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Ausgabe:

Juni/2021

Spalte:

612–626

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Volker Leppin

Titel/Untertitel:

Mediävistische Editionsphilologie im globalen Zeitalter

Wohl in kaum einem Feld der kirchenhistorischen Forschung ist die interdisziplinäre Arbeit so zwingend wie in der Mediävistik: Die kulturelle Durchdringung des Mittelalters mit dem Christentum macht nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche religionshaltig, so auch die darin produzierten Texte. Daher kann ein Überblick über Editionen in der Mediävistik aus kirchenhistorischer Perspektive immer nur sehr ausschnitthaft aus dem breiten Bereich der vielen Disziplinen auswählen und nicht beanspruchen, das gesamte Feld zu bestellen. Doch gerade die Zufälligkeit mag manchmal dazu angetan sein, in der editorischen Wissenschaft Kontinuitäten – wie die Reichsgeschichte – und Wandlungen – wie die digitalen Techniken und den globalen Blick – zu erfassen und eine Art Zwischenfazit zu ziehen. Der jetzige Berichtszeitraum umfasst dabei etwas mehr als die zwei Jahre, die seit dem letzten Bericht (ThLZ 144 [2019], 390–414) vergangen sind.

I Reichsgeschichte


Beeindruckend zügig wurde in diesem Zeitraum die Edition der Quellen zu Ludwig dem Bayern fortgesetzt. Konnten im letzten Bericht die Stücke zum Zeitraum 1336–1339 gewürdigt werden, so liegt nun der Folgeband zu den Jahren 1340–1343 vor.1 Ludwigs Herrschaft bleibt dabei von den Auseinandersetzungen mit dem Avignoneser Papsttum geprägt – mehrere Regesten verweisen auf sein Bemühen um Rekonziliation nach dem Machtantritt Clemens’ VI. im Jahre 1342. Interessanter noch sind die Vorgänge und Konflikte im Inneren des Reiches. Zu den Beobachtungen am Rande gehört dabei, dass Ludwig ein – aller Wahrscheinlichkeit nach – von Wilhelm von Ockham verfasstes Gutachten, die Allegationes de potestate imperiali, an alle geistlichen und weltlichen Fürsten versandte (Nr. 724). Plastischer noch sind die lokalen Beispiele, wenn Ludwig etwa Heinrich III. seine volle Unterstützung zukommen lässt, um ihn als Bischof in Regensburg gegen den papsttreuen Friedrich von Zollern zu stärken, oder wenn er geistliche Einrichtungen wie das Kollegiatstift auf dem Liebfrauenberg in Frankfurt fördert, weil es das vom Papst verhängte Interdikt missachtet hat (Nr. 832), und umgekehrt das Kanonikerstift St. Bartholomäus am selben Ort mit Einziehung seiner Güter bedroht, falls es päpstlichen Befehlen Folge leiste (Nr. 1180). So lassen zwei Schreiben im Abstand von nicht ganz drei Jahren etwas von der Verwirrung erahnen, die die gegenseitigen Verurteilungen mit sich brachten.

Einen unerschöpflichen Schatz an reichsgeschichtlichen Quellen bietet auch der 2020 erschienene Band zu den Regierungsjahren 1362–1364 Karls V.2 Er enthält Material für zahlreiche Einzelinstitutionen und deren kaiserliche Privilegierungen, neben Reichsstädten und Bistümern kommen dabei auch immer wieder Klöster zur Sprache. Dies wird sich, wenn der noch ausstehende, im Vorwort aber schon in den Blick genommene Teilband zu 1365 erschienen sein wird, aller Voraussicht nach durch ein Register gut er­schließen lassen und auch in kurzer Zeit durch die vorbildliche Internetpräsentation der MGH gut zugänglich sein. Angesichts dieser der Reihe geschuldeten Konzentration auf bestimmte Institutionen können manche Fündlein leicht übersehen werden. So sei an dieser Stelle besonders hingewiesen auf ein Schreiben vom Heiligabend 1364 (Nr. 438), das interessante Einblicke in Vorstellungen zum Asylrecht gewährt. Ausdrücklich genehmigte der Kaiser dem Rat der Stadt Heilbronn, vorsätzliche Mörder, die im Deutschordenshaus Schutz suchten, hier herauszuholen, und widerrief prophylaktisch gegebenenfalls früher getroffene andere Regelungen. Als frommer Stifter erscheint Karl, mit offenkundigem Bezug auf seinen Namenspatron in Aachen, wo er eine Pfründe für einen Kleriker aus der nacio Bohemica oder zumindest einen Kleriker, der über »perfectam locucionem Boemice lingue« verfügte, einrichtete und Gebete für sein Seelenheil und das seiner Vorfahren, seiner Ehefrauen und auch seines Sohnes Wenzel anordnete (Nr. 141). Dass auch diese Texte in der in den MGH gewohnten Präzision ediert sind, ist fast überflüssig zu erwähnen.

Während Ludwig der Bayer und Karl IV. ihren festen Platz im historischen Narrativ haben, spielt im kulturellen Gedächtnis der Umstand, dass mehrere Kaiser des römischen Reiches sich auch in Mailand zum König der Lombardei haben krönen lassen, nur eine geringe Rolle. Seit dem 15. Jh. ist hierfür die Übertragung der sogenannten Eisernen Krone, die sich heute im Domschatz von Monza befindet, belegt (32 f.). Achim Thomas Hack hat nun die zugehörigen Ordines ediert3 – und dies mit der allergrößten Zurückhaltung des Editors getan. Die Texte werden zuverlässig auf Handschriftenbasis ediert und ebenso zuverlässig eingeleitet. So kann Hack bei komplizierten Datierungsfragen auch zugunsten einer Darstellung der Forschungskontroverse auf eine klare Formulierung der eigenen Position verzichten (27) und Besonderheiten eines Ordo in klassischer Editorenweise durch Zusammenstellung der Quellen erklären wie im Falle der Krönung von Karl V. 1530 (45 f.). Ob die in diesem nur in einem Bericht erhaltenen Ordo (106–110) begegnende signifikante Betonung des Einsatzes für den rechten Glauben auch gegen dessen Feinde sich in seiner Gesamtheit auch der Situation im Kaiserreich im Reformationsjahrhundert verdankt, ist damit noch nicht geklärt, ja, nicht einmal gefragt. Gleich, wie diese Frage beantwortet werden sollte – für die kirchenhistorische Einordnung der Ordines wäre dies jedenfalls interessant.

Die MGH präsentieren nicht allein Quelleneditionen, sondern auch besonders quellennahe, philologisch dichte Untersuchungen – eine von diesen führt nun wiederum in das Zentrum des kulturellen Gedächtnisses: Ernst-Dieter Hehls Studie über Canossa.4 Noch vor wenigen Jahren hätte man wohl gemeint, dass sich zu diesem Ereignis kaum noch Neues sagen ließe. Das hat sich durch Johannes Frieds Neudeutung im Jahre 2012 allerdings grundlegend geändert: Fried zufolge war Canossa lediglich der bestätigende Höhepunkt eines Bemühens von König und Papst, einen dauerhaften Friedenspakt zu schließen. Genau auf diese Interpretation reagiert nun Hehl in seiner Studie und pointiert Frieds Argument noch, um es dann abzuweisen: Canossa wäre hiernach »die Geburt ›säkularer‹ Politik im Mittelalter, der Papst und ein König, der als künftiger Kaiser zu gelten hätte, wären die Geburtshelfer gewesen« (67). Der Subtext dabei ist: Fried übersieht nach Hehl die bußtheologische Bedeutung des Geschehens in Canossa, welche Hehl nun seinerseits in dichter Lektüre derjenigen Quellen herausstreicht, die am nächsten am Geschehen liegen: des Eides Heinrichs IV. und d es Informationsbriefes Papst Gregors über das Geschehen. Aus kirchenhistorischer Sicht ist es hoch erfreulich, wie entschieden hier ernst mit der religiösen Dimension gemacht wird. Freilich wird man unter quellenkritischen Gesichtspunkten auch fragen müssen, ob Hehl nicht zu viel an Sicherheit proklamiert, wenn er erklärt, Gregors Betonung eines Zögerns, ehe er Heinrich die Absolution gewährte, »erzwingt wesentliche Korrekturen an dem von Johannes Fried gezeichneten Bild« (101). Man wird zumindest auch zu erwägen haben, ob Gregor nicht auf diese Weise schlicht betonen wollte, dass er es sich mit seiner Entscheidung schwer gemacht habe. Insofern wäre es verfrüht, die Akten über Frieds Vorstoß zu schließen – doch Hehls Mahnung an Historikerinnen und Histo-riker, nicht die dynamische Kraft religiösen Agierens zugunsten modernisierender Politikvorstellungen hintanzustellen, stellt einen wichtigen Schritt in der Debatte dar.

