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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

586–587

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Radaj, Dieter

Titel/Untertitel:

Spinozas und Einsteins apersonaler Gottesbegriff. Ursprung, Folgen, Überwindung.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg Academic) 2020. 252 S. Geb. EUR 38,00. ISBN 9783534403097.

Rezensent:

Jan Kerkmann

Es ist ein in seinem universalistischen Ansatz selten gewordenes Vorhaben, dem sich die unlängst erschienene Monographie des habilitierten Naturwissenschaftlers Dieter Radaj widmet. Nicht nur soll der in Spinozas Substanzmonismus verhandelte Gottesbegriff beleuchtet und in seiner ideengeschichtlichen Wirkung auf Albert Einsteins Weltbild erschlossen werden. Vielmehr ist es ebenso ein erklärtes Erkenntnisziel R.s, den epochalen Rang und die breite Anschlussfähigkeit der Ethik Spinozas anhand der nachfolgenden idealistischen Systeme sowie der materialistischen Deutungstradition zu profilieren. Die von R. in insgesamt neun Kapiteln bewältigte Materialfülle ist beeindruckend: So erstrecken sich die Ausführungen des R.s von Spinozas Begründung eines umfassenden Determinismus über Einsteins Verteidigung der reversiblen Zeitlichkeitsstruktur bis hin zur Konzeption einer überpersonalen Gottheit. Der negativen Theologie verwandt, reflektiert das überpersonale Gottesverständnis die Unzulänglichkeit der menschlichen Sprache hinsichtlich transzendenter Wesensaussagen, um das »lebendige absolute Nichts« (vgl. 207) als gemeinsamen Existenzgrund Gottes und des menschlichen Selbst auszuzeichnen. Dieser bereits bei Nagarjuna und Meister Eckhardt angelegte Ge­dankengang vollendet sich R. zufolge in der christlich-buddhistischen Syntheseleistung des japanischen Philosophen Nishitani Keiji.
Im Hinblick auf die gewählte Methode ist kritisch anzumerken, dass sich R. in seiner Auseinandersetzung mit den einzelnen Denkern vornehmlich auf Referate ausgewiesener Experten stützt. So wird Spinozas Affektenlehre (vgl. 27–30) in der Lesart von Wolfgang Bartuschat wiedergegeben und Meister Eckharts Trinitätsspekulation unter Bezugnahme auf Kurt Flasch (vgl. 182) diskutiert. Angesichts der kaum von einem einzigen Gelehrten anzueignenden Vielfalt der thematisierten Wissensdisziplinen ist diese Verfahrungsweise ebenso nachvollziehbar wie problematisch. Sieht sich die interessierte Leserin zunächst mit einer profunden Einführung in Spinozas philosophisches System konfrontiert, vermittelt R.s Monographie aufgrund der hochambitionierten Zielstellung in den folgenden Kapiteln oftmals den Eindruck eines streifzugartigen Potpourris. Dies spiegelt sich etwa darin wider, dass R. im VII. Kapitel ( Philosophische Systeme in der Zeit nach Spinoza) die Monadenlehre Leibnizens und die Gottesbegriffe der Idealisten Fichte, Schelling und Hegel erörtert. Zugleich weitet R. den Blickwinkel im selben Kapitel auf den Marxismus und auf Nicolai Hartmanns kritischen Realismus aus. Spätestens im Zusammenhang mit der Entfaltung von Hartmanns komplexer Theorie der »Intermodalverhältnisse« (129) drängt sich die Frage auf, worin die konkrete Relation zu Spinozas ontologischer Strukturanalyse der Substanz, der Attribute und der endlichen Modi besteht.
Positiv ist hervorzuheben, dass es R. zumeist in einer erhellenden Weise gelingt, die Kerngedanken der besprochenen Denker prägnant zusammenzufassen. Gleichwohl lassen sich zahlreiche Redundanzen konstatieren, weil R. dazu neigt, die Kennzeichnungen zentraler metaphysischer Positionen in späteren Textstadien nahezu wortgleich zu wiederholen. Wenn R. eigenständige Thesen herausbildet, sind diese stets scharf formuliert. Damit geht die Kehrseite einher, dass fruchtbringende Differenzierungsoptionen unerwähnt bleiben müssen. Beispielsweise wird angesichts der deterministischen Wirkursächlichkeit und des statischen Gesamtzusammenhanges der Natur apodiktisch gefolgert, dass Spinozas Metaphysik schlichtweg »unzutreffend« (85) sei. Spinozas Notwendigkeitsbegriff wird hierbei an den Wahrscheinlichkeitsgesetzen der Quantenmechanik, am evolutionistischen Zufallsprinzip und an christlichen Personalitätsauffassungen gemessen. Damit kontrastierend, hätte im Rekurs auf den Anhang zum I. Teil der Ethik gezeigt werden können, wie Spinoza die Vorstellung einer belohnend-strafenden, die Existenz moralischer Wertkategorien garantierenden Gottheit seinerseits als anthropomorphe Übertragung individueller Präferenzen entschlüsselt.
Affirmativ ist herauszustellen, dass die im Hinblick auf Spinoza etwas unterrepräsentierte Darbietung der Kritik am personalen Gottesbegriff im Falle Einsteins umfänglich geleistet wird. Im V. Kapitel (Albert Einsteins Berufung auf Spinoza) wird Einsteins entwicklungsgeschichtliche Unterscheidung verschiedener religiöser Stadien herangezogen, die sich in die Formen der Furchtreligion, der Moralreligion und der kosmischen Religiosität (vgl. 62) gliedern. Überzeugend kann R. nachweisen, dass es die aus der mathematischen Regularität und Gesetzmäßigkeit der Natur (›Gott würfelt nicht‹) entspringende, kosmische Verehrung ist, die Einstein für sich in Anspruch nimmt und die er als Triebfeder der wissenschaftlichen Betätigung nobilitiert.
Das apersonal-weltimmanente Gottesverständnis Spinozas und Einsteins ist für R. primär wegen seiner ethischen Folgen bedenklich, insofern in Anbetracht eines damit korrespondierenden Notwendigkeitsgeschehens der Natur die Faktizität des Bösen mitsamt der menschlichen Willensfreiheit geleugnet werden muss. Anders als im Christentum, in dem das Individuum in seiner Einmaligkeit angerufen werde und in existenzieller Verantwortung vor Gott stehe (vgl. 81), ziele Spinozas naturalistische Ethik allein auf eine rational untermauerte Steigerung der Selbsterhaltungsfähigkeit ab. Im Gegensatz zur christlichen Religiosität lasse Spinozas Identifikation von Gott und Natur keine zweifelnd-fragende oder glücksstiftende Beziehung zu einer sinngebenden, personalen Instanz zu.
Resümierend lässt sich sagen, dass R.s vielschichtiges Werk Theologie, Philosophie, Naturwissenschaft und Geschichtsforschung virtuos verbindet. Obgleich die behandelten Denker zumeist etwas schematisch charakterisiert werden, lässt R. die vielbeschworene Interdisziplinarität lebendig werden. Es ist sehr zu würdigen, dass er dabei auf jene hierarchische Wettbewerbslogik verzichtet, die einen produktiven Diskurs zwischen den Disziplinen lange Zeit verhindert hat.