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Ausgabe:

Juli/August/2021

Spalte:

655-656

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Blaschke, Olaf, u. Thomas Großbölting [Hgg.]

Titel/Untertitel:

Was glaubten die Deutschen zwischen 1933 und 1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Campus Verlag 2020. 540 S. = Religion und Moderne, 18. Kart. EUR 39,95. ISBN 9783593510774.

Rezensent:

Andreas Stegmann

Der 540 Seiten zählende Band enthält 19 Aufsätze, die von der Einführung der Herausgeber und einem Kommentar von Isabel Heinemann gerahmt werden. Drei Oberthemen sind die Aufsätze zugeordnet: »Akteure und ihre Praktiken«, »Weltanschaulich-religiöse Motive« und »Deutende Diskurse«. An einzelnen Beispielen wird das Phänomen der Annäherung, Überlappung und Verschmelzung religiöser und politischer Identitäten in der Zeit des Nationalsozialismus erörtert.
Das geschieht vor allem in den Aufsätzen zur »Nazifizierung des Katholizismus« in Eichstätt (Markus Raasch), zu den Advents- und Weihnachtsfeiern von Bochumer NS-Organisationen (Sarah Thieme), zur katholischen Glaubenspraxis in den Kriegsjahren (Thomas Brodie), zu den säkularreligiösen Zügen des »Bunds Deutscher Mä­del« (Armin Nolzen), zum Verhältnis der Bewohnerinnen evange-lischer Damenstifte in Niedersachsen zum Nationalsozialismus (Christiane Schröder), zur Aufnahme der Volksgemeinschaftsidee im Berliner Katholizismus in den Jahren 1933 und 1934 (Klaus Große Kracht), zum Klerikalfaschismus in der Slowakei (Miloslav Szabó), zur Rede vom »Führer« im Münsteraner Bistumsblatt (Holger Ar­ning) und zu den Glaubensvorstellungen und -praktiken im pfälzischen Protestantismus (Christoph Picker).
In den Aufsätzen zu einzelnen Persönlichkeiten, die für sich ge­nommen durchaus lesenswert sind, ist die Leitfrage nach dem Glauben der Deutschen nicht durchweg im Blick. Behandelt werden der katholische Augsburger Kirchenmusiker Arthur Piechler (Martina Steber), der Katholik Claus von Stauffenberg und sein ambivalentes Verhältnis zum NS-Staat (Olaf Blaschke), der sich aus religionssoziologischer Perspektive mit der völkisch-religiösen Bewegung beschäftigende Wissenschaftler Oskar Stillich (Uwe Puschner), der Marburger Kirchenhistoriker Ernst Benz (Christoph Auffarth) und der katholische Liturgiereformer Franz Sales Seidel (Lucia Scherzberg).
Einige Beiträge bieten Überblicke: Hans-Ulrich Thamers Einführung in das »widersprüchliche[] Verhältnis von nationalsozialistischer ›Volksgemeinschaft‹ und christlicher Glaubensgemeinschaft« fällt gewohnt souverän aus, und Manfred Gailus präsentiert seine bekannten Thesen zum Verhältnis von »Nationalsozialismus und Religion«. Andere Beiträge bieten Erörterungen zu Einzelfragen, die weiterer Diskussion bedürfen, etwa was Detlef Schmiechen-Ackermann über »Zugehörigkeitsgefühle, multiple ›Gläubigkeit‹ und das Momentum der Veränderung« oder Mark Edward Ruff über religionspolitische Parallelen zwischen Nationalsozialismus und Trump-Präsidentschaft ausführen. Jürgen Falters Überblick zur »konfessionellen Spaltung des Wahlverhaltens« verdient wegen der in ihm verarbeiteten neuen Forschung Aufmerksamkeit.
An Religionsgemeinschaften werden vor allem die beiden Großkirchen berücksichtigt – der minoritäre römische Katholizismus weit stärker als der majoritäre landeskirchliche Protestantismus. Auch die völkisch-religiöse Bewegung wird behandelt, nicht allerdings die Freikirchen und Sondergemeinschaften. Dass auch die Juden zu den »Deutschen« zählen und dass auch die deutschen Juden »glaubten«, wird nur beiläufig angesprochen; dass auch die deutschen Juden Religion und Politik in ein Verhältnis setzten – übrigens auf unterschiedliche Weise –, kommt gar nicht in den Blick. Die Konfessionslosen und »Gottgläubigen« werden nicht eigens behandelt; und die nationalsozialistische Sakralisierung der Politik, die für manche zum Religionsersatz oder gar zur Ersatzreligion wurde und sich aus dem Fundus christlicher Vorstellungen und Praktiken bediente, kommt nur am Rande vor.
