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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

542–544

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Filitz, Judith E.

Titel/Untertitel:

Gott unterwegs. Die traditions- und religionsgeschichtlichen Hintergründe des Habakukliedes.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XIV, 571 S. = Orientalische Religionen in der Antike, 36. Lw. EUR 144,00. ISBN 9783161592652.

Rezensent:

Jörg Jeremias

Seit längerer Zeit hat Hab 3 Exegetinnen und Exegeten magisch angezogen. Das Kapitel enthält die ausführlichste und zudem ungewöhnlichste Theophanieschilderung des Alten Testaments. Sie ist eng verbunden mit den religiösen Traditionen Mesopotamiens und Syriens, interpretiert deren Aussagen stellenweise aber kühn neu, und dies in Gestalt eines schwierigen Textes, in dem der MT und die antiken Versionen oft weit voneinander abweichen. So ist es kein Zufall, dass in den letzten Jahrzehnten vor der hier anzuzeigenden, von Angelika Berlejung betreuten Dissertation von Judith E. Filitz schon zwei andere Doktorarbeiten erschienen sind bzw. – wenn man die Arbeiten hinzuzieht, die Hab 3 mit seinen engsten Parallelen vergleichen – sogar vier (T. Hiebert 1986; C. R. Lortie 2016 bzw. E. N. Ortlund 2010 und J. N. Banister 2013), die freilich im Einzelnen sehr unterschiedliche Intentionen verfolgen.
Die Untersuchung von F. ist souveräner als die genannten Ar­beiten, aber auch umfangreicher, denn sie bietet nicht nur eine Auslegung von Hab 3 nach allen Regeln der Kunst (Kapitel 1–4; 1–220) sowie eine Einordnung des ältesten Kerns des Kapitels in die Traditionskette biblischer und außerbiblischer Theophanietexte (Kapitel 5; 221–261), sondern auch eine nahezu gleich lange Analyse des babylonischen akītu-Festes und dessen Prozessionen, da sie Hab 3 von ihm beeinflusst sieht und als »Prozessionstheophanie« deutet. (Kapitel 6–7; 262–496).
In der Exegese zeigt sich F. als kluge Interpretin, deren Ausführungen in einem erfreulich guten Stil verfasst sind. Hier schreibt keine Autorin, die noch am Anfang ihres akademischen Weges stünde, sondern eine Exegetin, die über ein erstaunlich sicheres Ur­teil verfügt und in umstrittenen Fragen der Auslegung des Kapitels fast immer gut begründete, plausible Entscheidungen fällt. Das gilt schon für die sorgfältige Textkritik dieses notorisch schwierigen Textes, aber auch für die präzise Beschreibung der sehr inhomogen verlaufenen Geschichte der Forschung. Ihre eigene Sicht der Entstehung des Buches Habakuk fällt äußerst kritisch aus. Sie rechnet mit zwei spätvorexilischen Schichten und vier exilischen bzw. nachexilischen Bearbeitungen. Erst in der zweiten Bearbeitung nach dem Exil sei das Kapitel Hab 3, das schon durch seine eigene Überschrift (und seinen Untertitel) in seiner Sonderstellung er­kennbar ist, Teil des Buches Habakuk geworden (die Abbildung auf S. 118 summiert die Ergebnisse). In Hab 3 selber interessiert sie primär die zweiteilige Theophanieschilderung als literarischer Kern, der später vom prophetischen Gebet in V. 2 und V. 16–19 gerahmt wurde. Gegen den Hauptstrang der Forschung beschränkt sie diesen Kern auf V. 3–12, da sie V. 13–15 als Zuwachs aus nachexilischer Zeit versteht.
Höhe- und Glanzpunkt des exegetischen Teiles ist die traditionsgeschichtliche Analyse der genannten Kernverse. Im langen Streit der religionsgeschichtlich interessierten Forscher, ob die Fülle der mythologischen Züge der Theophanie stärker von mesopotamischen oder von ugaritischen Texten beeinflusst sei, urteilt sie im Einzelfall behutsam und abgewogen, dass Erstere eher für den ers-ten Teil, Letztere eher für den zweiten Teil der Theophanie prägend waren. Überzeugend weist sie nach, dass die Licht- und Glanzmotive in V. 4 nicht mit der Mehrheit der Exegeten als solar konnotiert zu deuten sind, sondern vom »Schreckensglanz« (me­lammu) der großen mesopotamischen Götter abzuleiten sind, de­ren Furcht verbreitende Macht in ihm zum Ausdruck kommt.
