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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

433–435

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Troeltsch, Ernst

Titel/Untertitel:

Briefe V (1918–1923). Hg. v. F. W. Graf. In Zusammenarb. m. H. Haury.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2020. XVII, 615 S. m. 5 Abb. = Ernst Troeltsch Kritische Gesamtausgabe, 22. Lw. EUR 229,00. ISBN 9783110677416.

Rezensent:

Christian Danz

»Also das Ende ist da! Schlimmer als ich es bei ernstester Einschätzung gedacht habe! Und gleichzeitig ist der politische u soziale Umsturz der Revolution aufgestanden, wie zwar nicht zu erwarten aber doch zu fürchten u zu ahnen war.« (61) Mit diesen Worten eröffnete Ernst Troeltsch seinen Brief vom 11. November 1918 an seine ehemalige Heidelberger Schülerin Gertrud von le Fort, in dem er über die Wirren in Folge von Kriegsende und ausbrechender Revolution in Berlin berichtet. Es ist der erste Brief des abschließenden fünften Bandes der Korrespondenz des Theologen und Philosophen, der nun als Band 22 der Kritischen Gesamtausgabe (KGA) seiner Werke in einer mustergültigen Edition vorliegt, die von Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarbeit mit Harald Haury herausgegeben wurde. Der Band enthält die überlieferte Korrespondenz Troeltschs aus dem Zeitraum von November 1918 bis zu seinem Tod am 1. Februar 1923 und bietet insgesamt 244 Briefe und Postkarten, davon 81 an ihn gerichtete und 163 von ihm verfasste Schreiben, zwei davon in seinem Auftrag aufgesetzte. Mit dem ab-schließenden fünften Band der Korrespondenzen Ernst Troeltschs liegen nunmehr 996 Briefe und Postkarten von diesem und 476 an ihn adressierte Briefe vor, die innerhalb eines Zeitraums von sieben Jahren äußerst zügig vorgelegt wurden. Über die mühsamen Re­cherchen beim Aufspüren der Korrespondenzen des Heidelberger und Berliner Gelehrten berichtet Friedrich Wilhelm Graf in dem von ihm verfassten Vorwort ebenso wie über die Hürden bei der Fertigstellung des letzten Bandes, die sich aus der Covid-Pandemie ergaben (V–VIII).
Aufgebaut ist der letzte Korrespondenzband wie die vorangehenden der Kritischen Gesamtausgabe. Auf die Erläuterung der Editionsprinzipien der Ausgabe und ein Siglenverzeichnis (XI–XVII) folgt eine minutiöse und kenntnisreiche historische Einleitung in den Band vom Herausgeber (1–39). Es schließen sich an das Korrespondenzverzeichnis (41–51), die Korrespondenz Troeltschs von 1918 bis 1923 (59–469), ein schwer zuzuordnender Brief von Lothar von Troda an Troeltsch oder Max Scheler (471 f.), Nachträge zur Korrespondenz Troeltschs aus dem Zeitraum von 1884–1918 (473–490), Biogramme (491–517), diverse Literaturverzeichnisse (519–559), Korrespondenzregister (561–566), Corrigenda: Briefe Ernst Troeltschs (1884–1918) (567) sowie Personen-, Sach- und Ortsregister (569–611). Die Einleitung führt in die Korrespondenzen der letzten Lebensjahre Troeltschs ein, indem sie knapp und prägnant den politischen, persönlichen und debattengeschichtlichen Hintergrund in sechs Unterabschnitten unter Einbeziehung anderer Quellen präsentiert.
Themen, auf die Ernst Troeltsch in seinen Korrespondenzen zwischen 1918 und 1923 immer wieder zu sprechen kommt, sind die katastrophale Lage in Berlin in den ersten Jahren der Weimarer Republik, seine Arbeit an dem Historismus-Band sowie die Planungen seiner nicht mehr zustande gekommenen England-Reise. In seinen Briefen an Gertrud von le Fort sowie an Max von Baden, Friedrich von Hügel und andere schildert der Berliner Philosoph seine Eindrücke »nach dem Eintritt der Katastrophe« (68) in Folge von Kriegsende und Revolution. »Das wahrhaft Entsetzliche«, schreibt er am 2. Dezember 1918 an Max von Baden, »ist der Bruch aller Rechtskontinuität, die Auflösung aller Institutionen des Bismarckschen Reiches. […] Der eigentliche letzte Grund des Ganzen ist doch die Auflösung der Armee, die Revolte der Mannschaften gegen das Offizierscorps.« (69; vgl. 61.74) Zugleich betont Troeltsch immer wieder in seinen Briefen, er sei »entschlossen[,] in das Neue hineinzuwachsen« (71). Mit seinem Vater habe er, so lässt er Max von Baden und ebenso Gertrud von le Fort wissen, »als fünfjähriger Knabe […] die Siege von 1870 gefeiert!! Denke ich daran, dann ist mir, als könnte ich nicht mehr. Denke ich freilich an meine Kritik gegen das herrschende System in den Jahren vor dem Kriege, dann kann ich wieder« (ebd.; vgl. 74). In einem Brief an seinen Heidelberger Schüler Rudolf Paulus bezeichnet sich Troeltsch im September 1919 als »Vernunftdemokrat«. »Denn ein eigentlicher Demokrat bin ich nicht.« »Der heutige Parlamentarismus vollends ist nur eine Karikatur, aber ist der Preis, den wir dafür bezahlen mußten, daß wir nicht alle todgeschlagen [sic!] sind, wie die Leute in Rußland.« (191) Die Korrespondenzen des Berliner Professors, der sich seit November 1918 in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei engagierte und als parlamentarischer Unterstaatssekretär im Unterrichtsministerium der neuen Republik zur Verfügung stellte, bieten insgesamt ein eindrückliches Seitenstück zu seinen Spectator-Briefen, die er seit 1918 im Kunstwart von Friedrich Avenarius publizierte und in denen er die politische Lage kommentierte (vgl. KGA, Bd. 14).