II Bischöfe und Konzilien


Berühren die reichsgeschichtlichen Editionen kirchenhistorische Fragen oft eher en passant, so gibt es einige neuere Editionen, die unmittelbar das kirchliche Geschehen im Blick haben. Zu ihnen gehört die nun vorgelegte Teiledition der Briefe Hinkmars von Reims.5 Aus dieser Korrespondenz gewinnt man einen unmittelbaren Einblick in die Schwierigkeiten, in karolingischer Zeit bischöfliche Macht durchzusetzen, ja, vielfach überhaupt erst zu etablieren. Die Schreiben quellen geradezu über von Bestimmungen zur Abgrenzung verschiedener Funktionen. So legte Hinkmar Karl dem Kahlen gegenüber in mehreren Briefen die Grenzen königlicher Eingriffsrechte auf Bischöfe dar (Nr. 212 f.), und gegenüber seinem Neffen und Namensvetter, dem Bischof von Laon, rang er um das rechte Maß von Förderung und Zurechtweisung. Hatte er diesen anfänglich noch gegen den König in Schutz genommen (Nr. 212, 214; 225*; 228), so schwenkte er alsbald auf eine kritische Linie gegen Hinkmar von Laon ein (229) und kritisierte diesen scharf, weil er ein Interdikt über seine Diözese verhängt hatte (234 u. ö.). Es sind offenbar Handlungsspielräume zwischen tatsächlichen Machtgegebenheiten, familiären Verpflichtungen und der Zuordnung von Kirche und König, die hier durch einen durchaus anspruchsvollen Bischof ausgelotet werden. Es ist zu hoffen, dass diese Ausgabe mit ihrem spannenden Inhalt in absehbarer Zeit zu ihrem Abschluss kommt. Die bisherige Geschichte der Ausgabe ist in ihren Verzögerungen ein tragisches Spiegelbild deutscher Geschichte: Das erste Faszikel hatte Ernst Perels bearbeitet. Da dieser aber durch die nationalsozialistischen Herrscher als »Halbjude« aus seinem Amt als Professor verdrängt und später im KZ Flossenbürg inhaftiert und zur physischen Erschöpfung gequält wurde, der er kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers erlag, erschien die Edition 1939 anonym und ohne die üblichen einleitenden Erläuterungen oder ein Quellen- und Literaturverzeichnis. Schieffer konnte noch Material von Perels wie auch von dessen Mitarbeiterin Nelly Ertl benutzen, hat aber die erläuternden Teile auf den Folgeband verschoben, den er nun nicht mehr vollenden kann, weil er wenige Wochen nach Er­ scheinen des vorliegenden Teils verstorben ist. Die MGH haben angesichts dieser schwierigen Situation dankenswerterweise eine Hilfsseite mit basalen Informationen aufgebaut (www.mgh.de/en/ die-mgh/editionsprojekte/ epistolae-8; Zugriff am 8.3.2021), auf welcher sie »noch einige Zeit« für die Fertigstellung erwarten. Es ist zu hoffen, dass dies nur ein Understatement ist und diese bemerkenswerte Edition, auch zum Gedächtnis ihrer beiden bedeutenden Herausgeber, bald einen würdigen Abschluss erlangt.

Erhellt diese Edition wichtige Aspekte des Frühen Mittelalters, so hat František Šmahel einen wesentlichen Beitrag zur Erschließung des späten Mittelalters geleistet. Im Vorwort zu seiner Edition der Basler Kompaktaten vermerkt er, wie »befremdlich« es Kollegen fanden, dass eine moderne Edition der Baseler Kompaktaten nicht existierte.6 Diese Irritation ist mehr als nachvollziehbar, handelt es sich doch bei dieser 1436 endgültig in Iglau unterzeichneten Vereinbarung um eine begrenzte Anerkennung des religiösen Sonderwegs, den die Hussiten gingen, insbesondere das Zugeständnis der Spendung der Eucharistie unter beiderlei Gestalt und der freien Predigt, und damit um die Ansätze von Konfessionsbildung bereits im späten Mittelalter, freilich mit einem Verständnis dieser Sonderentwicklung, die unitas und pax ecclesiae nicht in Frage stellen sollte (171,21 f.; 182,19 f.). Man braucht nicht lange darüber zu sinnieren, ob die lange Missachtung in der Forschung einer historiographischen Geringschätzung dieses Vorgangs folgt – die vorliegende Edition macht hinreichend deutlich, dass allein schon die Komplexität der Überlieferungslage den Zugang erschwert. Am Ende sind es zehn Stücke, von gegenseitigen Bestätigungen bis hin zu Ratifizierungsurkunden, die Šmahel edieren muss. Mit ihnen entwirrt er eine hochkomplexe Entstehungsgeschichte von einer ersten Konzilsgesandtschaft in Böhmen 1431 bis zu den feierlichen Akten der Unterzeichnung.

Šmahel verschont die Nutzerinnen und Nutzer seiner Edition nicht mit diesen Schwierigkeiten. Vielmehr hebt er wiederholt hervor, dass seine Ausgabe ad usum scholarum gedacht sei – das kann man auch als Warnung verstehen. Sie erschließt sich nur mühsam, was angesichts ihrer großen Bedeutung bedauerlich ist. Versucht man zu verstehen, wie die zehn Dokumente zueinander in Beziehung stehen, die Šmahel zur Dokumentation der Kompaktaten präsentiert, empfiehlt sich zunächst ein Blick in Anhang II zur handschriftlichen Überlieferung, hier insbesondere S. 133 f., wo die Do­kumente be­nannt und die beiden Ratifizierungsdokumente 9 und 10 auch an­satzweise eingeordnet sind. Die anderen acht, für den Inhalt und das diplomatische Prozedere entscheidenden Do­kumente sind auf S. 94 f. erläutert, in einer Zusammenfassung, die für die wesentlichen Teile auf S. 81–89 zurückgreift. Das hätte man wohl auch benutzerfreundlicher gestalten können, etwa durch Einleitungen zu den Textstücken, die nicht nur Überlieferung und Literatur benennen würden, sondern eben auch jeweils eine knappe historisch-inhaltliche Einleitung. Das gilt umso mehr, als die Kompak-taten ein für die europäische Kirchengeschichte außerordentlich wichtiges Zeugnis sind, dessen Kenntnis nach wie vor gering ist und durch diese Edition vermutlich nicht über die Expertenkreise hinaus erweitert werden wird. Diese allerdings können aus der editorisch und inhaltlich mustergültigen Ausgabe großen Gewinn ziehen.

III Monastisches Leben


Die Monumenta Germaniae Historica beindrucken neben den schon genannten reichsgeschichtlichen Quellen durch die Vielfalt annalistischer und chronikalischer Editionen – darin spiegelte sich in den Anfängen das Interesse des 19. Jh.s, die Faktizität der Ge­schichte zu rekonstruieren. Und es gehört zu den beeindruckends-ten Leistungen der zweihundertjährigen Geschichte dieses großen Editionsunternehmens, dieses Erbe unter Wahrung seiner phi­lologischen Qualität in geänderte hermeneutische Kontexte transferiert zu haben. So beruft sich die auf der Grundlage der Vorarbeiten von Hans F. Haefele von Ernst Tremp verfasste Einleitung zu den St. Galler Klostergeschichten Eckeharts IV. († ca. 1057)7 energisch auf den »Perspektivenwechsel in der Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert […], die nun der Kultur-, Mentalitäts- und Geistesgeschichte neben der politischen und Ereignisgeschichte einen gleichen Rang zumisst« (47). Allerdings kann man sich fragen, ob der Paradigmenwechsel ganz vollzogen ist, wenn als Beispiel für den gestiegenen Wert als Geschichtsquelle der Umstand an­geführt wird, dass an einer Evangelienhandschrift, von der Kapitel 74 be­richtet, dass ein Mönch sie im Ärger auf den Boden warf, tatsächlich archäologisch Beschädigungen festgestellt werden konnten (48). Das ist ein interessantes Detail – das aber weiterhin den Wert der Quelle auf ereignishistorischer Ebene ansiedelt. Ebendiesen Maßstab muss man aber an die muntere Sammlung von Anekdoten nicht an­legen. Für deren Aussagewert ist es völlig gleichgültig, ob Konrad I. (911–918) in nachweihnachtlichen Prozessionen staunend zusah, dass Kinder, die daran beteiligt waren, sich zu­rückhielten, auf den Kirchenboden ausgeschüttete Äpfel zu ergreifen (c. 14, S. 158). Interessant ist diese Geschichte hingegen sehr wohl für die Weise der Feierlichkeiten wie auch den Erwartungshorizont an Kinder in rituellen Zusammenhängen im 10. Jh. Ähnliches gilt für die Erzählung von den Strafen, die der Mönch Sindolf fürs Lauschen erhielt (c. 36, S. 232), die noch dadurch geradezu burlesk wird, dass die Belauschten ihren Plan, den Übeltäter zu ertappen, auf La­teinisch fassen, weil sie wissen, dass er diese Sprache nicht versteht. Das mag so geschehen sein oder nicht – als Erzählung schärft es die klösterliche Disziplin und den angemessenen brüderlichen Um­gang ein.

