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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

602–604

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Riemann, Doris

Titel/Untertitel:

Protestantische Geschlechterpolitik und sozialtechnische Modernisierung. Zur Geschichte der Pfarrfrauen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. 416 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-04183-1.

Rezensent:

Christopher Spehr

Seit der Reformation gehörte sie zum Kern der evangelischen Ge­meinde: die Pfarrfrau. Ohne sie hätte es das sich zur Institution entwickelnde evangelische Pfarrhaus nicht gegeben. Sie unterstützte ihren Ehemann, den Pfarrer, in seiner Arbeit, erzog die Kinder und prägte mal mehr mal weniger das gemeindliche Leben. Obwohl die Pfarrfrau eine wichtige Rolle in der evangelischen Kirche spielte, stand in der Regel der Pfarrer als Amtsinhaber im Fokus der Würdigung. In der Forschung fanden lediglich Einzelgestalten prominenter Pfarrfrauen eine gewisse Aufmerksamkeit, bildeten aber bis in die jüngste Zeit hinein eher die Ausnahme. Zugleich wurde die Rolle der Pfarrfrau als nichterwerbstätige Ehefrau durch die Frauenemanzipation der zweiten Hälfte des 20. Jh.s abgewertet, so dass »die Pfarrfrau« beispielsweise keinerlei Erwähnung im Wörterbuch der feministischen Theologie (Gütersloh 1991) fand. Erst durch das wachsende Interesse an einer differenzierten Frauen- und Ge­schlechtergeschichte rückt die Pfarrfrau als Gegenstand in den Fokus der Kultur-, Sozial- und Kirchengeschichte.
Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hat die bereits vor einiger Zeit in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig erschienene Dissertation von Doris Riemann. Unter dem Titel Protestantische Geschlechterpolitik und sozialtechnische Modernisierung greift die Sozialwissenschaftlerin »die Pfarrfrau« als Forschungsgegenstand auf und zeichnet aus kultur- und sozialgeschichtlicher Perspektive ein facettenreiches Bild der Ehefrauen evangelischer Pfarrer von der Reformation bis in die 1970er Jahre. In drei Schwerpunktkapiteln gelingt es R., die Genese und den Wandel der Lebensarchitektur der Pfarrfrauen anhand von gedruckten und un­gedruckten Quellen zu erhellen und anschaulich werden zu lassen. Als Folgen des tiefgreifenden Wandels im 20. Jahrhundert für die nichtinstitutionelle Seite des pastoralen Amtes, die R. konkret am Beispiel der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers darstellt, konstatiert sie einen Wechsel von religiös begründeten Wissensformen zu einer sozialtechnischen Denkweise.
Die Einleitung (13–34) führt in die Problemstellung der Untersuchung ein, indem R. mit einer konkret-alltagsgeschichtlichen Begebenheit aus dem Jahr 1955 anhebt. Am Beispiel der Osna-brücker Pfarrfrau Margarete Karwehl, deren Briefe in der Studie häufig als Quelle genutzt werden, veranschaulicht R. deren Lebens- und Gefühlswelt und fragt nach einer sachgemäßen kultur- und sozialwissenschaftlichen Interpretation. Methodisch greift R. hierbei in Anlehnung an Achim Landwehr die diskursgeschichtliche Vorgehensweise auf, indem die persönlichen Zeugnisse der Pfarrfrau(en) in ihren »Wahrnehmungs-, Orientierungs- und Handlungshorizont« (21) eingeordnet werden. Zu Wort kommen sowohl die institutionellen Debatten als auch die praktisch-theologischen Verlautbarungen, in denen sich das kirchliche Selbstverständnis von Ehe, Amt und Gemeinde seit Ende der 1950er Jahre widerspiegelt. Die Frage, in welcher Weise der »geschlechterpolitische Um­bruch in der Kirche« (27) mit der Zulassung der Frauen zum Amt und der außerhäuslichen Erwerbstätigkeit der Pfarrfrauen zu einer Infrage stellung des traditionellen Rollenverständnisses führte, gehört zu R.s zentralen Problemstellungen. Als Quellenbasis dienen ihr neben den Briefen und Dokumenten von Margarete Karwehl u. a. sechs halboffene, narrative Interviews mit Pfarrfrauen sowie ein Gruppengespräch.
