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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

436–443

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Troeltsch, Ernst

Titel/Untertitel:

Briefe II(1894–1904). Hg. v. F. W. Graf. In Zusammenarb. m. H. Haury.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2015. XVII, 528 S. m. 5 Abb. = Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, 19. Lw. EUR 220,00. ISBN 9783110406672.

Rezensent:

Matthias Wolfes

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Troeltsch, Ernst: Spectator-Briefe und Berliner Briefe (1919–1922). Hg. v. G. Hübinger. In Zusammenarb. m. N. Wehrs. Berlin u. a.: De Gruyter 2015. XX, 719 S. m. 5 Abb. = Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, 14. Lw. EUR 240,00. ISBN 9783110 418330.
Troeltsch, Ernst: Briefe III (1905–1915). Hg. v. F. W. Graf. In Zusammenarb. m. H. Haury. Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XVII, 889 S. m. 5 Abb. = Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, 20. Lw. EUR 240,00. ISBN 9783110419757.


Mit drei voluminösen Bänden – zwei Briefbänden sowie den »Spectator«- und »Berliner Briefen« aus Troeltschs letzten Lebensjahren – schreitet die »Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe« (KGA) ihrer Vollendung entgegen. Geht es im bisherigen Tempo weiter, dann dürfte das anspruchsvolle, gegenüber der ursprünglichen Planung mehrfach erweiterte Unternehmen zum einhundertsten Todestag, dem 1. Februar 2023, abgeschlossen vorliegen.
Alle drei Bände weisen das hohe editionstechnische Niveau auf, das bisher schon die KGA gekennzeichnet hat. Die Herausgeber Friedrich Wilhelm Graf und Gangolf Hübinger tragen durch Einleitungen und Editorischen Bericht bzw. (im Falle der Briefbände) Ausführungen zur editorischen Konzeption das sekundäre Material zu den betreffenden Textcorpora vollständig zusammen und erweitern es durch die Ergebnisse eigener intensiver Forschungen.
Den Editionsrichtlinien der Ausgabe entsprechend, werden Troeltschs Texte durchweg durch einen Sachkommentar erschlossen. Dies hat die Bearbeiter bisweilen vor nicht geringe Probleme gestellt. Immer wieder waren, besonders bei der Korrespondenz, Bezüge aufzuhellen, die sich sehr im Hintergrund des öffentlichen Lebens abgespielt oder ganz verborgen haben, so dass ein erhebliches Maß an Spürsinn und eine ausgeprägte Vertrautheit mit den Lebensumständen Troeltschs erforderlich gewesen sind. Wo sich dennoch, trotz umfangreicher Konsultation der zeitgenössischen Tagespresse, der wissenschaftlichen, politischen und populären Kleinliteratur sowie zahlreicher Nachlass- und Archivbestände, solche Gegenstände nicht eindeutig haben klären lassen, wird dies zu erkennen gegeben. Im Ergebnis liefern die Bände wiederum Basismaterial für die zukünftige Beschäftigung mit Troeltsch und seinem kultur-, religions- und wissenschaftspolitischen Wirken.
Die sogenannten »Spectator-Briefe« sind derjenige Teil aus dem Spätwerk Ernst Troeltschs, der am meisten gelesen worden und auch in der Nachgeschichte seines Schaffens am bekanntesten geblieben ist. Troeltsch hat in den letzten vier Jahren seines Lebens ein geradezu überreiches Schrifttum produziert, das aber, wie man wohl wird sagen dürfen, in seiner thematischen Anlage und literarischen Gestalt doch sehr vielspältig war und aufgrund der Unabgeschlossenheit auch nicht leicht gefasst werden kann.
Mehrere Anläufe sind in den letzten Jahrzehnten unternommen worden, um den kultur- und sozialpolitisch engagierten, als kritischer Beobachter scharfsichtigen Gegenwartsdeuter anhand dieser »Briefe« auch einer nachgeborenen Leserschaft bekannt zu machen. In der neueren biographischen und werkanalytischen Literatur zu Troeltsch spielen sie eine große Rolle. Dabei konnte man sich zunächst auf eine 1924 von Hans Baron veranstaltete Auswahlausgabe stützen, zu der Friedrich Meinecke ein kurzes Ge-leitwort beigesteuert hatte. Sie ging zum Teil auf Vorarbeiten von Troeltsch zurück, der zeitweilig selbst an einen Sammelband ge­dacht hatte. (Das zu diesem Zweck von ihm angelegte Handexemplar ist leider verschollen.) 1994 kam dann eine umfangreiche Auswahl heraus, sorgfältig bearbeitet von Johann Hinrich Claussen; von ihr liegt derzeit eine überarbeitete Neuausgabe vor.
