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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

604–606

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Waßweiler, Gero

Titel/Untertitel:

Katastrophen und Hoffnung. Riskante Liturgien und ihre Predigten angesichts Krisensituationen.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2019. 276 S. m. 1 Abb. Kart. EUR 29,00. ISBN 9783170349643.

Rezensent:

Martin Scheidegger

Gero Waßweilers Dissertation geht der Frage nach, »wie angesichts einer heterogenen Gesellschaft und einer breiten Öffentlichkeit, in öffentlichen Trauergottesdiensten Trost gegeben, und von Hoffnung geredet wurde« (11). Mit dem Anspruch, Predigten im gottesdienstlichen Kontext zu analysieren, untersuchte W. vier Gottesdienste, namentlich drei vom Fernsehen übertragene ökumenische Gottesdienste in Deutschland sowie den Gottesdienst zum An­schlag in London 2017, den er als »internationale[n] Gottesdienst« versteht. Insgesamt wurden in diesen vier Gottesdiensten sieben Predigten gehalten, welche danach befragt werden, wie Predigende »die jeweils spezifische Krisensituation mit dem in der Bibel offenbarten Wort Gottes und dem Glauben und Unglauben der Menschen ins Gespräch bringen und mögliche Antworten [...] formulieren, die die christliche Hoffnung verkünden und Anteilnahme und Trost zum Ausdruck bringen.« (14) Außerdem möchte W. zweitens der Frage nachgehen, »wie die christliche Botschaft im öffentlichen Kontext angesichts dramatischer Ereignisse und Krisensituationen situativ angemessen gepredigt werden kann, ohne die christliche Heilsbotschaft in einer pluralisiert-säkularen Welt aufzugeben und diese zugleich gerade im Angesicht von Unheil profiliert zu benennen.« (14) Drittens fragt er danach, wie der Gottesdienst für eine Öffentlichkeit, die weitgehend entkirchlicht ist, dennoch »für möglichst viele Menschen verständlich und konkret zugleich sein kann. Wie kann die christliche Botschaft in diesem Kontext Hoffnung und Trost geben?« (14)
Hinsichtlich der zentralen Hoffnungsthematik sieht W. drei Kernbereiche, die sich aus biblischer Perspektive ergeben würden, nämlich einen politisch-gesellschaftlichen, einen persönlich-exis-tentiellen und einen heilsgeschichtlich-eschatologischen (51). W. unternimmt »eine Inhaltsanalyse von Gottesdiensten mit Predigten, die aus (sic) Krisensituationen antworteten« (79). »Antworten« wird hier nach Waldenfels’ Figur der »Responsivität« sinnvollerweise sehr breit verstanden, so dass untersucht wird, ob und wie in den Gottesdiensten auf die geschehenen Katastrophen hin mit einer Hoffnungsbotschaft in diesen drei Bereichen reagiert wird. Nachdem er den Forschungsstand präsentiert hat, gelangt W. durch die Analyse und Auswertung der Gottesdienste und der Predigten zu insgesamt 28 Thesen, die bedenkenswert und anschlussfähig sind.
Im Anschluss an Fechtner und Klie spricht W. von »riskanten Li­turgien« in diesen Gedenkgottesdiensten und zieht für deren Analyse und Auswertung der Predigten praktisch-theologische, ritualtheoretische und sozialwissenschaftliche Forschungen heran. Da-für orientiert sich W. im Wesentlichen an Feiters Modell, welches W. für seine Untersuchung angepasst hat. Mit diesem Modell konstituiert sich sein analytischer Kern durch eine Reihe von Anknüpfungskategorien, woraufhin die Predigten schließlich untersucht werden sollen. Die Anknüpfungen werden für die Codierung eingeteilt in »Situationsbezug«, »Fragen«, »Emotionen«, »Elemente der Liturgie«, »Biblische Texte und Theologie«, »Personengruppen« und »Weitere Signifikanten«. Anregend ist hier beispielsweise seine Auswertung des Umgangs mit Tätern oder möglichen Verantwortlichen als einer der involvierten Personengruppen.
