Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

553–557

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Broadhead, Edwin K.

Titel/Untertitel:

The Gospel of Matthew on the Landscape of Antiquity.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XVIII, 351 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 378. Lw. EUR 139,00. ISBN 9783161544545.

Rezensent:

Roland Deines

Edwin K. Broadhead gehört seit vielen Jahren zu den spannenden und wichtigen Autoren, wenn es um das Judenchristentum der ersten beiden Jahrhunderte und um das Evangelium des Matthäus geht. Sein akademischer Weg begann im Kontext des konservativen Baptismus in Amerika; seinen PhD erwarb er am Southern Baptist Theological Seminary, dazu einen Dr. theol. 1991 in Zürich, jeweils mit einer Arbeit zum Markusevangeliums. Inzwischen ist er Professor of General Studies am Berea College in Kentucky, dessen Anfänge eng mit der Abschaffung der Sklaverei verbunden sind. Sein unkonventionelles Buch kann als der Versuch gelesen werden, das Matthäusevangelium als geeignete Lektüre für ein General Studies Department zu präsentieren, indem die typischen Buzzwords »conflict«, »collaboration«, »diversity« und »identity« nahezu jeden Kapitelanfang und jede Kapitelzusammenfassung bestimmen (der erste Satz der »Introduction« ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür, einen scheinbar verbrauchten und bekannten Text wie das Matthäusevangelium zu einem »worthy object of investiga-tion« für Menschen zu machen, die ihre Identität und ihren Platz auf der Roadmap des Lebens suchen).
Das ambitionierte Projekt beginnt mit 14 Punkten auf zwei Seiten, in denen B. seine Thesen knapp vorstellt unter dem Titel: »How I Changed My Mind about Matthew«. Der entscheidende Punkt ist die Infragestellung der Autorfixierung (und davon abhängig einer vorgegebenen Textgestalt), wie sie B. in der kirchlichen und wissenschaftlichen Rezeption wahrnimmt. Denn dabei würden Vorstellungen über einen Verfasser (der in der Forschung dann zum »conscious theologian« und »literary genius« stilisiert wird), dem eine bestimmte Absicht und ein aus seiner Hand hervorgegangener Ausgangstext zugeschrieben werden, unkritisch anhand der Gestalt des Matthäusevangeliums im 4. Jh. ins 1. und frühe 2. Jh. zurückprojiziert. Zweck dieser Autorfiktion ist aber einzig die Kontrolle über den Text zur Legitimierung eigener Machtansprüche. Solchen legitimierenden Fixierungen auf Autor und feste Textgestalt setzt B. ein antihierarchisches Verständnis von Tradition entgegen in Form einer »two-way conversation, even negotiation, be-tween community and composer – or communities and composers« (1). Das ist ein Versprechen am Beginn des Buches, das aber nicht eingelöst wird: denn die »communities and composers«, denen wir die Mt-Traditionen verdanken, bleiben, bis auf wenige vage An­deutungen, durchweg unterbestimmt. Durchgängig ist dagegen der Widerspruch gegen die Vorstellung einer »incipient orthodoxy … forged under the didactic hand of apostles or evangelists« (2), die kirchlicher oder wissenschaftlicher Herkunft sein kann. Erst diese macht das Mt-Evangelium zu einem »foundational text created by an author and recovered by scholars«. Es wird dadurch zu einem Objekt, das manipuliert werden kann, und es verliert seine Funk-tion als traditionsgenerierendes Subjekt. Mit dieser Ausgangsbestimmung reiht sich der vorliegende Band in eine Reihe von Arbeiten ein, in denen B. die Evangelien als »Living Tradition« zu verstehen sucht, d. h. als » oeuvre mouvante – as work in process« (48 f.), das zu keinem Abschluss kommen soll und das geprägt ist von »disjunction, conflict, and contradiction« (31; diese Trias prägt den gesamten ersten Teil, vgl. 59, als Ergebnis von Kapitel 3).