Dass das Werk mit all seiner Erzählfreude leicht zugänglich ist, liegt daran, dass die Herausgeber ihm eine glatte und gute Übersetzung beigegeben und den Text durch die Kommentierung gründlich erschlossen haben. Umfangreiche Register, besonders hilfreich die zu Namen und Worten, helfen weiter zur Erschließung und dazu, die »Klostergeschichten« auch als einzelne, gelöst aus dem jeweiligen Zusammenhang wahrzunehmen.

Entschiedener in die Richtung einer Lösung von alten Deutungsmustern geht die Edition der Chronik des Lauterbergs (Pe­tersberges) bei Halle durch Klaus Naß.8 In ihr wird ein Text präsentiert, der unter dem Titel »Chronicon Montis Sereni« 1874 schon einmal in den MGH erschienen war (MGH.SS 23, 130–226), freilich in einer Fassung, deren Mängel Naß in der Einleitung in deutlichen Worten benennt (57). Die Korrektur beginnt mit der Autorfrage, an welcher sich zeige »wie die Autorität einer MGH-Edition die Forschung in die Irre führen kann« (7). Entgegen der früheren Edition nämlich kann Naß den Hinweis auf einen Autor »Conra-dus presbiter, canonicus Montis Sereni« tatsächlich auf die ältesten Überlieferungsschichten zurückführen und daher als glaubwürdig befinden (11 f.), um so das Werk auf die Zeit zwischen 1223 und 1227, im Grundstock 1223/24, zu datieren (19 f.). Schon darin zeichnen sich beeindruckende Präzisierungen des philologischen Standes ab – die geänderte Forschungsperspektive aber schlägt sich vor allem darin nieder, dass Naß in seiner Einleitung Nutzerinnen und Nutzer auf die impliziten und oft auch expliziten moralischen und theologischen Wertungen des Chronisten verweist, in welchen dieser mangelnden Regelgehorsam als Grund für den Niedergang des Klosters anführt – besonders deutlich wird dies, wenn Konrad Propst Dietrich (1212–1229/38) in emotionalem Ton vorwirft, mehr seinen eigenen Ruhm als den Gottes zu suchen (215,16–24). Hier bietet die Chronik weit mehr, als was man in einer sonst so nüchternen Gattung erwarten würde. Der historische Bericht wird zu einem Spiegel monastischer Ethik.

Genau besehen, gibt es innerhalb des derzeit editionsphilologisch zu bestellenden Feldes auch noch deutlich trockener erscheinende Quellen: 2019 erschienen, herausgegeben von Dieter Geuenich und Uwe Ludwig, die St. Galler Verbrüderungsbücher.9 Mit dieser Literaturgattung nicht näher vertraute Forscherinnen und Forscher – zu denen der Verfasser dieser Sammelrezension sich rechnen muss – mögen darin zunächst eine wenig inspirierende Liste von Namen sehen. Aufgeführt sind Personen, die aufgrund der Verbindung, die sie mit dem Kloster St. Gallen hatten, in das Gedächtnis aufgenommen wurden. Die umfangreichen Einleitungen der Edition machen aber rasch deutlich, wie weitreichend die Forschungsfelder sind, die sich mit diesen Listen verbinden – vor allem namensgeschichtliche Fragestellungen werden hierdurch reichlich bedient. So ist die für den Fachfremden sehr spröde Quelle von großer Aussagekraft und verdient eine angemessene Edition.

Das gilt auch, wenn es sich wie in diesem Fall um die Neuedition eines schon 1884 veröffentlichten Textes handelt. Uwe Ludwig macht deutlich, dass Forschungen von Karl Schmid in den achtziger Jahren des 20. Jh.s die älteren Annahmen über Textgenese und Gestalt haben zur Makulatur werden lassen (126). Diese neuen Einsichten generierten die Notwendigkeit einer neuen Edition, die nun mit äußerster Akribie vorgenommen wurde. Die Textwiedergabe lässt die sukzessive Entstehung des Verzeichnisses dadurch gut nachvollziehen, dass sie nach paläographischen Einheiten – wechselnden Schreiberhänden – gegliedert ist. Erschlossen wird sie zudem auf mehrfache Weise: Faksimiles im Anhang ermöglichen Verifizierung und Überprüfung der editorischen Erkenntnisse. Vor allem aber erschließen mehrere aufwändige Register – zu deren Nutzung die Lektüre der »Hinweise« (341–346) unabdingbare Voraussetzung ist – den Gesamtzusammenhang. Durch sie kann man nun Namensgrundformen im alphabetischen Gesamtindex finden, aber und vor allem auch exakt die Stellen nachvollziehen, an welchen die Namen sich in den Manuskripten wiederfinden. Die Herausgeber haben über die Tafeln im Anhang ein Raster nach dem Muster eines Schachbretts gelegt, so dass man nun mit Angaben wie »ä10C4« im älteren Verbrüderungsbuch auf Seite 10 im Geviert C4 den entsprechenden Namen (hier: Aaron) finden kann. Das ist nicht selbsterklärend, hat man sich aber einmal hineingefunden, sehr erschließend. Die Edition nutzt die Möglichkeiten des Buchdruckes so zur bestmöglich nutzbaren Präsentation der Handschrift.

Technisch etwas weniger aufwändig, dafür stärker auf die in solchen Zusammenhängen naheliegenden Fragen der Netzwerkforschung ausgerichtet ist die Edition des Hersfelder Nekrologes.10 Sie basiert auf drei Quellen aus dem 12. Jh., von denen allerdings nur eine im Original erhalten ist, während die Editoren für die beiden anderen auf, gleichfalls durch den Anhang zugängliche, Abschriften zurückgreifen müssen. Die drei Verzeichnisse zeigen dabei unterschiedliche Ordnungsprinzipien: Eines (HEF A) folgt einem durchgängig hierarchischen Ordnungsschema, eines einem kalendarischen (HEF C), während das dritte beide Ordnungsprinzipien mischt (HEF B). Weniger die Wiedergabe dieser Listen selbst macht allerdings den Wert der Edition aus als die langen Personenkommentare. Im Falle einfacher Konventsmitglieder kommen sie oft über die Angaben der Nekrologe selbst nicht hinaus, für Äbte aber bieten sie reichlich Informationsmaterial aus der Geschichte der Abtei. Zudem sind die Listen der verschiedenen Nekrologe hier miteinander vernetzt und noch einmal durch das Personen- und Ortsregister aufgeschlüsselt, so dass die prosopographische Er­schließbarkeit dieser Edition ausgesprochen hoch ist. Forschungsstrategisch interessant ist die Feststellung des Herausgebers, dass die »Beschäftigung mit der Kultur des Gedenkens in den letzten beiden Jahrzehnten spürbar zurückgegangen« sei (V). Das gilt wohl dann, wenn man sich ganz auf die Frage der Nekrologe konzentriert – und steht damit in erstaunlicher Spannung zu dem Aufschwung der Forschung zu Erinnerungskulturen im selben Zeitraum. Möglicherweise ist dies ein Fall gegenseitiger Nichtwahr nehmung, der anzeigen würde: Den Nekrologeditoren täte eine in­tensive Wahrnehmung der Erinnerungsforschung gut – und diese könnte ihrerseits in den Nekrologlisten ein auf den ersten Blick trockenes, in seiner Auswertbarkeit aber sehr vielfältiges Instrument ihrer Forschungen entdecken.