Erst jetzt aber, mit dem 14. Band der Gesamtausgabe, werden alle 32 Beiträge vollständig und in textkritischer Form ediert, die Troeltsch von Februar 1919 bis August 1920 unter dem Pseudonym »Spectator« in der Zeitschrift »Kunstwart und Kulturwart« veröffentlicht hat. Hinzu kommen die 24 namentlich gezeichneten Folgen der »Berliner Briefe«, die in derselben Zeitschrift als Fortsetzung der »Spectator-Briefe« bis zum November 1922 erschienen sind. Im Ganzen handelt es sich bei den 56 Beiträgen um eine Textmenge, die im Druckbild der KGA annähernd 600 Seiten ausmacht.
Über die Entstehung der »Briefe« geben nur wenige Zeugnisse Auskunft. In einem auf den 1. Juli 1920 datierten Beitrag erklärt Troeltsch selbst: »Der Herr Herausgeber hatte mir gleich nach der Revolution den Kunstwart zur Verfügung gestellt, und ich war froh um diesen parteilosen Ort der Äußerung.« Troeltschs Verbindung zu der 1887 von Ferdinand Avenarius gegründeten, im Umfeld der le­bensreformerischen Kulturkritik angesiedelten Zeitschrift geht bis in den November 1917 zurück. Hierzu und zu den seither erschienenen Troeltsch-Texten bis zum ersten Beitrag der »Spectator«-Reihe gibt der Herausgeber in der Einleitung alle nötigen Auskünfte. Troeltsch ging mit Avenarius in mehrfacher Hinsicht nicht einig: »Ich habe das Anerbieten von Avenarius benützt, um ein Sprachrohr zu haben zu regelmäßiger Äußerung, da ich in der patriotischen u. liberalen Presse einen wirklichen Zugang nicht habe«, heißt es in einem Brief an Hans Delbrück vom 25. August 1919. »Ich passe nirgends hin u. habe mich auch mit den großen Blättern allen überworfen […].« So erscheint die »Kunstwart«-Mitarbeit wie ein Not-behelf, sei die Zeitschrift doch »abgelegen«; auch wolle Avenarius »meine Briefe immer korrigieren d. h. mildern u. dem Publikum schmackhafter machen«, woraus »mancher Ärger« erwuchs.
Von wem die Anregung zu einer als längere Reihe geplanten Kolumne ausging, ist unklar. Den ersten »Brief« schrieb Troeltsch bereits Ende November 1918, doch erschien dieser Text dann erst knapp ein Jahr später. Das Pseudonym »Spectator«, das Troeltsch unter die »Kunstwart«-Beiträge setzte (in seiner Korrespondenz benutzte er stets die Form »Spektator«), ist wenig originell. Im Augustheft 1920 erklärte er, er habe »diese Briefe anonym gehalten«, »um völlig unabhängig zu sein und auf gar keine Wirkung hin schielen zu müssen«. Auch »wollte« er der Regierung, »der ich als sehr unabhängiges Mitglied ehrenamtlich [als parlamentarischer Unterstaatssekretär im preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung] angehört habe und anzugehören für Pflicht hielt«, »keine Schwierigkeiten machen«. Dass Troeltsch hier im Vergangenheitsmodus schreibt, darf nicht irritieren; tatsächlich war er bis zum Ablauf seines Mandats im Februar 1921 im Amt, wie mehrere mit der Bezeichnung »Staatssekretär« unterzeichnete Briefe aus den Anfangswochen des Jahres belegen. Aus seiner Verfasserschaft machte er im Übrigen kein Geheimnis, und schließlich löste er das Pseudonym nach 31 Folgen selbst auf. Seit jenem Beitrag vom August 1920 (»Die Reichstagswahlen: Eintritt der Revolution in ein neues Stadium«) erschienen alle weiteren Texte der Kolumne bis zu deren Ende nur noch mit Troeltschs Namen.
Die »Spectator-« und die »Berliner Briefe« präsentieren einen ungewöhnlich zugänglichen, journalistisch versierten Autor. Be­trachtet man diese Texte nach Stil und Leserzuwendung, dann liegen Welten zwischen ihnen und etwa den gleichzeitig entstandenen Historismus-Analysen. Was aber besonders anspricht, das ist der freie Geist. Er tut das jenseits der im Einzelnen vorgetragenen politischen Einschätzung, jenseits auch der bisweilen anfecht-baren Meinungen zu aktuellen Erscheinungen des Kulturlebens, etwa der verachteten »Tanzwut«. Troeltsch setzt sich bei seinen Erörterungen keine Grenzen. »Da ich nun einmal von der Bildung rede, so sei auch des Unterrichtswesens gedacht«, worauf mehrere einschlägige Seiten folgen (531).