Bedauerlich ist hingegen meines Erachtens beispielsweise, dass er in der Analyse und Auswertung der von ihm selbst kreierten Kategorie »Anknüpfung an Fragen« nur Fragen traktiert, welche in der Predigt explizit gestellt sind (also in einem Predigtmanuskript mit Fragezeichen versehen sind), wo er doch kurz zuvor in der methodischen Grundlegung schreibt: »Es wird versucht zu analysieren, welche Antworten gegeben werden und wo angeknüpft und somit auf die unausgesprochenen Fragen geschlossen wird.« (82) Es ist verwunderlich, dass im Analyseteil implizite Fragen, auf welche eine Predigt antwortet, nicht in sein Raster für die Kategorie »Anknüpfung an Fragen« fallen, sondern nur explizit gestellte.
W. präsentiert hilfreiche Beschreibungen und interessante Be­obachtungen zu den Liturgien und Predigten. In transkribierter Form werden die jeweiligen Predigten präsentiert, begrüßenswert wäre auch die Verfügbarkeit der Transkription der gesamten Liturgien im Anhang gewesen. Dass es ihm nicht darum gehe, »die Predigten oder die Predigenden zu bewerten, sondern vielmehr darum, aus den Anknüpfungen und der Analyse diskussionsfähige Thesen zu erarbeiten«, ist rühmlich, lässt die Arbeit aber mancherorts auch etwas unschlüssig. Einige seiner Thesen hätten auch ohne das konkrete Gottesdienstmaterial entstehen und vertreten werden können, bzw. die Auseinandersetzung mit den konkreten Liturgien und Predigten geht vielleicht manchmal etwas zu we­nig tief. So besteht deren Beitrag vor allem in der Konkretisierung seiner Thesen. W. hätte sich öfter weniger zurückhaltend äußern dürfen. So wie er die Zurückhaltung beispielsweise in seiner Reak-tion auf die Predigt in der Westminster Abbey im Anschluss an den Terroranschlag im Regierungsviertel Londons 2017 aufgibt und mit Begeisterung über deren Beginn schreibt: »Dieses Zitat ist ein Kunstgriff, der eine zumindest in Teilen populär bekannte Aussage in ih­ren religiösen Kontext rückbindet und mit der aktuellen Situation in Bezug setzt« (206) – also eine klare Stellungnahme mit Begründung seines Urteils. Es wäre förderlich gewesen, wenn er in seiner Auswertung mehr davon eingebracht hätte, was seines Erachtens aus welchen Gründen gelingend wirkt, und wenn er alternative Möglichkeiten angeboten hätte, wo etwas für die Kommunikation von Hoffnung und Trost aus den oder jenen Gründen hinderlich scheint.
W. hat darauf verzichtet, Interviews mit trauernden Angehöri-gen zu führen, die an den Gottesdiensten teilgenommen hatten. Er schreibt, dass »Erwartungen und Einstellungen der Teilnehmenden sowie der Liturgen […] rein theoretisch aufgegriffen [wurden]. Um ihnen genauer nachzuspüren, wären weitere Untersuchungen nö­tig, die beispielsweise mit qualitativen Interviews Daten vor, während und nach dem Gottesdienst erheben.« (260) Eventuell hätten seine Thesen durch Interviews eine Zuspitzung erfahren können, beispielsweise hinsichtlich seiner Infragestellung der angeblichen Notwendigkeit zweier Predigten in einem ökumenischen Gedenkgottesdienst oder auch seiner Betonung der Bedeutung des Raums für solche Feiern. Trotzdem entwickelt W. bedenkenswerte Thesen und ich gebe ihm recht: Diese Thesen »können helfen, zukünftige Gottesdienste zu gestalten und weiter zu denken« (260).
Ob W. einen Folgeband zur Besprechung von Liturgien während der Corona-Pandemie plant, ist mir nicht bekannt, aber anbieten würde es sich. Im Schlusswort dieses Buches schreibt er vorerst einmal, dass Gedenkgottesdienste »als Teil des Gesamt-geschehens wahrzunehmen« und diese als »kontextualisierte Antwortgeschehen zu verstehen« sind. »Die Kommunikation der christlichen Botschaft kann in diesem Kontext Hoffnung und Trost geben, wenn sie die existenziellen Nöte im Hier und Jetzt ernst nimmt und auch die Themen von Schuld und Versöhnung aufgreift, ohne vorschnell zu vergeben oder vorzuverurteilen. Die Botschaft ist eine öffentlich eingeforderte und angebotene Antwort, bei der sich der Prediger und die Predigerin ihrer Rolle als Vertreter ihrer Kirche bewusst sind.« (259)