IV Theologie


Für das Mittelalter gilt noch viel mehr als für die Neuzeit, dass gute Forschung auch von guten Editionen abhängt. Die Drucküberlieferung konnte erst in einem späten Stadium, nach langer handschriftlicher Tradition einsetzen, und bedarf so gründlicher kritischer Überprüfung, in vielen Fällen überhaupt erst der genauen Zuordnung von Stücken zu ihrem Entstehungshorizont. Die Interessen, die zu den Editionen führten, sind vielfach – wie im Falle der Editio Leonina für Thomas – kirchlich geformt, oft auch durch besondere Ordensinteressen. Zu den DFG-geförderten Großprojekten gehört die Editio Coloniensis der Werke des Albertus Mag-nus, die in großer Kontinuierlichkeit Bände hervorbringt und da-mit eines der fachlich komplexesten Werke des hohen Mittelalters für Theologie und Philosophie zugänglich macht. Realistischer-weise allerdings beschränkt sich die Zugänglichkeit ungeachtet der auch eröffneten digitalen Möglichkeiten auf einen relativ kleinen Kreis von Expertinnen und Experten, die nicht allein in der Lage sein müssen, sich das scholastische Latein zu erschließen, sondern auch die aristotelischen Hintergründe philosophischer De­batten ebenso verstehen müssen wie komplexe theologische Fragestellungen.

Umso verdienstvoller ist es, dass nun Henryk Anzulewicz als langjähriger Mitarbeiter der Edition gemeinsam mit Philipp An­dreas C. Anzulewicz eine zweisprachige Ausgabe von Texten Alberts zur Gewissesfrage und zum praktischen Intellekt vorgelegt hat.11 Die Ausgabe ist offenkundig an einer Sachfrage interessiert, zu der mehrere Schriften herangezogen werden, findet ihren Sinn also nicht unmittelbar in der Veröffentlichung eines be­stimmten Textes. Angesichts des oft sehr lehrhaften, gelegentlich enzyklopädischen Charakters von Alberts Schriften, ist dieses Vorgehen sinnvoll – und dient nun dazu, in ein komplexes Geflecht mittelalterlichen Denkens einzuführen. Bekanntlich hatte eine Abschrift der Auslegung der Ezechiel-Vision des Hieronymus das griechische συνείδησις zu συντήρησις verfremdet und damit in die mittelalterliche Gewissens-Debatte den von conscientia zu un­terscheidenden Begriff der synderesis eingeführt. Die hieraus entstehenden komplexen Zuordnungsversuche stellen die Herausgeber in der Einleitung zu der jetzigen Auswahlausgabe in großer Dichte dar (24–77) und bieten so geradezu eine Monographie zum Thema in nuce. Dies dient nun nicht als Vorlage, um Albertus Magnus als eigentlichen Problemlöser zu inszenieren. Zwar gibt es bei ihm klare Definitionen wie in seiner Quaestiones-Sammlung, in welcher in der hier vorliegenden Übersetzung als Gründe, warum die conscientia nicht die synderesis sei, aufgeführt werden:

»(1) Die Synderesis irrt sich niemals. Das Gewissen jedoch irrt sich […] (2) Ebenso: Das Gewissen ist, wie bewiesen wurde, ein Habitus. Die Synderesis hingegen ist ein Vermögen […] (3) Ebenso: Die Synderesis achtet die Unterschiede von Gut und Böse im Allgemeinen. Das Gewissen hingegen gebietet, dies zu tun oder nicht zu tun. Es ist daher auf das Gute oder Böse im Besonderen […] bezogen.« (243)

Albert wäre jedoch nicht Albert, wenn er bei diesen einfachen Ge­genüberstellungen bliebe. Vor allem wäre er aber nicht er selbst, wenn er es bei einem solchen Stand beließe – die Herausgeber zeigen, wie sich in seinem Werk eine zunehmende Klärung des Verhältnisses beider in theologischer wie philosophischer Perspektive abzeichnet und sich in den Textstücken aus De anima, die sie präsentieren, aristotelische und platonische Denkformen miteinander verbinden. Weder die Texte selbst noch die komplexe, niveauvolle Einleitung, sind einfach ad usum Delphini geschrieben. Ihre Präsentation aber macht deutlich, in welch hohem Maße philosophisches und theologisches Denken im Mittelalter sich durch fließende Bewegungen auszeichnet, und sie ermöglichen auch denen, die sich im Lateinischen etwas schwächer fühlen, die Möglichkeit, diese Denkbewegungen nachzuvollziehen.

Weit weniger bekannt als Albertus Magnus ist Heinrich von Gent († 1293) – wohl auch deswegen, weil sich für das Erbe eines Weltklerikers kein Orden besonders interessierte. Dabei hebt Julian Joachim in der Einleitung zu seiner Auswahlausgabe von Artikeln aus Heinrichs Summa hervor, dass die übliche Charakterisierung als Vermittlungs- oder Übergangsgestalt zwischen Thomas von Aquin und Duns Scotus Heinrichs Eigenständigkeit nicht gerecht wird (30).12 Die umfangreiche, durch die Kommentare gut aufgeschlüsselte Übersetzung von Texten zur Gotteslehre bietet daher einen Zugang in die Gedankenwelt Heinrichs. Allerdings dient sie mehr dazu, die Komplexität Heinrichs herauszustreichen als ebendiese Eigenständigkeit: Der Herausgeber stellt Heinrich in den Horizont von durch Thomas geprägten Fragestellungen (des Verhältnisses von esse und essentia) und ist vor allem bemüht, Heinrich als einen souveränen Aristoteliker zu erweisen. Das Eigene Heinrichs liegt allerdings eher in seinem Augustinismus – von hier aus wird dann auch sein Engagement im Zusammenhang der Pariser Verurteilung des konsequenten Aristotelismus 1277 verständlich. Vor allem würde dadurch die klare theologische Ausrichtung seines Werkes deutlicher erkennbar, die im vorliegenden Zu­sammenhang zugunsten einer sehr philosophischen Lesart in den Hintergrund tritt. Das ist natürlich ein grundsätzliches Problem jeglicher Auswahlausgabe – und im Falle von Heinrich von Gent muss man damit rechnen, dass es, dem hier schon viel weiter vorangeschrittenen englischen Vorbild folgend, eine Weile dauern wird, bis viele Einzelausgaben ein umfassendes Gesamtbild ergeben.

Gegenüber dieser starken Betonung des philosophischen Elements hebt Helga Köhler in ihrer Übersetzung von Gersons Consolatio theologiae und des allein schon durch die auftretenden Ge­sprächspartner darauf bezogenen Dialogus apologeticus das theologische Element in Gersons Wirken hervor:13 Gerson er­scheint hier als ein Bibeltheologe, der um eine innerliche Erneuerung der Kirche seiner Zeit ringt und dabei, so hebt es Köhler in ihrer Vorrede hervor, tiefe Einsichten in die Rechtfertigungstheologie des Apostels Paulus gewinnt. So bindet der Text die unterschiedlichen Dimensionen Gersons – als Universitätsgelehrter, spiritueller Schriftsteller und Reformer in der Zeit der Konzilien – eindrucksvoll zusammen. Ihn für ein breiteres Publikum in gut lesbarem Deutsch herauszubringen, war eine sinnvolle Entscheidung. In der Tat kann man von hier aus einen Ersteinstieg in sein Denken gewinnen. Köhler erleichtert den Zugang noch durch einige Erläuterungen wichtiger Begriffe, so dass das Buch auch zum Eigenstudium geeignet ist. Die Grundentscheidung allerdings, die Texte ohne das lateinische Original zu veröffentlichen, ist unter fachlichen Gesichtspunkten zu bedauern. Zweisprachige Ausgaben ha­ben auch für die, die sich ganz auf die deutschsprachige Seite konzentrieren, den Vorzug, zum Lateinischen hinzuführen und die Übersetzung für das Original durchscheinend zu machen. Das gelingt Köhler in einigen wenigen Andeutungen, kann aber von einer einsprachigen Ausgabe nicht umfassend geleistet werden. Die Sehnsucht, den Text auch in einer zweisprachigen Ausgabe zugänglich gemacht zu sehen, gilt umso mehr, weil Köhler offenkundig der Übersetzung Leistungen als Editorin hat vorausgehen lassen. Das betrifft nicht allein den Umstand, dass sie die in Glorieux’ Gerson-Ausgabe vorgenommene unsinnige Lösung der poetischen Stücke aus dem Originalzusammenhang der consolatio revidiert hat und diese nun in Übersetzung an der zugeordneten Stelle bietet. Es zeigt sich auch in der Liste von Errata der Glorieux-Ausgabe, die sie der jetzigen Übersetzung beigibt (199 f.). Man gewinnt den Eindruck: Die Edition ist eigentlich schon vorbereitet– und hätte den Wert der Übersetzung noch einmal um einiges gesteigert.