Zunehmend wurde in den ersten Jahren der Weimarer Republik die Versorgungslage in Berlin kritischer. Sein ganzes Einkommen stecke er, wie Troeltsch am 25. Oktober 1919 an seine Schwestern Elise und Eugenie schreibt, »in die Nahrungsmittel. Mit Kleidung behelfen wir uns durch Umarbeitung alter Stücke« (198). Immer wieder klagt er in seinen Briefen an Gertrud von le Fort, seine Geschwister oder Friedrich von Hügel über Geldnot (210.335.345. 411 f.), die durch Überlastung und Mangelernährung hervorgerufenen Krankheiten seiner Frau (124.356) sowie Probleme mit den Dienstboten (198.356).
Neben der dramatischen Lage in Berlin ist Troeltschs Arbeit an seinem Historismus-Band ein Gegenstand seiner Korrespondenzen mit dem Tübinger Verlag Mohr Siebeck, in dem der erste Band im Jahre 1922 erschien. »Meine wissenschaftliche Arbeit schreitet fort«, teilte er am 31. Januar 1920 Friedrich von Hügel mit, »augenblicklich auf Geschichtsphilosophie bezogen. Sie gibt mir den Halt und den Stoff meiner Arbeit.« (222) Theodor Haering schreibt er am 28. Dezember 1920, »[i]ch bereite meine Geschichtsphilosophie langsam nach allen Seiten vor u werde den ersten Teil in etwa 2 Jahren vorlegen können. Die HZ [ Historische Zeitschrift] bringt die Vorstudien dazu. Im Kopf ist alles fertig.« (298) Anfragen und Bitten um Beiträge in Zeitschriften oder die Mitarbeit in Zeitschriftenprojekten, die ihn erreichen, lehnt Troeltsch kontinuierlich mit Verweis auf seine drängenden Arbeiten an seiner Geschichtsphilosophie ab. »Denn ich will meine Bücher fertig machen u alles Weitere kommt in zweiter Linie für mich. Das ist in meinen Lebensjahren doch ganz natürlich« (382), lässt er Erich Rothacker im Mai 1922 wissen. Anhand der Korrespondenz mit seinem Tübinger Verleger, die neben der mit Gertrud von le Fort und Friedrich von Hügel zu den umfangreichsten in dem Band gehört, kann man die Endphase der Druckgeschichte des Historismus-Bandes studieren. Am 17. Juli 1922 kündigte Troeltsch dem Verlag an, dass »der Rest des Manuskripts zum ›Historismus‹ fertig ist u diese Woche an­geht« (401). Ende Dezember bedankt sich Troeltsch schließlich bei Oskar Siebeck »für den gebundenen Band meines Historismus, der jetzt sehr stattlich aussieht u mich sehr erfreut« (459), welcher schon zuvor in zwei Teilbänden erschienen war (vgl. auch Editorischer Bericht KGA 16,1).
Durch seinen Tod am 1. Februar 1923 ist Troeltschs Vortragsreise nach England, die für den 7. bis 23. März 1923 geplant war, nicht mehr zustande gekommen (vgl. auch Editorischer Bericht KGA 17). Der vorliegende Briefband bietet nun die Korrespondenz zwischen Troeltsch und von Hügel, die Letzterer nach dem Krieg wieder aufnahm. Troeltsch antwortete ihm am 31. Januar 1920 (221–225). In seinem zweiten Schreiben an von Hügel vom 13. August ist von seiner Einladung nach England die Rede, die ihm eine besondere Ehre sei (330–334). In der weiteren Korrespondenz geht es um die Planung der Vortragsreise und vor allem um die mit ihr verbundenen politischen, sprachlichen und finanziellen Schwierigkeiten.
Der sorgfältig edierte und kommentierte Band bietet ein eindrückliches Bild von Ernst Troeltschs letzten Lebensjahren im Spiegel seiner weitverzweigten Korrespondenzen vor dem Hintergrund der radikalen Umbrüche nach dem Ersten Weltkrieg und in den ersten Jahren der Weimarer Republik. Hellsichtig registriert der Vernunftdemokrat politische und kulturelle Entwicklungen der Weimarer Republik, deren Spannungen und Verwerfungen. Theologische Themen treten in den Briefen zurück. Auch die neuen Theologien, die nach dem Krieg in das Rampenlicht der theologischen Bühne rücken, finden keine Erwähnung. Was bei allen de­primierenden Einschätzungen der Lage durch den Berliner Gelehrten betont wird, ist eine tiefe Religiosität. »Schwere Zeiten muß man nehmen aus Gottes Hand wie die Napoleonischen Zeiten u den Dreißigjährigen Krieg. ›Befiehl du deine Wege u was dein Herze kränkt‹. Das stammt ja auch aus schweren Zeiten.« (215)