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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

582–584

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Münch, Miriam

Titel/Untertitel:

Dialektik der Negativität – Dialektik der Hoffnung. Johann B. Metz und Theodor W. Adorno im Ge­spräch über ein geschichtssensibles Subjektverständnis.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2020. 384 S. = Freiburger theologische Studien, 194. Geb. EUR 75,00. ISBN 9783451388620.

Rezensent:

Hermann Deuser

Als Nr. 1000 der edition suhrkamp erschien 1979 der Doppelband Stichworte zur geistigen Situation der Zeit, hg. von Jürgen Habermas. Als theologische Autoren wurden in diese repräsentativ gedachte Sammlung aufgenommen: J. B. Metz, D. Sölle und J. Moltmann. Die Kulturkritik der Frankfurter Schule hat die »geistige Situation« dieser Epoche wesentlich mitbestimmt. 1966 war Th. W. Adornos Hauptwerk, Negative Dialektik, erschienen, und als kri-tischer Interpret der Schule hat J. Habermas für die Fortgeltung der inzwischen weiter verbreiteten und differenzierten Kritischen Theorie gesorgt. Das Verhältnis zur Theologie bzw. zum von Be­ginn an virulenten Religionsproblem ergibt sich nicht nur aus der Theorietradition der Soziologie seit dem 19. Jh., sondern auch aus der Begründung der Kritischen Theorie in moral-, kultur- und ge­schichtsphilosophischen Haltungen, die die Impulse zu einer »besseren« Welt – und die Aufdeckung der »schlechten« – zum Prinzip erhoben hatten. Herausragend dafür stehen zweifellos Adornos »Me­ditationen zur Metaphysik« im 3. Teil der Negativen Dialektik. Und das liefert auch die Berechtigung zu der Studie von Miriam Münch, dezidiert der »Negativität« der Dialektik bei Adorno im Vergleich zur (dialektischen) »Hoffnung« bei Metz nachzugehen. Ge­schichte und Gegenwart der Theologie sind in diesem besonderen Fall aufschlussreich für den Geist der Zeit und für die Erschließungsleistung theologischen Denkens gegenüber der Philosophie– und umgekehrt. Genauer eingegrenzt stammt das Interesse und die Motivation dieser Fragestellung aus der Münsteraner Theologie, die sich um die Pole einer neuen Politischen Theologie (Metz) einerseits und einer subtilen (katholischen) Transzendentaltheologie andererseits bewegt (vgl. 64.352.361). Gezeigt werden soll, dass und wie die antimetaphysische und deshalb vorrangig gesellschaftskritische und geschichts-sensible Theologie, wie Metz sie im Namen der Opfer der geschichtlichen Katastrophen (»nach Auschwitz«) vertreten hat, spezifische Überschneidungen mit der Kritischen Theorie aufweist und zwar vor allem in der konsequenten Orientierung am Negativen, dem »Nichtseinsollenden« (vgl. 33, Anm. 41).
M. geht so vor, dass zunächst in einem I. Teil die »Grundlinien« des Vorhabens herausgestellt werden: Metz’ Insistieren auf einer »Theodizee-sensiblen« Hermeneutik der Theologie wird – zumal unter dem Stichwort »nach Auschwitz« und in Gestalt einer »anamnetischen Kultur« – mit den Schlüsselbegriffen in Adornos Philosophie der »Dialektik der Aufklärung« bzw. der »Negativen Dialektik« konfrontiert. Dabei tritt als gemeinsames Problem die Frage nach der konstitutiven Rolle des Subjekts auf. Metz kritisiert an der augustinischen Tradition der Sündentheologie und des freien/ unfreien Willens, dass man sich damit vom faktischen Leiden und der Frage nach dem Sinn in der realen Geschichte dispensiert. Ein Mangel, der durch den unaufhebbaren Stachel des Theodizee-Problems aufgedeckt wird. Adornos Zeitkritik des Scheiterns der Aufklärung beklagt, dass der gesellschaftlich ausgelieferte Mensch den Subjekten keine Atempause zu gewähren scheint (vgl. 52 ff.). Hier aber schneiden sich die beiden metaphysikkritischen Konzeptionen: Sie kommen nicht aus ohne die praktisch-transzendentalen Subjektbedingungen, was mit Hilfe der praktischen Philosophie Kants in beiden Fällen gezeigt werden kann und zu der These führt, »dass in einer dialogischen Rezeption des Denkens Adornos Anforderungen an die theologische Rede vom Subjekt formuliert werden können, mit denen sich Metz’ Intentionen fundieren lassen« (75). Der Hauptteil (II. Teil) der Studie widmet sich dann auf fast 300 Seiten ganz der Philosophie Adornos, bevor im III. Teil ein zusammenfassender » Ausblick« noch einmal die Lösung des vorangegangenen Vergleichs im Begriff einer Hoffnung zentriert, die die notwendige »eschatologische Unruhe« garantieren könnte (355). M.s Stärke und eigentliche Leistung besteht darin, in ausführlichen und textnahen Interpretationen von Adornos »Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes« (vgl. Schlusssatz der Meditationen zur Metaphysik) im Kontext seines Gesamtwerkes verstehbar zu machen. Ich will zwei entscheidende Beiträge hervorheben: die Auswertung der Schriften Walter Benjamins und die mehrfach herangezogene Freiheitsphilosophie Kants.