Nicht nur hier zeigt sich, dass auch der Umgang mit Übersetzungen sorgsam bedacht sein muss. Die Wissenschaftliche Buchgesellschaft hat 2018 die 1958 bis 1979 erschienene Ausgabe ausgewählter Werke Bonaventuras neu herausgebracht.14 Damit sind vier Schriften aus dem spirituellen Zusammenhang der Tätigkeit Bonaventuras als Ordensgeneral der Franziskaner wieder gut zu­gänglich: Das Soliloquium de quatuor mentalibus exercitiis, das Itinerarium mentis in Deum, De reductione artium ad theologiam und die Collationes in Hexaemeron. Angesichts der enormen Breite des Werkes des Doctor Seraphicus kann dies nur ein Ausschnitt sein, die wichtige Dimension akademischen Schaffens kommt hierdurch nicht zum Ausdruck. Das gehört aber zu Auswahlausgaben dazu, macht ihre Grenze, aber doch auch ihre Stärke aus. Bonaventura ist hier als mystischer Autor franziskanischer Prägung gut erkennbar. Allerdings lassen die Übersetzungen auch eine sehr prononcierte Deutung Bonaventuras erkennen. Vielleicht auffälligstes Beispiel hierfür ist die Übersetzung von primum principium als »Urgrund« (Bd. 2,70 f.). Das lässt von den philosophischen Anklängen kaum etwas übrig und führt in eine etwas raunende Sprache hinein. Man könnte auch fragen, ob die gezielte Eindeutschung von »macrocosmus« zur »Großwelt« hilfreich ist (ebd., 72 f.). Insofern ist es wichtig, dass Andreas Speer in seinem Vorwort darauf verweist, dass vielfach angesichts von »spezifischen Eigenarten« der Übersetzungen »der lateinische Text eine verlässliche Orientierung« bietet (Bd. 1,24). Speer bezieht seine kritischen Überlegungen auf den Stil der Übersetzungen – und dürfte dabei wohl vor allem an die des Soliloquium denken, für deren Übernahme ins Programm der damalige Verlag schon 1958 eine Erklärung nötig fand, weil sie von 1939 stammt. Wir haben es hier mit einem Deutsch zu tun, das, noch dazu in großem poetischem und rhetorischem Be­mühen, eine Sprachstufe repräsentiert, die heute schon wieder drei Generationen zurückliegt. »Auch betörte der Zauber der Geschöpfe meinen Geschmack. Und ich merkte nicht, daß Du süßer bist als Honigseim.« (Bd. 1,64 f.). Verstehen das heutige Studierende noch? Und wenn ja: Wollen wir ihnen das zumuten? Will man sich nicht ganz darauf verlassen, dass eine untaugliche Übersetzung den Wert des Originals besser erkennen lässt, wäre es wohl besser gewesen, diese Fassung durch eine modernere, in heutigem Deutsch neu vorgenommene Übersetzung zu ersetzen. Im derzeitigen Stand gilt für diese Neuauflage: immerhin, besser als nichts.

Dass moderne Editionsphilologie auch dazu helfen kann, die Lebendigkeit und Fluidität theologischen Denkens im Mittelalter nachvollziehbar zu machen, zeigt in vorbildlicher Weise ein neuer Teilband der Werke Joachims von Fiore († 1202).15 Der Abt aus Kalabrien gehört zu den am schwersten verständlichen Autoren des Mittelalters – das Gefüge aus symbolischen Deutungen und um­fassender Geschichtstheorie ist außerordentlich komplex und durch die früh, schon bei den radikalen Franziskanern, einsetzende Engführung seiner Wirkung auf chiliastische Erwartungen zusätzlich verstellt. Seit einigen Jahrzehnten ist hier eine profunde Revision im Gange, angestoßen durch Marjorie Reeves, im deutschen Sprachraum vor allem durch Julia Eva Wannenmacher und Kurt-Victor Selge vertreten. Beide haben die jetzt vorliegende Edition von interpretativen Schriften zur Apokalypse mit vorbereitet. Wannenmacher wurde durch ihren frühen Tod an der Vollendung gehindert und damit auch an der Korrektur ihrer früheren Edition von »De septem sigillis«, auf deren Mängel der jetzige Hauptherausgeber Alexander Patschovsky dezent, aber erkennbar hinweist (51). Er hat die Aufgabe, diesen Band zu Ende zu führen, von Kurt-Victor Selge übernommen und sie in vorbildlicher Weise durchgeführt. Neben dem sehr knappen Traktat »De septem sigillis« enthält der Band die noch knappere »Expositio super Bilibris tritici« zu Apk 6,6 sowie Stücke zum Apokalypsekommentar: die Praefatio super Apocalypsim, die hier in Revision der 1990 von Selge vorgenommenen Ausgabe vorliegt, sowie das Enchiridion super Apocalypsim und den Liber introductorius. Will man sich mit der komplexen Methodik Joachims vertraut machen, so stellt die Praefatio den einfachsten Zugang dar. In ihr erläutert Joachim die trinitarische Einteilung der Geschichte (130,8–21) wie auch die an Augustin an­gelehnte Entsprechung der Geschichtsverläufe zum Sechstageschema (132,13 f.). Zentral zur Erschließung ist für ihn die auf die Geschehnisse des Neuen Bundes, das heißt, der christlichen Ge­schichte, vorausweisende prophetische Funktion der Apokalypse:

»Die Geschehnisse des Neuen Testaments aber waren noch künftig, als Chris-tus in die Welt kam. Und da sie nicht in der Weise des historischen Berichts beschrieben werden konnten, finden sie sich komprimiert in der Apokalypse in prophetischen Worten« (»gesta vero Novi Testamenti futura adhuc erant, quando Christus venit in mundum, et quia historice necdum scribi poterant, in libro Apocalypsis verbis sunt propheticis coartata« [131,10–13]).

Die Weise der Komprimierung aber bringt es mit sich, dass das Künftige durch verba mystica und figurae erschlossen werden muss (131,17.19). Dass dieser Text durch die starke Wirkung von Joachims Denken selbst zahlreichen Änderungen unterzogen wurde, zeigt nicht nur der umfassende und doch schon merklich entschlackte (s. 124) Apparat, sondern auch der Umstand, dass Patschovsky sich wiederholt entschieden hat, markante Varianten nicht allein in den Apparat zu setzen, sondern als in ihrer Provenienz klar gekennzeichnete Varianten im Haupttext nebeneinander. Schon dies hilft, die Lebendigkeit des mittelalterlichen Denkens zu erfassen. Noch frappierender ist die von Patschovsky eröffnete Möglichkeit, Joachim selbst in seiner Werkstatt gewissermaßen über die Schulter zu schauen: Der Liber introductorius stellt eine Weiterentwicklung des Enchiridion dar, und die vorliegende Ausgabe weist dies auf sehr benutzerfreund aus, indem die gemeinsamen Stellen beider Texte in der jeweiligen Ausgabe durch eine besondere Drucktype ausgewiesen sind. Das eröffnet weite Felder für künftige Forschung.

V Philologie im digitalen Zeitalter


Die Joachim-Edition wirft auch die Frage auf, ob die mediävistische Forschung nicht noch offensiver als bislang digitale Editionstechniken verfolgen sollte. Sie zeigt, dass dergleichen nichts mit einem Kotau vor den in dieser Hinsicht in der Tat immer forcierten Anforderungen im Drittmittelbereich zu tun hat, sondern mit den schieren Sachanforderungen: Der Herausgeber hat hier die Möglichkeiten linearer Textgestaltung in hervorragender Weise genutzt – und doch könnte ein Hypertext die Textgenese um vieles klarer und leichter zugänglich machen. Möglicherweise können die MGH, die ihre Texte stets rasch, mit einer zu respektierenden Firewall, der Öffentlichkeit digital als durchsuchbare pdf zur Verfügung stellen, an diesem Punkt noch einen Schritt weiter gehen und untereinan der verlinkbare Hypertexte schaffen. Joachim könnte damit ein Vorreiter für weitere entsprechende Repräsentationen textgenetischer Vorgänge werden.