Der Band bietet wertvolles Material und manche interessante Überlegung zu der im Titel plakativ gestellten Frage, deren Beantwortung bedarf aber noch weiterer Forschung: 1. Die Frage »Was glaubten die Deutschen?« muss auch mit quantifizierenden Methoden untersucht werden. Dazu ist Datenmaterial verfügbar, das vermehrt werden kann. 2. Es müssen weitere Quellen einbezogen werden – einige Beiträge deuten an, welchen Reichtum an Material es gibt –, und es bedarf einer Diskussion über Heuristik und Quellenkritik. 3. Angesichts der Bedeutung der Begriffsfelder von Religion und Glaube im Faschismus und im Nationalsozialismus und der Selbstverständlichkeit, mit der die Forschung mit diesen Begriffen arbeitet, bedarf es gründlicher Beschäftigung mit der Begrifflichkeit. So fragt sich, was die von den Herausgebern und unterschiedlichen Beiträgerinnen und Beiträgern zum zentralen Interpretament erhobene Rede von der »hybriden Gläubigkeit« zu leisten vermag. Die Forschung hat für das damit Bezeichnete bislang andere Formulierungen und Umschreibungen verwendet, die sich auch im vorliegenden Band finden. Die Rede von der »hybriden Gläubigkeit« hat dem Be­griff »Doppelgläubigkeit« wenig voraus, weil auch in ihr immer noch der Dual mitschwingt, der der inneren Einheitlichkeit des Fühlens und Denkens vieler Menschen kaum gerecht wird, für die 1933 religiöser und politischer Glauben miteinander verschmolzen. Zugleich ist zu fragen, ob diese Verschmelzung nicht nur ein vorübergehendes und sektoral be­schränktes Phänomen war und sich bei nicht wenigen wieder auflöste und einem Nebeneinander oder sogar Gegeneinander Platz machte. Fraglich ist auch, ob eine »hybride Gläubigkeit« überhaupt in kurzer Zeit entstehen konnte: Mentalitätsgeschichtliche Veränderungen – und dazu zählt der Wandel von religiösen Haltungen, Überzeugungen und Praktiken – vollziehen sich über lange Zeiträume. Könnte es sich bei dem, was 1933/34 geschah, um ein Oberflächenphänomen, eine Spielart der für alle Epochen der Chris-tentumsgeschichte typischen Verbindung des christlichen Glaubens mit dem herrschenden Zeitgeist handeln? Was in der Zeit des Nationalsozialismus geschah, hatte sich seit dem 19. Jh. angebahnt und setzte sich auch nach 1945 fort. Zu diesem langfristigen Wandel und seinen Ausdrucksformen in der Zeit zwischen 1933 und 1945 kann die kirchengeschichtliche Forschung übrigens einiges sagen. So enthält Klaus Scholders meisterhafte und immer noch nicht überholte Darstellung »Die Kirchen und das Dritte Reich« manchen Hinweis auf das Verhältnis von Religion und Politik im Nationalsozialismus und auf die Verformungen der Religion durch die Politik, der auch für die heutige Forschung von Wert ist.
Der Band weist weder ein Personen- noch ein Ortsverzeichnis auf. Die Erstellung solcher Verzeichnisse hätte Irrtümer wie die Verortung des Gottesdiensts am Tag von Potsdam in der dortigen Garnisonkirche (381), die Verlegung der nordhessischen Stadt Rotenburg (nicht »Rothenburg« [526]) nach Niedersachsen (518) oder die Bezeichnung von Erich Seeberg als »Theologen der Universität Marburg« (519) richtigstellen helfen können.
Dass die Frage »Was glaubten die Deutschen zwischen 1933 und 1945?« für die Erforschung des Nationalsozialismus von Bedeutung ist, setzt der Band zu Recht voraus. Aus kirchengeschichtlicher Perspektive ist zu begrüßen, dass die Geschichtswissenschaft ein eigenes Interesse an der Frage entwickelt und zur Suche nach Antworten einlädt. Dazu kann auch das Gespräch mit der Theologie beitragen, zumal die Kirchengeschichtswissenschaft gerade für die Zeit des Nationalsozialismus konzeptionell, methodisch und inhaltlich einiges zu bieten hat.