Die Sonderstellung Benjamins – auch im kritischen Verhältnis zu Adorno – liegt darin, dass er seinen Begriff der Allegorie, gewonnen u. a. in seinen Arbeiten zum Trauerspiel der Barockzeit, auf das Zeitverhältnis der Moderne anwendet. Deren Geschichte verläuft einspurig (»Karfreitag ohne Ostern« [vgl. 143]), zeigt aber in ihrem Misslingen auf ihr Gegenteil, dass »Vergänglichkeit und Ewigkeit am nächsten zusammenstoßen« (142). Was aus diesen Situationen des (geschichtlichen) Eingedenkens aber folgt, kann nur als Erlösung angesprochen werden, Messianität, die ohne theologische Tradition ihren Sinn verlöre. Während Adorno Vorbehalte wegen möglicher Missverständnisse im Blick auf die These einer – bevor der Messias kommt – unabgeschlossenen Vergangenheit anmeldet und, wie Benjamin auch selbst, religiöse Vereinnahmungen des philosophischen Gedankens durch die Theologie fürchtet, zeigen doch Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte, wie durch Bilder vermittelt das Theologische wertvoll erscheinen kann: dass die Theologie »heute bekanntlich klein und hässlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen« (vgl. 159 ff.). Die Alternative des »historischen Materialismus« (vgl. Rezension zu D. Pucciarelli, Materialismus …, in: ThLZ 144 [2019], H. 12, 1297–1299) jedenfalls ist nur brauchbar, wenn sie von positivistischen Verengungen befreit für das sichtbare Leiden der Menschheit steht – die »Trümmer« der Vergangenheit, wie Benjamin es in Paul Klees Angelus Novus ge­fasst hat (167 f.). Erlösung zu denken, muss das leidensgeschicht-liche Ganze vor Augen haben. M. schlägt an dieser Stelle vor, mit Kants Postulatenlehre der praktischen Vernunft, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als Realität einzustufen, wenn auch »nur« in praktischer, nicht in metaphysischer Hinsicht, um den »moralischen Sollensanspruch« (173) der Freiheit aufrechterhalten zu können. Adornos Forderung, das Systemdenken der Philosophie zu beenden und die faktischen – negativen – Erfahrungswerte zu achten (das Nichtidentische), ist mit dieser »Konstellation« ganz in Benjamins Spur, und sie muss, um die Instanz und die Potentialität der Kritik überhaupt noch festhalten zu können, in gewisser Weise einen »transzendentalen Vernunftbegriff« zugestehen (191). Gegen Benjamin aber sieht Adorno in jedem affirmativen Zugeständnis einen undialektischen Rest, den er selbst in Negativer Dialektik unbedingt vermeiden muss. M. liefert zur Klärung eine textnahe Kant-Interpretation anhand der Vorlesungen Adornos (232 ff.), und es ist die »beschädigte Subjektivität«, um deren Rettungskräfte sich alles dreht (vgl. M.s These, 234). Gesellschaftlich im Extrem vermittelt und gleichsam als unauflöslicher Teil der Naturgeschichte ist doch »geistige Erfahrung« wirksam – und das schließlich als »somatisches Moment« (252 f.). Mit diesen empirischen Bedingungen aber widerlegt sich Kants Freiheitsphilosophie selbst oder sie zeigt Erbarmen angesichts der Negativität der gesellschaftlichen Zwänge – in der »Begierde des Rettens« (276), oder, mit M. Theunissen gesagt: »das Absolute« muss »vor dem Zugriff des Denkens« gerettet werden (302). Im Glück des gelingenden Gedankens aber steckt die Hoffnung, dass es einmal gelingen könnte. Metz’ »theodizeesensible« Theologie kann sich darauf stützen und darin wiedererkennen.
Dieses Ergebnis ist sehr gut nachvollziehbar und zugleich der Nachweis für die notwendige Zusammengehörigkeit von theologischen und philosophischen Motiven – wesentlich in einer Epoche, die bereits ein halbes Jahrhundert zurückliegt. Es ist in der Darstellung von M. durchgängig sehr deutlich, dass in klarer Distanz zu jenen Zeiten und ihrem Pathos geschrieben werden muss, ›dialektisch‹ gesagt: Nur durch solche Distanz besteht die Möglichkeit erneuerter Nähe einer Problemkonstellation, die keineswegs abgegolten ist. – Bleibt dem Rezensenten nur noch die Frage, warum der Diskussionsrahmen so eng auf die transzendental-dogmatische Literatur festgelegt ist und naheliegende Beiträge, etwa von den oben bloß erwähnten zeitgenössischen Autoren (Sölle, Moltmann; vgl. aber auch z. B. Koch/Kodalle, 1973) nicht vorkommen. – Die Studie aber empfiehlt sich gerade dadurch, dass ihr Nostalgie völlig fremd ist und trotzdem ein Stück deutscher Theologiegeschichte lebendig wird.