Dass sie dazu bereit sind, dokumentieren die MGH in der Publikation der Tagung anlässlich ihres 200-jährigen Bestehens.16 Ne­ben einigen gediegenen Studien zur materialen Editionsarbeit stechen vor allem zwei Beiträge zu digitalen Editionen hervor: Thomas McCarthy zeigt am Beispiel der von ihm gleichfalls in den Schriften der MGH ausführlich aufgearbeiteten17 – schon früh in zahlreichen konkurrierenden Varianten überlieferten Frutolf-Chronik die polyvalenten Möglichkeiten der heute in vielen Bereichen zur Edition genutzten xml-Dateien auf, die einerseits durch Transformation in eine pdf den klassischen Buchtext generieren können, andererseits, umgewandelt in html, auf einer vom Buch unabhängigen Homepage die unterschiedlichen Fassungen repräsentieren können – das dürfte für viele Editionsprojekte in der Tat den angemessenen Weg in die Zukunft beschreiben (151–170, be­sonders 164–168). Ein weiteres Beispiel einer xml-basierten Edition stellt Eva Schlotheuber mit dem faszinierenden Briefwechsel der Lüner Benediktinerinnen vor, den sie auf der Homepage der Her zog August Bibliothek Wolfenbüttel und demnächst auch im Druck präsentiert – hier wird auch die interdisziplinäre Erschließungskraft deutlich, wenn Schlotheuber die in der digitalen Edition gegebenen vielfältigen Möglichkeiten linguistischer Auswertung darlegt (193). Beide Beiträge lassen sich als etwas wie Best-practice-Beispiele verstehen. Sie beanspruchen weder das Rad neu zu erfinden – xml ist mittlerweile in der Editionspraxis weit verbreitet – noch verstehen sie digitale Edition einfach als Fortsetzung der klassischen Edition mit anderen Mitteln. Vielmehr zeigen sie auf, wie digitale Wissenschaftsmethodik Möglichkeiten zum sachangemessenen Arbeiten weiterführen kann. Damit sind sie auch wichtige Zeugnisse dessen, dass die Querstände zwischen bloßem Festhalten am Bewährten auf der einen und Internet-Euphorie auf der anderen längst überwunden sind: Es geht um ein nüchternes Abwägen dessen, wie digitale Editionen in kluger Handhabung die Editionsphilologie über die im 19. Jh. gesteckten Bahnen hinausführen und verbessern können.

VI Mediävistische Editionen im Horizont

vonglobal history

Die Mediävistik steht aber nicht nur technisch vor neuen Herausforderungen, sondern auch hinsichtlich der Fragestellungen der Forschung. Auch die Mittelalterstudien können sich den Fragen, die sich durch die Globalitätserfahrungen der Spät- oder Postmoderne stellen, nicht entziehen – und sollten das auch nicht. Selbstverständlich sieht eine Welt, die noch nicht um den amerikanischen Kontinent wusste, anders aus als die Welt des 21. Jh.s – aber genau daraus entstehen wichtige Fragestellungen. Wenn die Veröffentlichungen der letzten Jahre ein Indiz darstellen, so wird die gelehrte Welterfassung des Mittelalters in Chroniken, Erdbeschreibungen und Karten ein immer wichtigeres Forschungsfeld. Die Zeiten sind vorbei, in welchen die wenigen Spezialistinnen und Spezialisten für Kartographie einen Ort am Rande großer Tagungen zugewiesen bekamen. Ihr Feld ist in das Zentrum neuer Konzepte historischen Wissens gerückt. Die Ebstorfer Weltkarte zu kennen, gehört heute zum mediävistischen Anstand – die Forschung aber hat das Feld von Diagrammen, Landkarten und deren verbalen Beschreibungen immer wieder bearbeitet und differenziert. In diesen Zusammenhang gehört »De mapa mundi«, ein komplementär auf eine Weltkarte bezogener Text des Franziskaners und Bischofs Paolini Veneto († 1344).18 Der Text ist, wie Michelina Di Cesare schreibt, mehr als eine Illustration (24), er bietet einen eigenen Zugang zu den Weltteilen, geprägt durch eine Vielzahl da­rin verarbeiteter literarischer Quellen, weswegen Di Cesare geradezu von einem »Textmosaik« spricht (64). Und doch scheint es, dass hier mehr geschieht als eine bloße Kompilation, denn die mapa mundi bietet eine »außerordentliche Neuerung« (31): In die Kartographierung der Welt werden auch Karten aus dem Zusammenhang der Seefahrt einbezogen. Die Welterfassung wird also mit Welterfahrung, geradezu empirisch orientierten und praktisch ausgerichteten Fertigkeiten verbunden. Das ist unter dem Ge­sichtspunkt der Wissenskulturen des Mittelalters eine bemerkenswerte Feststellung.

Wie Gelehrsamkeit sich mit realen Erkundungen der Wirklichkeit der Welt verbinden konnte, zeigt der Umstand, dass Hartmann Schedel bei seiner Weltchronik auch auf das Itinerarium des Nürnberger Arztes Hieronymus Münzer zurückgriff, der sich in den humanistischen Zirkeln der Stadt bewegte.19 Das Manuskript dieser Schrift, das nun Klaus Herbers veröffentlicht hat, befand sich sogar in Schedels Besitz. Es zeichnet vor allem die Wege in Frankreich und Spanien nach. Münzer folgte bei seinen Reisen, wie er zu Beginn des Itinerariums unter Verweis auf Aristoteles bekennt, vor allem einer tiefen Wissensbegierde, die ihn »ad bene et beate vivendum« führen sollte (3,15 f.). Das ist auch Ausdruck humanistischer Wertschätzung der im Mittelalter vielfach verpönten Neugier. Für einen Humanisten passend, wird sie nicht allein durch Reisen gestillt, sondern eben auch durch Bücher. Aus Santiago vermeldet er stolz, er habe eigenhändig Exzerpte aus dem Liber Sancti Iacobi vorgenommen (195,3 f.). Das verweist auf ein zumindest mitlaufendes religiöses Interesse, durch welches aber nicht gängige Er­wartungen an veräußerlichte Pilgerfrömmigkeit bedient werden: Am selben Ort äußerte Münzer sich verächtlich über den Lärm in der Kirche, der von wahrer devotio ablenke (214,12–15). Und auch Listen von Reliquien, die er wiedergab, dienten mehr zum Staunen als zur Sammlung von Ablass (z. B. 287,3–288,3). Nüchtern konnte er etwa aus Toulose vermelden, dass dort der Leichnam des Thomas von Aquin ruhe, sein Haupt aber in der Sakristei zu finden sei (290, 1 f.). Aus kirchenhistorischer Sicht wird man diese Form humanistischer Reisebeschreibungen einzubeziehen haben, wenn man die religiöse Mobilität des ausgehenden Mittelalters würdigen will.

Der Umstand, dass das Itinerarium bei Hartmann Schedel aufbewahrt wurde, ist kein Zufall. Über die Zusammenarbeit Münzers mit ihm kann man sich nun durch die magistrale Studie von Bernd Posselt über Konzeption und Kompilation der Schedelschen Weltchronik informieren (19 f.).20 In mühsamer Kleinarbeit hat Posselt die Quellen, die Schedel verwertet hat, ausfindig gemacht – der Anhang, in welchem er sie nachweist, umfasst fast hundert Seiten (423–513). Von dieser Arbeit wird man in Zukunft durch die kritische Edition der Schedelschen Weltchronik profitieren (s. den Verweis auf S. 50). Beim gegenwärtigen Stand ermöglicht sie weitere eigene Forschung an der Chronik und ihren Gegenständen, angeleitet durch Posselts saubere Nachzeichnung der Kompilationsvorgänge in den zwei wichtigsten Gattungen des Textes: den Papstbiographien wie den Schilderungen von Städten. In beiden Fällen bedeutet Kompilation aber nicht nur das Zusammentragen einer Fülle von Informationen, sondern auch die Formung nach be­stimmten Schemata. Wie Schedel da mit seinen Vorlagen umgeht, zeigt Posselt eindrucksvoll am Beispiel der Stadtbeschreibung von Genua (258–267). Die Chronik gewinnt durch die festen, aber, wie Posselt anhand der Varianz der Papstviten zeigt (198–212), nicht starren Schemata eine Art lexikalischen Wert, der die Informationen in einen seriellen Zusammenhang miteinander stellt. Dass Nürnberg dabei eine gewisse, von Posselt gleichfalls gewürdigte Ausnahme darstellt (345–365), wird niemanden überraschen. Durch solche philologisch hochdetaillierte und präzise Arbeit wird die Fallstudie zu Schedel zu einem Exemplum der Sammlung und Formung von Wissen im Humanismus – und lässt auf die Durchführung der Edition des Ganzen hoffen.