Was Meinungs- und Urteilsstärke betrifft, spricht ein selbstbewusster Beobachter: »Inzwischen ist der entsetzliche Wahnsinn, der für die innen- und außenpolitische Lage gleich verhängnisvoll war, Wirklichkeit geworden« (April 1920). Dass die dem Deutschen Reich auferlegte Reparationspflicht unerfüllbar sei, sei »aller Welt klar«, heißt es im Juni 1922. Die vom sowjetischen Regime angestrebte deutsch-russische Allianz habe allein den Sinn, »die ersehnte Weltrevolution endlich doch noch herbeizuführen«; zu diesem Zweck wollen »die Russen« »die deutschen Kommunisten und die extremen deutschen Nationalisten vereinigen, ganz ähnlich wie sie […] selbst völlig bewußt eine nationalistische kommunistische Politik betreiben«.
Neben der schieren Vielfalt an Themen und der offenherzigen Art ihrer Erörterung ziehen diese Texte aber auch dadurch an, dass hier ein ungewöhnlich gut unterrichteter Autor spricht, quasi aus der Mitte der deutschen Hauptstadt heraus. Aus seiner privilegierten Stellung macht Troeltsch denn auch kein Hehl. Immer wieder und nicht ganz ohne Stolz gibt er zu erkennen, dass er über exklusive Informationskanäle verfügt. Derartige Verbindungen ermöglichen ihm Einschätzungen der politischen Situation, wie sie eben nur jemand geben kann, der dazugehört. Selbst »vom Lande aus den Junkerprovinzen« erreichen ihn »Mitteilungen von bester Qualität«, die für die augenblickliche Lage »recht charakteristisch« seien. Unter denen, mit denen er im vertraulichen Austausch steht, nennt er etwa »Herrn Radek« (den Bevollmächtigten der sowjetrussischen Regierung in Berlin, Karl Radek), den »ich neulich in einer Gesellschaft sprach«.
Weshalb Troeltsch die Reihe nach seinem Beitrag im Novemberheft 1922 – ohne ein Wort des Abschieds – nicht fortgesetzt hat, ist ebenfalls ungewiss. Auch der Herausgeber zeigt sich ratlos, hatte sich Troeltsch doch bisher, aller sonstigen Lasten ungeachtet (die Lehrverpflichtungen, das immer weniger zu bewältigende Historismus-Projekt, die Vorbereitung der Großbritannien-Reise) und unbeeinträchtigt auch noch durch seine am 1. August 1922 erfolgte Wahl zum Dekan der Philosophischen Fakultät »das erforder-liche bisschen Mühe« stets gemacht. Allerdings lässt sich für die zweite Jahreshälfte, seit der Ermordung Walther Rathenaus, durchaus von einer tiefen Depression sprechen; andererseits wollte Troeltsch sich vielleicht auch die Möglichkeit der Wiederauf-nahme der Kolumne zu einem späteren Zeitpunkt offenhalten.
Die Edition der 56 Artikel ist mustergültig. Der Text ist vollständig. Die Fassungen der Erstdrucke werden in einem textkritischen Apparat um diejenigen Varianten ergänzt, die auf den autor-eigenen Eintragungen im (wie erwähnt, nicht erhaltenen) Handexemplar beruhen, soweit sie in der Edition Barons überliefert sind. Editorische Vorbemerkungen geben hierzu und zu anderen relevanten Sachverhalten für jeden einzelnen Text Auskunft. Meine-ckes Geleitwort wird anhangsweise beigegeben. Weitere Anhänge bieten Konkordanzen zu den Erstdrucken und Voreditionen, Bio gramme der von Troeltsch angeführten Personen, Literaturverzeichnisse und Personen- sowie Sachregister.