Um dies zu zeigen, wird in insgesamt 14 unterschiedlich langen Kapiteln, die aber mit den anfänglichen 14 Punkten nicht korrelieren und deren Abfolge sich mir nicht wirklich erschlossen hat, das vermeintliche Wissen um Matthäus in immer neuen Anläufen dekonstruiert, wobei es zu zahlreichen Doppelungen und Wiederholungen kommt. B. versteht Traditionsgeschichte als einen Prozess, der schon vor der Abfassung eines Textes beginnt und über die Zeit der Erstfixierung (einen eigentlichen Beginn gibt es bei ihm nicht, weil es auch keinen Autor mehr gibt) hinausreicht bis in die Gegenwart, die bei ihm durch Nestle-Aland28 repräsentiert ist. Entsprechend werden drei thematische Cluster bearbeitet: die Vorgeschichte des Mt-Evangeliums, d. h. der Umgang mit vorgegebenen Traditionen und Quellen, dann die historischen Kontexte, in denen B. die Komposition des Ersttextes (der nicht mit dem vorliegenden Evangelium verwechselt werden darf) verortet und mit denen es sich im Gespräch befindet. Die dieser Aufgabe gewidmeten Kapitel 11 und 12 (»Mapping the Ancient Landscape« und »The Gospel of Matthew on the Landscape of Antiquity«) gehören zu den stärksten Teilen. Drittes Thema ist die Weiterführung der Mt-Trad ition mit ausgewählten Beispielen, die zeigen sollen, wie die Materialität des Textes seine Wahrnehmungs- und Wirkungsgeschichte beeinflusst, indem jede neue Fassung eines Textes demselben auch eine veränderte »identity and function« zuweist (204). Als ein Beispiel dafür nennt er die elektronische Zusammenfügung und Veröffentlichung des Codex Sinaiticus und behauptet, »this will change its role within biblical scholarship« (205).
Das halte ich bei aller Berechtigung dann doch für übertrieben genauso wie, dass als direkte Folge davon auch noch die ganze Traditionsgeschichte des Mt-Evangeliums neu gesehen werden muss. Das sind anregende Überlegungen, aber diese Ausdehnung der »Tradition History« addiert nicht nur ein weiteres Kapitel zu der ohnehin schon bestehenden terminologischen Begriffsverwirrung in Bezug auf Traditionsgeschichte, sondern sie funktioniert auch nur, wenn man die Grundthese B.s akzeptiert, wonach es keinen Ausgangstext gab: »The Gospel of Matthew does not present a single text that can be traced to a single manuscript and a single writer in antiquity« (233). Auf diesen Voraussetzungen basieren jedoch die von ihm kritisierten Ansätze in der Matthäus forschung, indem diese in möglichst präzisen Ortsbestimmungen bzw. Charakterisierungen des Evangelisten und seiner Gemeinde den Schlüssel für deren Verständnis finden wollen. Der fehlende wissenschaftliche Konsens in diesen Fragen gilt ihm dabei als Beleg für das Scheitern dieser Methodik. Darum möchte er den Ort des Evangeliums (oder besser: der Traditionen, die dann zum Mt-Evangelium werden) im Verhältnis zum zeitgenössischen Judentum und innerhalb des entstehenden Christentums »amidst the broader lines of conflict and collaboration« verorten, die »the ancient landscape« charakterisieren. Es geht also um »a more dynamic and extensive concept of the identity and function of this gospel tradition« (VII) – ein Satz, der jedem General Studies Director das Herz höher schlagen lässt.