Eine andere Spur, die im globalisierten Horizont der Geisteswissenschaften aufgenommen wird, ist neben den beschriebenen chronographischen und kartographischen Versuchen der Welterfassung die der »global encounters«: Globalität der Kultur spiegelt sich auch in dem, was klassischerweise wohl als Fremdheitserfahrung bezeichnet würde: In einer Kultur verwurzelte Menschen begegnen Menschen aus anderen Kulturkreisen und sind hierdurch genötigt, das Andere als Anderes und damit sich selbst als nicht ganz selbstverständlich zu reflektieren. Das erfolgt in moder nen multikulturellen Gesellschaften, erst recht in Zeiten des sekundenschnellen Austauschs vermittels der neuen Medien in großer Verdichtung. Das Ineinander von Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung aber, das den Kern solcher »global encounters« ausmacht, ist dem Mittelalter nicht unvertraut. Auf höchst ambigue, gebrochene Weise begegnet die Fremdheitserfahrung in den »Deutschen Berichten« über Vlad III. Drǎculea († 1476).21 Er gehörte zu den walachischen Fürsten, die im 15. Jh. in einem spannungsvollen Machtgeflecht zwischen Ungarn und Polen auf der einen, dem Osmanischen Reich auf der anderen Seite agierten. Plünderungen und regelrechte Raubzüge vor allem nach Siebenbürgen gehörten zu seinen Mitteln politischer und militärischer Herrschaftssicherung – die er gegenüber den Osmanen unter Mehmed II. (1444–1446; 1451–1481) so kühn und erfolgreich betrieb, dass sie ihm »im Pantheon des rumänischen Geschichtsdenkens einen Heldenplatz als energischer Türkenbekämpfer und ›Verteidiger des Vaterlandes‹ einbringen sollten« (17 f.). Jene Raubzüge aber schufen ein anderes, weltweit wirksameres Bild höchster Grausamkeit. Es ist nur ein Beispiel für viele, wenn es heißt: »Item er ließ die jungen kinder pratenn, die musten die muotern essen. Und schneid den frowen ir brist ab, die muosten die man essen. Darnach ließ er die man spissen.« (215)

Von hier war der Schritt zur modernen Legende von Graf Dracula nicht weit – die von Annas und Paulus bereitete Edition deutet sie an, konzentriert sich aber auf die historische Einordnung des diffizilen Zusammenhangs legendarischer Überhöhung mit historischen Hintergründen, bzw. wie sie es elegant ausdrücken, der »volatilen Historizität der ›Deutschen Berichte‹« (45), deren Entstehung Herausgeberin und Herausgeber im Kern am ungarischen Königshof von Matthias Corvinus (1458–1490) verorten (96). Sie diente hier nach einer einleuchtenden Erklärung der Legitimation des Vorgehens des Königs gegen einen verdienten Helden im Kampf gegen die Türken (99). Corvinus hatte ihn zeitweise gefangen gesetzt und erst nach über einem Jahrzehnt wieder rehabilitiert (20–24). So bildet diese in Gründlichkeit der Einleitung und des historischen Kommentars sich fast zu einer eigenen Monographie auswachsende Edition einen gewichtigen Beitrag zum Verständnis einer Welt, in der der immer wiederholte Gegensatz zu den Osmanen eine Dichotomie suggerierte, die im Einzelfall konkreter Auseinandersetzungen unterlaufen und in eine Perspektivenvielfalt aufgelöst werden konnte.

Dass zu den kulturellen Begegnungen des Mittelalters vor allem auch die interreligiösen gehören, ist schon länger bewusst, und auch diese Fragestellungen bekommen im Horizont der Globalisierung neuen Schwung, auch wenn sie eben gerade nicht einen geographischen Austausch zur Voraussetzung hatten, sondern kulturelles Nebeneinander in dichten Räumen Europas. Seit einiger Zeit haben die MGH eine Reihe hebräischer Texte aus dem mittelalterlichen Deutschland in ihre Editionen integriert, die etwas von der kulturellen Vielfalt an solchen Begegnungsorten erkennen lassen. Ein Paradefall eines solchen Raumes ist die Schum-Region mit Speyer, Worms und Mainz. Rainer Josef Barzen kann in einer großen Edition zeigen, wie hier ab 1220 die Rechtstradition der Taqqanot, einzelner Rechtsweisungen, zusammenwuchs.

Dass die Einleitung für die Edition dieser Taqqanot22 überdimensioniert erscheint, liegt daran, dass dieses Werk auf einer Dissertation be­ruht – und angesichts der geringen Kenntnis jüdischer Rechtstradition, die bei den meisten Nutzern und Nutzerinnen der MGH wohl vorauszusetzen ist, kann man für die ausführlichen Hinweise nur dankbar sein. Barzen zeichnet die Entwicklung der Rechtssätze nach und macht seine Argumentation durch die Edition nachvollziehbar, in welcher er die verschiedenen Überlieferungsstränge synoptisch nebeneinanderstellt und auch noch jeweils, ebenfalls synoptisch wiedergegeben, Übersetzungen hinzufügt. Daraus wird kein leichter Einstieg in die schwierige Materie, aber wenn deren Verständnis denn erleichtert werden kann, so geschieht es durch diese Grundlagenarbeit, die trotz der beigegebenen um­fangreichen Bibliographie immer noch den Charakter einer Pionierleistung hat. Auch Nichtfachleute können so, zumal durch die ausführlichen Erläuterungen in den Anmerkungen, mit Interesse nachvollziehen, was an kultureller Interaktion hinter dem Verbot des Weinkelterns durch Nichtjuden (294) steht oder hinter der Vorschrift: »Und man soll keinem Nichtjuden erlauben, am Schabbat Wasser in den Kessel zu gießen« (296.298). Die Knappheit dieser Re­gelungen ist typisch für die Taqqanot, die über einen breiten Resonanzraum an Rechtstradition und sozialer Praxis verfügen. So führen sie mitten hinein in die breite historische Wirklichkeit jüdischer Gemeinden des Mittelalters in einem Dreieck rund um die Stadt Mainz, die Christen wie Juden als heiliger Ort galt (3 f.).

VII Schluss


Editionen mögen nicht das Paradepferd moderner Forschung sein. Die Begriffe in den Einleitungen erscheinen oft merkwürdig altbacken, fernab der Diskurse, die die Kulturwissenschaften umtreiben. Unsympathisch ist das nicht – es drückt auch die Distanz zu Moden aus, die dieses Geschäft prägt, das seine Produkte manchmal über Generationen hinweg einem (vorläufigen) Abschluss zu­treibt, wie es besonders tragisch im Falle der Hinkmar-Ausgabe zu sehen war. Zeitenthoben werden die Editionen dadurch nicht: Es hat sich gezeigt, dass im Zuge digitalen Edierens nicht nur neue Techniken, sondern auch neue Fragestellungen aufgekommen sind, und die Aufnahme jüdischer Schriften wie auch anderer Editionen zu Themen der Interkulturalität zeigt, dass die Editionswissenschaft auf neue Anforderungen reagieren kann und reagiert. Die langen Zeiträume, in welchen Editorinnen und Editoren denken müssen, mögen dabei dazu helfen, aus den Entwicklungen Tragfähiges herauszufiltern. Manche Mode mag kurzlebiger sein als die Dauer eines einzelnen gewichtigen Editionsprojektes und so vor dessen Erscheinen schon wieder vergangen sein. Es wäre allerdings unangemessen, dem einfach das dauerhafte Bleiben der Edition entgegenzustellen. Auch Editionen werden überholt, wie sich am Beispiel der St. Gallener Verbrüderungsbücher oder der Chronik des Lauterbergs zeigt. So bleibt die Editionswissenschaft in allen Wandlungen eine Konstante – und zwar eine solche, auf die alle, die sich mit den so zur Verfügung gestellten Texten befassen, gerne zurückgreifen: eine Grundlagenwissenschaft im bes­ten Sinne.

