorkritische Exegese und eine ihr nachfolgende kritische Exegese, die das Maß aller Dinge sei, auf die dann vielleicht noch, weil jene doch nicht das Maß aller Dinge ist, eine nach-kritische Exegese folgt, nicht angemessen ist, sollte mittlerweile anerkannt sein.« (XI f.) Die Beiträge gehen zurück auf eine Tagung im Juni 2014 an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel, die sich als evangelikale Hochschule versteht.
Ein erster Block (»Perspektiven der Herkunft«) widmet sich grundlegenden Beobachtungen zur Hermeneutik bei Luther: Sven Grosse tut das in einem Vergleich zwischen Origenes und Luther anhand der Auslegung des Römerbriefes. Dass damit »eine Perspektive für den Blick auf die reformatorische Bibelauslegung überhaupt« gegeben ist, wird der Pluralität der Reformation nicht gerecht. Ulrike Treusch stellt anhand des Umgangs Luthers mit der Perikope von Martha und Maria dar, wie sich reformatorische Theologie in ihrer Weiterentwicklung (oder Ablösung?) von mittelalterlichen Ansätzen in der Auslegung wiederfinden lässt. Als reformatorisch gelten ihr die sola-Partikel (38) – das ist freilich et­was zu schematisch.
Der nächste Block konzentriert sich auf »Wittenberg«. Der bereits im Juli 2013 verstorbene Armin Buchholz ist mit einem unveröffentlichten Aufsatz präsent: »Duae res sunt Deus et Scriptura Dei«. Es geht ihm anhand einer Stelle aus De servo arbitrio um »die grundlegende Bedeutung der Schöpfungstheologie Luthers für seine Auffassung von der Heiligen Schrift« (47). Sowohl die menschliche Sprache wie auch die Bibel sind Schöpfung Gottes, weshalb die Bibel (anders als Gott) aufgrund ihrer »Allgemeinzugänglichkeit« als Berufungsinstanz herangezogen werden kann. Es bleibt aber fraglich, inwieweit sich dieser Gedanke verallgemeinern lässt. Stefan Felber führt Luthers Hochschätzung der Schrift gegen einen historisch-kritischen Umgang mit der Bibel ins Feld: »Sucht der Mensch die Gewissheit seiner selbst, so verweist ihn Luther auf die Schrift, nicht auf sein Denken.« (71) Dies wiederum wird dem Luther nicht gerecht, der sich in Worms 1521 auf Schrift und Vernunft (!) berief. Dass zudem eine Abkehr von messianischen Auslegungen des Alten Testaments die »Normativität der apostolischen Rezeption« (82) verwirft, zeigt den Denkansatz dieser Untersuchung. Jason D. Lane widmet sich dem Umgang Luthers mit dem Jakobusbrief, den er als Folge seines Verständnisses von Gesetz und Evangelium begreift. Die Bezeichnung als »stroherne Epistel« ordnet er historisch ein und zeigt die methodische Kon-sistenz der Kritik (123). Sarah Stützinger erkennt nach einem Durchgang durch Luthers Predigtkorpus, dass der Hebräerbrief (Hebr 9) gerade in seiner Verbindung von Altem und Neuem Testament eine Rolle für Luther spielt. Anhand exemplarischer Themen (Hohepriester, Messopferpolemik u. a.) wird die Beobachtung auf spätere lutherische Theologen ausgeweitet. Melanchthon hat mit seiner Ersetzung des Wortes tractare durch secare in 2Tim 2,15 die reformatorische Hermeneutik geprägt, wie Lutz Danneberg auf 60 Seiten zeigt. Dass dabei die »Renovierung der Hermeneutik durch das Autostereotyp einer Anatomie des biblisches Körpers […] sich schleichend [vollzieht]« (179), bildet die systematische Entdeckungsabsicht des Beitrags, der ganz unterschiedliche Perspektiven auf den Umgang mit dem Bibeltext versammelt.