Für eine kritische Einschätzung von Urteilskraft und Einschätzungsvermögen, wie sie sich in diesen »Kunstwart«-Beiträgen äußern, ist hier nicht der Ort. Dass Troeltschs Zurückweisung des Antisemitismus (»Vorherrschaft des Judentums?«, erstes Januarheft 1920) nicht überzeugen kann, weil sie, aller guten Absicht zuwider, selbst von der Gegenüberstellung »der Juden« zu »den Deutschen« getragen ist, sei immerhin notiert. Aber auch abzüglich aller Bedingtheiten von Troeltschs Wahrnehmungen und Wertungen bleiben die eingehenden Darlegungen ein erstrangiges zeitgeschichtliches Zeugnis. Und selbst jene Bedingtheiten sind ihrerseits noch signifikant. Das ist schon oft, auch im Blick auf die früheren Auswahlausgaben, gesagt worden, und es wird umso zutreffender, wenn man sich jetzt einen Überblick über das vorhandene Gesamtmaterial verschafft. Es mögen sich dabei nun auch etwas weniger aussagestarke, erkennbar (und eingestandenermaßen) in Eile oder mit geringerer Freudigkeit geschriebene Stücke finden lassen. Doch selbst dann noch spricht aus den Texten ein Zeuge, der einerseits für sich selbst von klaren politischen und lebensphilosophischen Positionen ausgeht, der aber andererseits auch imstande ist, die Geschehnisse der Zeit auf sich wirken zu lassen.
Troeltsch wollte aber nicht bloß analysieren und deuten, sondern auch zum politischen Handeln anregen. Bedenkt man, wie aufgewühlt die von Welt- und Bürgerkrieg, von Revolution, Friedenssehnsucht und tiefer Frustration zerrissene Lage im damaligen Deutschland gewesen ist, dann mutet die Mahnung, »die realen sozialen Tatsachen« im Blick zu behalten, wie eine Auffor-derung zu politischer Rationalität an. Verfassungswandel und Re­publikgründung stellten eine harte, für viele zu harte Bewährungsprobe dar. Dass auch die »deutsche Faszistenbewegung« (446) eine schwere Bedrohung für den Aufbau einer parlamentarischen Demokratie bedeutete, sah Troeltsch, der »Vernunftdemokrat«, früh, ebenso wie ihn der Mangel an »Gefühl, Glaube und Hingebung« im Bürgertum besorgt stimmte (November 1922). Ein Meis-terstück ideologiekritischer Dechiffrierung gelang ihm in dem Beitrag »Der Bolschewismus«, erschienen im Oktoberheft 1920. Sein betont »sachlich nüchternes Bild«, verfasst in Kenntnis »der heiligen Schriften des Marxismus«, ist von der Überzeugung bestimmt, dass sich der Attraktion stark affektiv angelegter politischer Verheißungskonzeptionen nur mittels handlungsfähiger Institutionen des neuen republikanischen Staates und einer sie tragenden »öffentlichen Meinung« begegnen lasse (586 f.). Den Aufbau beider in der Phase des politischen Umbruchs zu stützen, war der tatsächliche Sinn von Troeltschs publizistischem Engagement.
Fragt man nach denjenigen Texten, die im Zuge der Arbeit an der Gesamtausgabe neu erschlossen worden sind, so ist dafür die Briefabteilung die interessanteste. Es verhält sich hier genauso wie bei der parallel erschienenen Max Weber-Gesamtausgabe, die es schließlich auf zehn voluminöse Briefbände samt einem Nachtragsband mit gewaltigem Register gebracht hat. Im Falle Troeltschs waren die ersten Planungen noch von zwei Bänden ausgegangen (so auch der 1996 ausgegebene Verlagsprospekt zur KGA). Da sich dann aber derart viele Funde einstellten, wurde die Bandzahl am Ende auf fünf erweitert. Diese unerwartete Fülle an überlieferten Korrespondenzstücken ist das Resultat systematisch angelegter, intensiver Recherchen in Archiven und Nachlässen, die über Jahre hinweg unter Mitwirkung zahlreicher Troeltsch-Forscher betrieben worden sind. Allen Beteiligten kann man für die mit viel Spürsinn, dabei entsagungsvoll und hartnäckig geleistete Arbeit nur Dank sagen.
Das Troeltschsche Briefwerk ist in der Forschung lange vernachlässigt worden. Erst seit den 1980er Jahren begann überhaupt die planvolle Suche, und auch dann sind viele, sogar bedeutsame Stücke mit Blick auf eine erwünschte Erstveröffentlichung in der Gesamtausgabe nicht oder nur auszugsweise publiziert worden. Nunmehr, mit Vorliegen der betreffenden Bände, lässt sich erst erkennen, welche Bedeutung Troeltsch dem Korrespondieren beigemessen hat und wie er dieses Kommunikationsmittel zur Verfolgung wissenschaftlicher und politischer, aber natürlich auch persönlicher Ziele eingesetzt hat.