Fussnoten:

1) Dokumente zur Geschichte des Deutschen Reiches und seiner Verfassung. 1336–1344. Teil 2 (1340–1343). Bearb. v. M. Menzel. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2019. XLIV, 376 S. = Monumenta Germaniae Historica – Leges (Constitutiones et acta publica imperatorum et regum), 7/2. Geb. EUR 120,00. ISBN 9783447100724.
2) Dokumente zur Geschichte des deutschen Reiches und seiner Verfassung 1362–1364. Bearb. v. U. Hohensee, M. Lawo, M. Lindner, O. B. Rader. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2020. LIV, 480 S. = Monumenta Germaniae Historica – Leges (Constitutiones et acta publica imperatorum et regum), 14,1. Geb. EUR 140,00. ISBN 9783447112451.
3) Hack, Achim Thomas [Hg.]: Die Ordines für die Weihe und Krönung des Königs und der Königin in Mailand. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2020. VIII, 312 S. = Monumenta Germaniae Historica – Leges (Fontes iuris Germanici antiqui in usum scholarum separatim editi), 17. Geb. EUR 30,00. ISBN 9783447115278.
4) Hehl, Ernst-Dieter: Gregor VII. und Heinrich IV. in Canossa 1077. Paenitentia – absolutio – honor. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2019. XXII, 142 S. = Monumenta Germaniae Historica – Studien und Texte, 66. Geb. EUR 35,00. ISBN 9783447112468.
5) Hincmari Archiepiscopi Remensis Epistolae. Die Briefe des Erzbischofs Hinkmar von Reims. Hg. v. R. Schieffer nach Vorarbeiten v. E. Perels u. N. Ertl. Teil 2. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2018. VIII, 236 S. = Monumenta Germaniae Historica – Epistolae, 8/2. Kart. EUR 45,00. ISBN 9783447100748.
6) Šmahel, František: Die Basler Kompaktaten mit den Hussiten (1436). Untersuchung und Edition. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2019. XXII, 226 S. m. 1 Tab. = Monumenta Germaniae Historica – Studien und Texte, 65. Geb. EUR 45,00. ISBN 9783447111799.
7) Ekkehart IV.: St. Galler Klostergeschichten. Casus sancti Galli. Hgg. u. übers. v. H. F. Haefele u. E. Tremp unter Mitarbeit v. F. Schnoor. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2020. XIII, 688 S. m. Abb. u. Tab. = Monumenta Germaniae Historica – Scriptores (Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi), 82. Geb. EUR 98,00. ISBN 9783447111782.
8) Priester Konrad: Chronik des Lauterbergs (Petersberg bei Halle/S.). Hg. v. K. Naß. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2020. VI, 400 S. = Monumenta Germaniae Historica – Scriptores (Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi), 83. Geb. EUR 68,00. ISBN 9783447113861.
9) Geuenich, Dieter, u. Uwe Ludwig [Hgg.]: Die St. Galler Verbrüderungsbücher. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2019. XXXII, 656 S. m. 161 Abb. = Monumenta Germaniae Historica – Quellen zur Geistegeschichte des Mittelalters, 9. Geb. EUR 198,00. ISBN 9783447100779.
10) Hochholzer, Elmar [Hg.]: Die Necrologien der Abtei Hersfeld. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2018. XVIII, 248 S. = Monumenta Germaniae Historica, 10. Geb. EUR 125,00. ISBN 9783447109550.
11) Albert der Große: Über das Gewissen und den praktischen Intellekt. Eine Textauswahl aus De homine, den Quaestiones und De anima. Lateinisch – Deutsch. Eingel. u. übers. v. H. Anzulewicz u. Ph. A. C. Anzulewicz. Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2019. 480 S. = Herders Bibliothek des Mittelalters. 3. Serie, 44. Geb. EUR 60,00. ISBN 9783451383175.
12) Heinrich von Gent: Gottes Wesen und Washeit. Artikel 21–24 der Summa. Lateinisch – Deutsch. Eingel. u. übers. v. J. Joachim. Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2019. 440 S. = Herders Bibliothek des Mittelalters. 3. Serie, 45. Geb. EUR 58,00. ISBN 9783451384271.
13) Johannes Gerson: Trost der Theologie und Apologetischer Dialog. Eingel., übers. u. kommentiert v. H. Köhler. Stuttgart: Anton Hiersemann Verlag 2018. XLIII, 200 S. = Bibliothek der Mittellateinischen Literatur, 14. Geb. EUR 164,00. ISBN 9783777218175.
14) Bonaventura: Ausgewählte Werke. 3 Bde. Lateinisch – Deutsch. M. e. Einführung v. A. Speer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg Academic) 2017. 1324 S. m. 2 Tab. Lw. EUR 129,00. ISBN 9783534269778.
15) Joachim von Fiore: Expositio super Apocalypsim et opuscula adiacentia. Teil 1: Expositio super Bilibris tritici etc. (Apoc. 6,69). De septem sigillis – Praefatio super Apocalypsim, Enchiridion super Apocalypsim, Liber introductorius in Expositionem Apocalypsis. Deutsch – Lateinisch. Hgg. v. A. Patschovsky u. Kurt-Victor Selge. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2020. XXXIV, 874 S. m. 1 Abb. u. 22 Tab. = Monumenta Germaniae Historica – Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 31. Geb. EUR 168,00. ISBN 9783447113762.
16) Hartmann, Martina, u. Horst Zimmerhackl ([Hgg.]: Quellenforschungen im 21. Jahrhundert. Vorträge der Veranstaltungen zum 200-jährigen Bestehen der MGH vom 27. bis 29. Juni 2019. Hg. unter Mitarbeit v. A. C. Nierhoff. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2020. XII, 252 S. m. 14 Abb., 3 Ktn. u. 2 Tab. = Monumenta Germaniae Historica – Schriften, 75. Geb. EUR 55,00. ISBN 9783447113878.
17) McCarthy, Thomas J. H.: The continuations of Frutolf of Michelberg’s Chronicle. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2018. XXVIII, 258 S. = Monumenta Germaniae Historica – Schriften, 74. Geb. EUR 55,00. ISBN 9783447110617.
18) Di Cesare, Michelina: Studien zu Paulinus Venetus. De mapa mundi. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2015. XXIV, 186 S. = Monumenta Germaniae Historica – Studien und Texte, 58. Geb. EUR 35,00. ISBN 9783447104357.
19) Hieronymus Münzer: Itinerarium. Hg. v. K. Herbers unter Mitarbeit v. W. Deimann, R. Hurtienne, S. Meyer, M. Montag, L. Walleit. M. Beiträgen v. T. B. Orth-Müller. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2020. CCCVIII, 572 S. m. 8 Abb., 3 Ktn. u. 5 Tab. = Monumenta Germaniae Historica – Reiseberichte des Mittelalters, 1. Geb. EUR 148,00. ISBN 9783447109727.
20) Posselt, Bernd: Konzeption und Kompilation der Schedelschen Weltchronik. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2015. LIV, 618 S. Monumenta Germaniae Historica – Schriften, 71. Geb. EUR 84,00. ISBN 9783447104340.
21) Annas, Gabriele, u. Christof Paulus: Geschichte und Geschichten. Studien zu den ›Deutschen Berichten‹ über Vlad III. Drǎculea. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2020. XL, 270 D. m. 8 Tab. = Monumenta Germaniae Historica – Studien und Texte, 67. Geb. EUR 55,00. ISBN 9783447113908.
22) Barzen, Rainer Josef [Hg.]: Taqqanot QuehillotŠum. Die Rechtssatzungen der jüdischen Gemeinden Mainz, Worms und Speyer im hohen und späten Mittelalter. 2 Teile. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2019. CXII, 820 S. m. 1 Kt. = Monumenta Germaniae Historica – Hebräische Texte aus dem mittelalterlichen Deutschland, 2. Geb. EUR 248,00. ISBN 9783447100762.