Den Auftakt bilden Kapitel 2 und 3, die textimmanent arbeiten: Kapitel 2 lässt das Matthäusevangelium mittels einer »formalistic analysis« als einen Text erkennen, der auf allen drei Kompositionsebenen (structural framework, conceptual world, linguistic level) von »disjunction, conflict, and contradiction« geprägt ist. Damit dekonstruiert B. in erster Linie narratologische Analysen, die im postulierten Autor ein literarisches Genie konstruieren und komplexe Strukturen zu erkennen meinen, wo eigentlich Chaos, Unordnung und Widersprüchlichkeit vorherrschen. Zu erkennen ist dies aber nur, wenn man die »fractured story« nicht durch »redactional criticism and narrative techniques« zu beseitigen sucht (46), auch wenn B. einräumt, dass die widersprüchlichen Stimmen der An­fangstraditionen auf einer späteren Entwicklungsstufe durch den E ingangs- und Schlussteil sowie die Einfügung eines »scripture frame« gebändigt werden – »but they frame it with contrast and contradiction« (30). An diesem Kapitel sollten gerade die nicht vorübergehen, die im Matthäusevangelium einen einheitlichen, kohärenten Verfassertext sehen. Denn dazu ist es nötig, für die Brüche, auf die B. mit Recht hinweist, plausible Erklärungen zu finden.
Wenn es keine Autoren gab und (vgl. besonders 67–76; selbst Paulus ist nicht einfach Autor seiner Briefe) und keine festen Texte, sondern nur Traditionen im Fluss, dann gibt es auch keine einheitliche Lehre, der »final authority« bescheinigt werden kann (234). Darum macht sich B., nachdem er die vergebliche und s. E. auch sachlich verfehlte Suche nach einem historischen Autor für das erste Evangelium (skizziert in Kapitel 1) als Machtanspruch der Auslegenden entlarvt hat, nun auch noch daran, in derselben Weise auch den durch die moderne Textkritik erschaffenen Mythos eines Ausgangstextes zu dekonstruieren. Denn das, was ab dem 4. Jh. in Gestalt der großen Codices (im Fall von Mt der Sinaiticus und Vaticanus) vorliegt, darf nicht unkritisch mit der Textgestalt der Jahrhunderte davor identifiziert werden (vgl. dazu die Kapitel 4 und 10, die zahlreiche Doppelungen bis hinein in die Abbildungen aufweisen). Hier wird vor allem aus der Tatsache, dass der vollständige Mt-Text erst im Sinaiticus und Vaticanus vorliegt, eine Menge Vermutungs- und Spekulationskapital geschlagen. So könnte Pa­pyrus 64, der traditionell als der älteste handschriftliche Beleg für das Mt-Evangelium gilt, auch etwas ganz anderes gewesen sein: »In reality, the passage in p64 could be from a short collection for worship or memorization, it could be from an amulet, or it could be from another gospel.« (64) Hier wird mit Möglichkeiten operiert, aber nicht nach Wahrscheinlichkeiten gefragt.
Ein anderes Beispiel ist die trinitarische Formel des Missionsbefehls, den B. – weil durch keine frühe Handschrift bezeugt – in der jetzigen trinitarischen Form für eine Tradition des 4. Jh.s hält, während die ursprüngliche Tradition hier eher »Go and make disciples in my name« o. Ä. hatte (287). Zudem postuliert er neben der griechischen (heidenchristlichen) Matthäustradition eine hebräische (judenchristliche), die in verschiedener Gestalt (Traditionen über den hebräischen Matthäus; judenchristliche Evangelien, die in der Tradition des Matthäus stehen) ebenfalls bis ins 4. Jh. fortbestand und deren Nachwirkungen sich bis in die hebräischen Matthäusfassungen der jüdisch-polemischen Literatur der Spätantike und des Mittelalters fortsetzen. Das alles gehört zur ursprünglichen Matthäustradition, die jedoch durch die kanonische Privilegierung der griechischen Fassung des Sinaiticus mit ihren im Laufe des Traditionsprozesses entstandenen antijüdischen Anreicherungen verdrängt wurde. Zugleich ist die vom Sinaiticus repräsentierte Tradition Teil der entstehenden christlichen »grand