Es ist klar, dass die Lebenssituation des Verfassers in den Jahren 1894 bis 1904 (Briefe II) nicht dieselbe gewesen ist wie in den Jahren von 1905 bis 1915 (Briefe III). Am 24. April 1894, dem Datum des ersten im Band II mitgeteilten Briefes (an Paul Siebeck), war Troeltsch 29 Jahre alt und soeben erst in Heidelberg eingetroffen; am selben Tag wurde er als Ordinarius der Ruprecht-Karls-Universität vereidigt. Der zweite Zeitraum hingegen zeigt ihn auf der Höhe seines theologischen Wirkens, heftig umstritten, aber auch respektiert als wichtigster Theoretiker des deutschsprachigen Kulturprotestantismus. Das letzte in Band III mitgeteilte Schreiben, eine Karte von März/April 1915 (an Georg Wünsch), zeigt ihn »mitten im Umzug« nach Berlin. Es war ihm ja »in Heidelberg zu eng« geworden; die Theologie war ihm inzwischen dort »etwas verleidet« (Fragment eines Briefes vom Frühjahr 1915 an Walther Köhler).
Beide Bände also umspannen zusammen die gesamte 21-jährige Heidelberger Zeit. Zweifellos besteht ihr wesentlicher Ertrag in erster Linie in der Vielzahl lebens- und werkgeschichtlich bedeutsamer Informationen. Troeltsch war bisher als Mensch und als wirkender Gelehrter viel weniger leibhaftig bekannt als etwa Max Weber, und das lag eben nicht zuletzt an der fast ausschließlichen Konzentration auf sein publiziertes Werk. Es gab (und gibt leider noch immer) keine biographische Darstellung, die auch nur annähernd jene Plastizität erreicht, wie sie Marianne Webers »Lebensbild« für ihren Mann schon 1926 bereitgestellt hatte. Es gab aber eben in der Rezeption auch nicht diejenige Parallelüberlieferung, die dem wissenschaftlichen Werk das lebensgeschichtliche Zeugnis beigesellte. Das kann sich nun, wenigstens soweit die brieflichen Zeugnisse in dieser Hinsicht tragen, doch endlich ändern.
Der erste der beiden hier anzuzeigenden Bände bietet 194 Briefe von Troeltsch sowie 103 Gegenbriefe. Ein großer Teil des Materials war bisher nicht bekannt. Die Etablierung in der traditionsreichen Universitätsstadt am Neckar fiel Troeltsch nicht leicht. In der Theologischen Fakultät »fühlte er sich lange nicht wohl« (wie Graf schreibt), und auch außerhalb ihrer schloss er erst nach längerer Zeit einzelne Freundschaften. Von Anfang an aber ging es ihm darum, sich eine eigenständige Position in seinem Fach zu verschaffen. Zahlreiche Briefe zeigen ihn im Kampf um Anerkennung. Überall wird das Bemühen deutlich, eine theologische Stellung zu erarbeiten, die den kritischen Einsichten in die historistische Revolution, das heißt in die für ihn schlechterdings entscheidende Geistesumwälzung der Moderne, gerecht zu werden vermag.
Es muss, um keine falschen Erwartungen zu wecken, allerdings betont werden, dass für die erste Hälfte der Heidelberger Zeit die Überlieferungslage betrüblich schlecht ist. Es wirkt sich hier besonders unerfreulich aus, dass viele wichtige Korrespondenzen verlorengegangen sind. Das betrifft die Briefwechsel mit Martin Rade, Heinrich Julius Holtzmann, Wilhelm Windelband, die Zeugnisse des engen Austausches mit Eduard Grafe, Paul Hensel, Paul Lobstein und Paul Sabatier. Briefe an Max und Marianne Weber fehlen – mit einer Ausnahme – (wohl, weil die Witwen sie in gegenseitigem Einvernehmen vernichtet haben). Und auch mit Blick auf das liberalprotestantische Theologenmilieu, das sich um die »Christliche Welt« formierte, ist die Situation im Ganzen höchst mangelhaft.