Im zweiten Kapitel bietet R. »eine ›archäologische‹ Skizze zur Geschichte der Pfarrfrauen« (35–109), die mit der Reformation im 16. Jh. ansetzt. Über Martin Luthers Eheschließung mit Katharina von Bora nähert sich R. Luthers Eheverständnis und der reformatorisch-weltlichen Ausgestaltung der Ehe im Gegensatz zur sakralen der katholischen Kirche. Reflexionen über das reformatorische Menschenbild bleiben hingegen aus theologischer Perspektive schwach. Und ob wirklich der »Aufstieg der Pfarrfrauen als ›fromme Vorbilder‹ für die Frauen« (56) mit dem »Sturz der Heiligen« einherging, wäre an den zeitgenössischen Quellen genauer zu prüfen. Für einen Kirchenhistoriker ist es bedauerlich, dass R. viele Luther-Zitate durch die Sekundärliteratur statt durch die wissenschaftlichen Ausgaben belegt. Auch terminologisch haben sich einige Ungenauigkeiten eingeschlichen, wie z.B. die unreflektierte Verwendung des Staatsbegriffs für die Frühe Neuzeit. Instruktive Beobachtungen tätigt R. sodann für die Entwicklung im 19. Jh. Die Pfarrfrau wird in die sich jetzt rechtlich ausgeformte Institution Kirchengemeinde und deren bürgerlich-christlicher Vorstellungswelt eingezeichnet und durch eine weibliche Glaubenspraxis, auch »Feminisierung der Frömmigkeit« (80) genannt, charakterisiert. Jetzt – so R. – avancierten die Pfarrfrauen zu Vorbildern des bürgerlich-privaten Lebensraumes, den sie durch ihr öffentliches Wirken aber gleichzeitig stetig durchbrachen. Als »Herz der Gemeinde« (87) wird die Pfarrfrau schließlich in der Weimarer Republik und der NS-Zeit benannt, zumal sich die wachsende Gemeindearbeit (u. a. Errichtung von Gemeindehäusern) zu ihrem spezifischen Tätigkeitsfeld entwickelt. Außerdem kommt es während des Ersten Weltkrieges erstmals zu organisatorischen Zusammenschlüssen von Pfarrfrauen wie beispielsweise dem »Pfarrfrauen-Schwesternbund« (95). Die Deutschen Christen hingegen propagieren eine »männlich-heldische Kirche« (97), in der die (Pfarr-)Frauen ein ge­wisses Schattendasein fristen.
Das dritte Kapitel (110–199) ist dem ersten Nachkriegsjahrzehnt gewidmet und interpretiert die Geschlechterpolitik der Hannoverschen Landeskirche als »Kern ihrer restaurativen Modernisierung« (110). Es gelingt R., die gegenläufigen Erfahrungen und Tendenzen der Nachkriegszeit auf gesellschaftlicher und kirchlich-institutioneller Ebene im Blick auf die Geschlechterbeziehungen nachzuzeichnen und die Bemühungen um die Wiederherstellung der pfarrhäuslichen Verhältnisse minutiös aufzuzeigen. Weil in den ausgewerteten Interviews, Berichten und Beiträgen die Diskussion um Pfarrhaus und Pfarrfrau bis hin zur Gründung des sogenannten Pfarrfrauendienstes in der EKD 1954 (135) und den »Pfarrbräuterüstzeiten« (183–194) ventiliert wird, ist dieses Kapitel ein Gewinn für die kirchliche Zeitgeschichtsforschung.
Im vierten und umfänglichsten Kapitel werden schließlich die »Pfarrfrauen im Licht der funktionalen Modernisierung der kirchlichen Arbeit in den 1960er Jahren« (200–343) gezeichnet. Als »Ero-sion einer überlieferten, theologisch verankerten Ordnung« (209) wird der geschlechterpolitische Umbruch in der Kirche beschrieben, der mit der Berufstätigkeit der Pfarrfrau und mit der Zulassung der Frauen zum Pfarrdienst zusammenhängt, welches ein »ge­schlechtsneutrales Amtsverständnis« (224) hervorgebracht habe. Auch das Verständnis von Kirche ändert sich, indem jetzt von Soziologie, Psychologie und Pädagogik das kirchliche Handeln als »Funktion, d. h. im Hinblick auf seine Wirkung und Zuordnung« (244), beschrieben wird. In dieses funktionale Kirchenverständ-nis, das R. anhand von Karl-Wilhelm Dahms Studie Beruf: Pfarrer (München 1974) gewinnt, wird jetzt die Tätigkeit der Pfarrfrau eingezeichnet. Demgegenüber sei ihre genuin evangelische Bedeutung als vorbildliche Hörerin des Wortes Gottes zunehmend verloren gegangen (343).
Der Schluss (344–364), dem ein Personen- und Sachregister hätte angefügt werden dürfen, bündelt noch einmal die verschiedenen Linien der Studie, die zum Weiterdenken über die Rolle und Funktion von Pfarrfrau und Pfarrhaus anregt.