narrative«, die alle Spuren der früheren Konfliktgeschichte zu tilgen versucht, wie er anhand von Mt 26 in Nestle-Aland 28 zeigen will. Die als Ausgangstext der Überlieferung präsentierte Vorlage sei weitgehend identisch mit dem Text im Codex Sinaiticus, während »all other forms have largely been eliminated (or consigned to the footnotes)«. Als Folge davon würden »all New Testament scholars« nur mit dem NA28-Text arbeiten »without reference to other readings in the textual apparatus« (63). Dazu ist zu sagen: Nicht alle »New Testament scholars« ignorieren Lesarten, wie ein Blick in viele Kommentare (und nicht wenige Bibelausgaben) zeigt, das ist einfach eine unsinnige Behauptung. Zudem sind Lesarten im Apparat nicht »eliminiert«, sondern akribisch verzeichnet, nur eben im Apparat und nicht im Haupttext. Aber offenbar wird das bereits als Diskriminierung wahrgenommen, die es aktiv zu bekämpfen gilt: Warum verdient eine Lesart den Vorzug vor einer anderen? Müssen nicht alle gleich behandelt werden? Geht man wie B. davon aus, dass es keinen Autor gab, dann mag das eine legitime Forderung sein, aber selbst wenn man den Apparat zu Mt 26 durchsieht, wird deutlich, dass keine einzige Lesart inhaltlich etwas verändert. Die Unterschiede sind noch nicht einmal so groß wie heute zwischen verschiedenen Übersetzungen in dieselbe Sprache. Das Argument von B. über das Matthäusevangelium als einem Text und einer Tradition im Fluss funktioniert im Grunde nur, wenn man sich als Alternative in geradzu fundamentalistischer Weise einen »heiligen« Text vorstellt, bei dem jeder Buchstabe, jede grammatikalische Form und jede Wortstellung zählt.
Der Preis für die Zurückdrängung des Autors (»the author is pushed to the background« [201 u. ö.]) sind zudem Passivkonstruktionen durch das ganze Buch hindurch, die nicht wirklich weiterhelfen, weil die oben erwähnten »communities and composers« an keiner Stelle des Buches irgendwie konkret greifbar werden. Es gibt dazu zwar immer wieder Anläufe, den historischen Ort der matthäischen Tradition zu bestimmen, aber es bleibt bei sehr allgemeinen und vagen Bestimmungen (»a collection of scattered house churches« irgendwo im Bereich von Antiochien [264]). Die konsequente Verweigerung, hinter der Tradition die Tradierenden als konkrete Menschen zu benennen, führt dazu, dass Traditionen, Quellen, Stimmen als selbständige Entitäten irgendwie zusammenkommen (»traditions gathered into the Gospel of Matthew«). Dabei bringen alle ihre eigene Stimme (»their own voices«) ein und gestalten so die Identität des ersten Evangeliums (»provide a part of the identity and function of this gospel« [201]). Nur – wie soll das geschehen bzw. wie ist das geschehen? Quellen fließen nicht von selbst zusammen, Texte schreiben sich nicht selbst und erheben auch nicht von selbst ihre Stimmen. Hier bleibt die Arbeit schwach und überzeugt m. E. nicht, weil zu schematisch das Konzept des Autors mit Autorität (und die wird nur negativ wahrgenommen) und einer (ideologischen) Großerzählung verbunden wird (die es zu dekonstruieren gilt), während die positive Seite, die von »diversity« und »community« repräsentiert wird, blass und unterbestimmt bleibt – wohl auch deshalb, weil jede Konkretisierung bedeuten würde, auch diesen Akteuren Absichten zu unterstellen, die möglicherweise mit der Ausübung von Macht, Einfluss und der Propagierung einer konkurrierenden Großerzählung zusammenhängen. Aus dem Kreislauf, dass Menschen mit Texten, die als solche eben immer von Menschen stammen, Einfluss und Gestaltungswillen ausüben wollen, entkommt man nicht, indem der Autor ersetzt wird durch eine »community«. Besser wäre es zu zeigen, dass sowohl Autoren wie communities ihren Einfluss und ihre Gestaltungsmöglichkeiten sowohl hilfreich als auch zerstörerisch einsetzen können.