Dennoch geben die hier versammelten Schreiben ein sehr viel prägnanteres und differenzierteres Bild von Troeltschs frühen Heidelberger Jahren, als es sich bisher hat zeichnen lassen. Der Herausgeber leistet dafür mit seiner Einleitung zusätzliche Hilfestellung. Erörtert wird Troeltschs Lage als junger Ordinarius, der sich in Heidelberg sofort, wie schon zuvor in Göttingen und Bonn, durch einen unglaublichen Arbeitseifer auszeichnete und mit spektakulären Veröffentlichungen, besonders der 1902 erschiene nen »Absolutheitsschrift«, aber auch einer »Gedächtnisrede« auf Richard Rothe (1899), für hitzige Debatten sorgte. Der Widerstand, der seiner Konzeption einer »modernitätskompatiblen Theologie« von vielen Seiten entgegengesetzt wurde, schlägt sich in der Korrespondenz deutlich nieder. Vor allem die von viel Kritik, ja Ablehnung erfüllten Standortbestimmungen gegenüber den Großmeis-tern der modernen Theologie, Wilhelm Herrmann und Julius Kaftan, sind in dieser Hinsicht von Interesse, sei es doch »mit der Dogmatik – mindestens gegenwärtig – nichts« (Postkarte an Adolf Harnack vom 10. Juli 1900). Auch das berühmte Diktum: »Meine Herren, es wackelt alles.«, gesprochen auf der Jahrestagung der Freunde der Christlichen Welt im Herbst 1896, erhält erst aus dem Zusammenhang mit diversen brieflichen Äußerungen seinen rechten Ort (siehe dazu 95).
Hauptbestandteile der Überlieferung bilden, neben dem Briefwechsel mit dem Verleger Paul Siebeck, die erhaltenen Briefe an Wilhelm Bousset und Paul Wernle. In ihnen werden die großen Gegenstände und Geschehnisse des theologischen Lebens erörtert; in ihnen aber spricht Troeltsch denn auch mehrfach von seiner innersten Gedankenwelt. Hier kann »meine Frömmigkeit« zum Thema werden. In einem Brief an Wernle vom 22. Juni 1898 heißt es etwa: »Ich trenne meine persönliche Frömmigkeit sehr wohl von der wissenschaftlichen Untersuchung der Religion, aber ich verschließe mich nicht gegen starke Rückwirkungen von dieser wissenschaftlichen Denkweise auf meine Frömmigkeit. Wer hier nun Recht hat, wird schwer zu entscheiden sein. Sie haben wohl die stärkere religiöse Position, allein ich habe zu vieles von dem, was von solcher Position aus gefordert wird, mit großen Dunkelheiten kämpfen sehen u. hüte mich jedenfalls, künstlich eine prophetische Gewißheit u. Zuversicht bei mir zu steigern, die der Glaube mir nicht von selbst giebt. Ich habe es oftmals versucht u. dabei kein ganz gutes Gewissen gehabt. Ich glaube natürlich auch an den Sieg Gottes, aber ich füge mich williger in den Lauf der Welt, der doch eben unsagbar dunkel ist.«
Mit Recht fasst der Herausgeber Bekundungen dieser Art in dem Fazit zusammen, Troeltsch sei »ein auf ganz eigene Weise gläubiger, frommer Mensch« gewesen – eine Formulierung, die früher vielleicht als beschönigende Prädikation verstanden worden wäre, jetzt aber durch nicht ganz wenige Belege plausibel wird. Troeltsch hat es sich mit dieser »ganz eigenen Weise« nicht leicht gemacht. Er war sich dessen bewusst, dass die ihm vorschwebende Gestalt eines konsequent vom religiösen Subjekt (dem »Glaubenden«) aus gedachten Gottesglaubens sich in vielfacher Hinsicht von tradierten Frömmigkeitsformen unterschied. Den »christlichen Gottesglauben« sah er als »eine Macht lebendigen persönlichen Lebens« an, wie er Carl Friedrich Heinrici am 5. Januar 1902 schrieb. Es ging ihm für sich selbst – und für das Christentum seiner Zeit überhaupt – um die Freiheit der individuellen Gottesbeziehung, und hierin ist auch der Grund dafür zu sehen, dass er immer wieder vom »inneren Menschen« spricht als demjenigen Ort, an dem sich diese Gottesbeziehung verwirklicht (Brief an Adolf Harnack vom 10. Juli 1900; weitere Belege im Band: 295.436).
Naturgemäß erweiterte sich Troeltschs Korrespondenz in der zweiten Hälfte der Heidelberger Zeit erheblich. Er war nunmehr in wissenschaftliche, fakultäts-, hochschul- und vereinspolitische Kontexte eingebunden, gehörte diversen informellen und formellen Kreisen an und stellte selbst einen wichtigen Bezugspunkt in der Gelehrtenkommunikation dar. Doch auch für diese gut zehn Jahre, wie sie der dritte Briefband umschließt, ist die Überlieferungslage fragmentarisch. Das ist nicht zuletzt angesichts der heftigen Kontroversen, in die Troeltsch – an der Seite Max Webers – in der Folge von Webers »Protestantischer Ethik« verwickelt worden ist, sehr bedauerlich. Dennoch kann der Band insgesamt 358 Briefe von Troeltsch und 230 Briefe und Karten an ihn präsentieren. Gegenbriefe werden im Übrigen auch dann geboten, wenn kein entsprechendes Schreiben Troeltschs vorliegt und nicht einmal sachlich erforderlich ist (so zum Beispiel bei Friedrich Michael Schieles Brief vom 17. Oktober 1907).