Johann Anselm Steiger stellt mit Gal 3,1 (»vor die Augen gemalt«) die Rolle des Bildes heraus. So wie bei Luther Wort und Bild aufs Engste aufeinander bezogen seien, der Redegestus in der Bibel sich als hochgradig bildlich präsentiert (213), so lässt sich auch eine stärkere mediale Verwendung des Bildes zeigen. Die Bildbetrachtungen im hinteren Teil können dem nicht viel hinzufügen.
Mit dem dritten Abschnitt treten nun »Reformierte« in den Fokus. Die Auslegung des Apostelstreits und damit die Grundfrage nach der Bedeutung eines consensus apostolorum steht im Mittelpunkt bei Luca Baschera. Hat Petrus wirklich geirrt (Luther) oder sich nur fehlerhaft verhalten (Bullinger)? Diese Alternative lässt sich in der Kirchengeschichte zurückverfolgen (Augustinus – Origenes/Hieronymus). Den Trostcharakter der Bibel für Bullinger zeigt Andreas Mühling. Dieser besteht in der Darstellung des Bundeshandelns Gottes. Mit dem Zusammenhang von Glaube, Bund und gelingendem Leben begegnet die Seelsorge als reformatorisches Arbeitsfeld. Bucer erschließt sich für Andreas J. Beck im Römerbriefkommentar als Vertreter der doppelten Prädestination und zugleich als ehemaliger Dominikaner geprägt durch Thomas von Aquin.
Jan-Andrea Bernhard untersucht Predigten von Johannes Co­mander, eines Bündner Reformators. Er erweiterte die bereits vorliegenden Ergebnisse von W. Jenny damit ein wenig und kann zeigen, wie Hermeneutik und Umsetzung in die Predigt zusammengesehen werden können. Die reformierten Theologen der ersten Generation hatten, wie Calvin, häufig zuerst eine juristische Ausbildung genossen. Christoph Strohm zeigt die daraus resultierenden Einflüsse auf die Eigenart calvinistischer Schriftauslegung auf. Neben der Erhellung konfessioneller Eigenarten, etwa in der Rede von Gott, führt er das Milieu reformierter Theologen vor Augen. Mark W. Elliot vergleicht Auslegungen von Röm 4,24 f. bei Calvin, Cajetan und Estius. Es ist vor allem ein Vergleich des Rechtfertigungsverständnisses zwischen den Konfessionen.
Wenn auch bisher schon »Querverbindungen« deutlich wurden, stehen die letzten Aufsätze unter dieser Überschrift. Christine Christ-von Wedel vergleicht Erasmus und Luther in ihren Auslegungen des Galaterbriefes, des Lukasprologs und Lk 17,11–19. Ob das sinnvoll auf die Begriffe »historisch« und »dogmatisch« zu bringen (380) ist, scheint fraglich. Stephen E. Buchwalter widmet sich anhand der Bibelhermeneutik Pilgram Marpecks der Täuferbewegung. Er kann am Beispiel Marpecks und Bucers deutlich machen, wie Täufer (nicht »die« Täufer) durchaus verbunden waren mit dem reformatorischen Diskurs. Stephen G. Burnett schließlich zeigt den Kontakt zu jüdischen Gelehrten als Folge der Hinwendung zu den Ursprachen auf. Der Basler Gelehrte Sebastian Münster ist dafür ein eindrückliches Beispiel.
Die versammelten Beiträge bilden einen Überblick über Einzelfragen reformatorischer Hermeneutik, verschiedener Verbindungen und Perspektiven im Umgang mit dem biblischen Text. Positiv zu vermerken ist der stete Bezug auf die biblischen Texte selber. Vielleicht wäre eine Ergänzung um grundlegende Ausführungen zur Hermeneutik und eine dezidiert exegetische Perspektive interessant gewesen. Ganz neue Erkenntnisse zur Rolle der Bibel in der Reformationszeit begegnen nicht, die Einzeluntersuchungen machen das Bild aber durchaus bunter.