Anschließend an die Exegese ordnet F. Hab 3 in andere biblische und mesopotamische Theophanieschilderungen ein, indem sie deren konstitutiven und prägenden Begriffe und Motive erhebt. Aus der Inschrift 4.2 in Kuntillet ‘Aǧrūd folgert sie den hohen Verbreitungs- und Bekanntheitsgrat dieser Motive.
Weil sie drei Motive in Hab 3 auf diese Weise meint nicht erklären zu können, geht die F. ab Kapitel 6 überraschend zu einem ganz andersartigen Thema über: Ausgehend von Begriffsklärungen zu Ritual, Prozession etc. und von der Beschreibung von Prozessionen im Alten Testament (Ps 24; 47; 68 etc.) sowie in Syrien und Ägypten analysiert F. auf S. 310 ff. das Ritual des babylonischen akītu-Festes. Für Alttestamentler überaus hilfreich nennt sie die verstreuten Quellen, verfolgt den Ablauf der Prozession, beschreibt deren Wandlung im Lauf der Geschichte sowie ihre Varianten in Uruk und Assur (vgl. die hilfreichen Tabellen auf S. 378–382), bezieht das Enūma eliš, den Haupttext des Festes, mit ein, diskutiert die Möglichkeiten, wie er kultdramatisch aktualisiert worden sein könnte, nennt die während der Prozession rezitierten Texte etc. Bei all dem kommt F. ihr theaterwissenschaftliches Studium zugute.
Die Brücke, die beide Teile der Arbeit miteinander verbindet, ist freilich äußerst schmal. Die drei Motive in Hab 3, die F. nur aus der Erfahrung des Autors bei der Teilnahme am akītu-Fest erklären zu können meint, weisen keineswegs zwingend auf dieses Fest. Es sind dies 1. die Begleitung Gottes durch »Pest« und »Seuche«, deren von Haus aus göttlicher (bzw. dämonischer) Charakter noch hinter dem Text erkennbar ist (V. 5), 2. ein angeblicher »Pferdewagen«, in dem Gott nach V. 8 fährt, und 3. die »Stäbe« (תוטמ), die in Hab 3,9 (und nur hier) als göttliche Waffen erscheinen und die F. plausibel von der miṭṭu-Waffe mesopotamischer Götter ableitet. Jedoch symbolisieren die angeblichen »Pferdewagen« weit eher Gottes himmlisches Gefährt, als das sie F. in der Parallele Ps 77,17 mit Recht auch selber anerkennt (241), und die göttliche miṭṭu-Waffe begegnet in sehr verschiedenartigen Kontexten. Ob aber Gottes Entourage (»Pest« und »Seuche«!) beim Lesen Fest-Assoziationen aufkommen lassen soll, darf man zumindest bezweifeln. Andernorts ist es das Feuer, das JHWHs Erscheinung vorangeht (Ps 50,3; 97,3).
Der Versuch einer theologischen Lektüre des ältesten Theo-phanietextes (und seiner Ergänzungen) auf dem Hintergrund des akītu-Festes – Jhwh tritt jetzt an die Stelle Marduks – beschließt die Arbeit.
Letztlich sind es zwei Bücher in einem, die F. vorlegt: beide klug, beide hilfreich und weiterführend. Das eine ist eine sehr abgewogene Exegese der Theophanie von Hab 3, die die Forschung vor allem in ihrem vorzüglichen traditionsgeschichtlichen Kapitel fördert und belegt, dass F. über ein erstaunlich sicheres exegetisches Gespür verfügt, auch wenn sie im Literarischen extrem kritisch ur­teilt. Das andere ist eine kundige Analyse des babylonischen akītu-Festes, das um seiner vielfältigen Berührungen mit Texten des Alten Testaments willen hohe Aufmerksamkeit biblischer Exege­ten verdient. Hier wie dort beweist F. eine überaus gründliche Kenntnis mesopotamischer Texte und Ikonographie. Aber beide Bücher sind nur sehr locker miteinander verbunden und haben wenig miteinander gemein. Sie hätten wohl besser je separat veröffentlicht werden sollen.