In den Jahren von 1905 bis 1915 gelingt Troeltsch »der Durchbruch zu einem der wirkmächtigsten Heidelberger Ordinarien« (Graf). Seit 1909 war er Mitglied der Ersten Kammer der Badischen Stände-Versammlung; Berufungsversuche nach Berlin (Nachfolge Otto Pfleiderer und Friedrich Paulsen) scheiterten an politischen und kirchlich-religiösen Widerständen (zum Ausgleich erhielt Troeltsch in Heidelberg zusätzlich einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät); mit seinem »Protestantischen Christentum und Kirche in der Neuzeit« von 1906 (Neubearbeitung 1909) (KGA Band 7) und den monumentalen »Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen« von 1912 (KGA Band 9) erschienen die beiden schwergewichtigsten theologischen Werke; doch auch seine Mitwirkung am Handwörterbuch »Die Religion in Geschichte und Gegenwart« (29 Artikel, daneben Abteilungsredakteur für Dogmat ik, was ihn zeitweise arg beschäftigte: siehe 245 f.), bedeutende Vorträge, jeweils elfstündige Lehrverpflichtungen, universitäre Leitungsfunktionen – Troeltsch war dreimal Dekan und einmal Prorektor (1906/07) –, die Akademiemitgliedschaft (seit 1909) sowie kommunalpolitische Ämter und Pflichten (seit 1912 Stadtverordneter) fallen in diese Zeit.
All das spiegelt sich, in unterschiedlicher Prägnanz, in der Korrespondenz. Der Umstand, dass der größte Bestand an erhaltenen Briefen aus dem Verlagsarchiv J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) stammt, führt allerdings zu einer den tatsächlichen Lebensumständen Troeltschs nicht ganz entsprechenden Konzentration auf werkbezogene Sachverhalte. Dies ist aber nicht nur ein Nachteil. Denn die Korrespondenz mit dem Verlag eröffnet einen sehr detaillierten Einblick in Troeltschs »Werkstatt«. Die »Soziallehren« sowie das komplizierte Unternehmen »Gesammelter Schriften« bilden ständig wiederkehrende Gegenstände. Dessen ungeachtet gehen daneben zahlreiche Stücke auch auf die private Situation ein. Viel liest man von den Besorgnissen eines liebevoll mitleidenden Ehemannes und dann den Gefühlen des stolzen Vaters. Auch die Klage über die Überlast an akademischen und literarischen Pflichten kehrt in Wendungen wie »sehr erschöpft«, »über meine Kräfte« oder »ge­hetztes Leben« immer wieder. Als Troeltsch Harnacks Bitte, er möge in seiner Nachfolge das Amt des Präsidenten des Evangelisch-sozialen Kongresses übernehmen, ablehnen musste, tat er das wiederum mit Hinweis auf chronische Arbeitsüberlastung (Brief vom 25. Juni 1911).
Dennoch stellen diese Jahre eines überreichen Heidelberger Or­dinariendaseins in mehrfacher Hinsicht den Höhepunkt von Troeltschs Leben dar. Diese Höhe hätte Troeltsch überdies gar nicht erreichen können, wenn er sie nicht hätte erreichen wollen. Viele Schreiben zu universitäts- und fakultätsrelevanten Sachverhalten (Berufungsverfahren), vor allem aber jene, die den Arbeitsprozess am eigenen Werk spiegeln, zeigen ihn äußerst engagiert. Zu den Korrespondenzpartnern zählen, wiederum neben Bousset und Wernle, Martin Buber, Adolf Deißmann, Hans Delbrück, Eugen Diederichs, Hermann Diels, Rudolf Eucken, Kuno Fischer, Adolf Harnack, Willy Hellpach, Heinrich Hermelink, Karl Heussi, Adolf Jülicher, Martin Kähler, Friedrich Meinecke, Karl Müller, Carl Neumann, Rudolf Otto, Adolf Schlatter, Eduard Spranger, Heinrich Weinel und (mit lediglich einer überlieferten Postkarte) Georg Simmel.