B. kennt die Quellen und macht es einem darum nicht leicht, ihm zu widersprechen. Man liest das Buch nicht ohne Gewinn, auch wenn es inhaltlich wenig Neues bietet, sondern eher scheinbar Bekanntes kritisch hinterfragt (dekonstruiert). Dennoch fühlt man sich – oder sollte ich schreiben: fühlte ich mich? – auf nahezu jeder Seite zum Widerspruch herausgefordert, weil die Zensuren, die B. an antike und gegenwärtige Autoren vergibt, allzu schematisch sind.
B. hat sich dazu entschieden, Konflikt zum Leitmotiv seiner Darstellung zu machen. Was in den Quellen über Streit, Konflikt und Chaos gesagt bzw. darin vermutet und hineingelesen wird, zählt implizit als authentisch und historisch zuverlässig (»This conflicted diversity is true …« [200]). Umgekehrt muss jede Darstellung von Kontinuität, Einheit und Zusammengehörigkeit (»a sense of unity and coherence«) als Projektion und herrschaftslegitimierendes Konstrukt entlarvt werden (199), weil dies Teil der Strategie der »grand narrative(s)« von »rabbinic Judaism and Christian orthodoxy« ist, die der Vf. vehement bekämpft. »Conflict and diversity characterize this formative era for Christianity, calling into question all forms of the grand narrative of an early and enduring unity« (200; zum rabbinischen Judentum s. 248). Es ist methodisch allerdings fragwürdig, wenn man aus denselben Quellen (angefangen bei der Apostelgeschichte bis zu Eusebs Kirchengeschichte) zwar die darin ja gerade nicht verschwiegenen Konflikte, Auseinandersetzungen und auseinanderstrebende Vielfalt als historisch zuverlässig herausliest, gleichzeitig aber die Darstellung einer dennoch vorhandenen und immer wieder auch errungenen Zusammengehörigkeit und Einheit als ideologischen Überbau ablehnt. Tatsache ist doch, dass wir über die Parteiungen und Konflikte überhaupt nur aufgrund der Quellen wissen, die uns auch über Einheit und Zusammenhalt berichten. Statt also die eine Seite ge­genüber der anderen vollständig abzuwerten, wäre es meines Erachtens historisch sinnvoller, beides, die Darstellungen von Konflikt und Einheit, auf ihre historische Plausibilität wie auf ihre die eigene Position legitimierende Dimension hin kritisch zu be­trachten.
Gefragt werden kann abschließend, ob das Modell des ständigen Konflikts und des beständigen Kampfes wirklich die einzige Option ist, um in »General Studies« das Matthäusevangelium als einen tauglichen Bestandteil des Curriculums zu etablieren. Ließe sich die Geschichte nicht auch erzählen als die erfolgreiche Etablierung einer Gemeinschaft von sehr Verschiedenen? Als eine Geschichte, die Mut macht und anleitet (sowohl in dem, was wir heute als gelungen, als auch in dem, was wir heute als misslungen ansehen), wie Konflikte gelöst, Spannungen ausgehalten und Vielfalt zuletzt nicht als Gefährdung sondern als Bereicherung erkannt wurde? Ist nicht gerade die Geschichte des Kanons eine Depotenzierung einzelner Autoren zugunsten einer größeren Vielheit, die dennoch miteinander im Gespräch bleibt? Nein, würde B. hier wohl antworten: So lässt sich die Geschichte nicht erzählen, denn der Kanon grenzt die Vielfalt ja gerade aus, indem er eine Grenze zwischen kanonisch und nichtkanonisch zieht. Auch der Kanon gehört zur abgelehnten »grand narrative«. Und solange nicht jede Lesart »gleichberechtigt« und nicht jede Schrift gleich kanonisch oder besser gar nicht kanonisch ist, so lange besteht die Pflicht zu Dekonstruktion und Widerspruch. Es bleibt dann wohl der übernächsten Generation vorbehalten, auch dieses Paradigma als eines zu durchschauen, das ebenfalls in seinem Machtanspruch zu dekonstruieren ist.