Für seine Lehrtätigkeit sind die Seminarberichte von Interesse, die den zugehörigen Schreiben an das Karlsruher Ministerium beigegeben sind und mitabgedruckt werden. Ergänzend finden sich auch einzelne akademische Gutachten. Aufschlussreich sind schließlich die Informationen, die sich zum Thema »Übergang nach Berlin« finden. Es spricht für sich, dass in den vorangegangenen internen Erörterungen Troeltschs Berufung auf einen (eigens für ihn umgewidmeten: ihm »auf den Leib geschnittenen«) Lehrstuhl in der Philosophischen Fakultät mit der ausdrücklichen Bedingung versehen wurde, ihm den Zugang zur Theologischen Fakultät zu verwehren. Troeltsch war in den Augen seiner Widersacher ein zu »untheologischer Theologe« geworden (eine Wendung, die Troeltsch selbst – mit positiver Konnotation – geprägt hat, und zwar in einem Glückwunschschreiben an Adolf Harnack vom 8. Mai 1911 zu dessen 60. Geburtstag).
In den Bandzeitraum fällt auch der Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Dieses Ereignis stellte, ausweislich der 29 Briefe, die von Troeltsch seit dem August 1914 bis April 1915 überliefert sind, auch für ihn eine tiefe Zäsur dar. Der Krieg wirkte stark auf die Selbst- und Weltdeutung ein, deren Darstellung er sich als öffentlich en-gagierter, politisch verantwortungsbewusster Intellektueller zur Aufgabe gemacht hatte. Troeltschs Versuch, dem Krieg Sinn zu geben (am bekanntesten dafür ist seine Rede »Nach Erklärung der Mobilmachung« vom 2. August 1914), schlägt sich auch in der Korrespondenz nieder. Seine Mitwirkung in der Heidelberger Reserve-Lazarett-Kommission führte dann zu dem irreparablen Zerwürfnis mit Max Weber, der ihm an dieser Stelle vorgesetzt war. Troeltsch kommt in den erhaltenen Briefen aus der letzten Heidelberger Zeit nirgends auf »die Meinungsverschiedenheit« (so in einem Brief an Paul Siebeck vom 17. April 1915; KGA Band 21) zu sprechen. Nähere Auskünfte über das bereits Bekannte hinaus, das kein gutes Licht auf Troeltsch wirft, bietet der Band also nicht.
Das hier gebotene Material ist durch einen außerordentlich detaillierten Kommentar erschlossen. Nach Möglichkeit werden sämtliche erwähnten Bezugnahmen und Sachverhalte geklärt, was bis zur Richtigstellung falscher Blattnummerierungen in Dekanatsakten führt (443). In diese Erläuterungen fließen allenthalben Informationen ein, die Grundlagen für die nun denn doch wohl bald mögliche große Troeltsch-Biographie bilden. Es ist kaum zu glauben, mit welcher Akribie sich die Bearbeiter ihrer Aufgabe verschrieben haben. Dabei herrscht alles andere als ein hagiographischer Ton. Troeltsch wird, wenn nötig, korrigiert und bisweilen so­gar geradezu zurechtgewiesen (»erstaunlich fehlerhaft«, 627), wenn ihm, wie etwa bei der Zusammenstellung familiengeschichtlicher Notizen, Irrtümer unterlaufen.
Der große »Gelehrten-Intellektuelle« wird darüber milde urteilen. Souveränität gehörte, wenigstens meistens, schon zu Lebzeiten zu seinen Charaktereigenschaften. Das belegt der Band hinreichend. Als Karl Barth Troeltsch seine wesentlich gegen ihn ge­richtete Schrift »Der christliche Glaube und die Geschichte« zu­sandte, antwortete er: »Ich habe in früheren Jahren diesen Standpunkt zu behaupten können gemeint, er erwies sich mir aber als unhaltbar und als lediglich für Orthodoxe allenfalls wirksam. Ich verstehe auch das Überlegenheitsgefühl, mit dem man von einem solchen Standpunkt auf eine so tastende Arbeit wie meine herabsehen kann, und lasse es mir gerne gefallen« (Postkarte vom 26. April 1912).
Beide Briefbände sind – neben der jeweils eingehenden einleitenden Herausgeberrede – mit Biogrammen, Literaturverzeichnissen sowie mehreren Registern (Korrespondenzen, Personen, Sachen und Orte) versehen. Auf systematische Angaben zu Vorveröffentlichungen von Briefbeständen hat man verzichtet.