Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

425–427

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Die Inschriften der Stadt Wittenberg. Gesammelt u. bearb. v. F. Jäger u. J. Pickenhan. Unter Mitwirkung v. C. Neustadt u. K. Pürschel. 2 Bde. Teil 1

Titel/Untertitel:

Einleitung, Register, Quellen und Literatur, Zeichnungen und Abbildungen. Teil 2: Die Inschriften.

Verlag:

Wiesbaden: Reichert-Verlag 2019. 845 S. m. zahlr. Abb. = Die Deutschen Inschriften, 107. Leipziger Reihe, 6/1 u. 6/2. Lw. EUR 110,00. ISBN 9783954904372.

Rezensent:

Johannes Schilling

Ein Band der seit 1942 im Druck publizierten Reihe »Die Deutschen Inschriften« (DI) ist in dieser Zeitung noch niemals angezeigt worden. Diese Fehlanzeige wird hiermit berichtigt. Denn für die Kirchengeschichte im Raum Deutschlands und Österreichs handelt es sich bei den Inschriften um eine hochrangige Quellengattung, die man nicht übergehen und auch nicht übersehen sollte. Für die Darstellung der jeweiligen Territorialgeschichte sind diese Quellen ohnehin unverzichtbar. Aber darüber hinaus machen Inschriften – neben manch anderem – das Wort Gottes dauerhaft öffentlich und sichtbar gegenwärtig. Wer Städte wie Goslar, Osterwieck oder Quedlinburg besucht, findet sich umgeben von Worten der Heiligen Schrift.

»Wo der Herr nicht das Haus baut, arbeiten umsonst, die daran bauen« / »nisi Dominus ædificaverit domum, in vanum laboraverunt qui ædificant eam« (Psalm 127,1) ist gewiss eines der häufigsten, und auch unter die Inschriften des Altans zum Wittenberger Rathaus wurde dieser Vers 1573 in Luthers Übersetzung aufgenommen: »WO DER HERR NICHT DAS HAVS BAVET SO ARBEITEN / VMSONST DIE DARAN BAVEN WO DER HERR NICHT DIE STADT BEHVETET/SO WACHET DER WAECHTER VMSONST. PS CXXVII« (461 Nr. 206).

Ein Gang durch die Städte oder, da ein solcher kaum vorgenommen werden wird, durch die Register der Bände oder auf der Seite »Deutsche Inschriften Online« (DIO) ist auch ein Gang durch die Bücher der Bibel, mit deutlichen Schwerpunkten auf Texten, die die Bewohner der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städte vor Augen hatten. Einen Teil von ihnen können, nach der Zerstörung durch die Zeitläufte, durch Brände und vor allem durch den Zweiten Weltkrieg und die geschichtsvergessene Nachkriegszeit, Zeitgenossen noch heute und hoffentlich auch künftig vor Augen haben. Auch der vorliegende Band enthält, wie andere Bände der Reihe, Inschriften, die zum Teil schon vor Jahrhunderten in situ verloren gegangen und nur sekundär überliefert sind. Dank früher Sammlungen sind sie wenigstens abschriftlich erhalten geblieben, im Falle Wittenbergs vor allem durch den Historiker und poeta laureatus Balthasar Mentzius d. J. (um 1537–1617) in seinem vierbändigen »Syntagma Epitaphiorum« von 1604. Er ist »der wichtigste Gewährsmann vorliegender Edition« (31). Denn in den Kämpfen um Wittenberg 1760 gingen mit dem Brand des Schlosses und der alten Schlosskirche auch zahlreiche Inschriften unwiederbringlich verloren.
Mit den vorliegenden zwei (in der Seitenzählung durchgezählten) Bänden werden die Inschriften der Lutherstadt Wittenberg (wie sie seit 1938 amtlich heißt) nach den geltenden Richtlinien für die Deutschen Inschriften erschlossen. Es sind insgesamt 552 Nummern zwischen der zweiten Hälfte des 13. Jh.s und 1650, unter ihnen auch etliche nur grob in das 17. Jh. datierbare. Die frühesten Inschriften an zwei Schlusssteinen der Stadtkirche lauten »AL/FA ET O(MEGA)« (193 Nr. 1), die letzte in situ erhaltene Inschrift ist eine Grabschrift für Wilhelm Leyser aus dem Jahr 1649 (831–833 Nr. 539). Vor allem für die Reformationsgeschichte enthält der Band erstrangige Quellen.
Für die Bearbeitung der Denkmäler in der Stadtkirche konnten die Autoren auf die 2013 erschienene Arbeit von Doreen Zerbe, Reformation der Memoria, zurückgreifen, die die »Denkmale in der Stadtkirche Wittenberg als Zeugnisse lutherischer Memorialkultur im 16. Jahrhundert« behandelt (vgl. dazu Eberhard J. Nikitsch, ThLZ 139 [2014], 1324–1326).
Von großem Interesse sind die 1760 beim Brand des Schlosses verloren gegangenen Inschriften der »Stammstube« im Südturm des Schlosses mit Darstellungen der Herzöge und Kurfürsten von Sachsen, die vor 1507 ausgeführt und nach dem Tode Friedrichs des Weisen 1525 ergänzt wurden (Nr. 25), Lucas Cranachs Zehn-Gebote-Tafel, die sich heute im Refektorium des Lutherhauses befindet (Nr. 34), sowie zahlreiche Epitaphien und Grabdenkmäler, so für Martin Pollich, gestorben 1514 (Nr. 31), Johannes Rhagius (Nr. 40), Henning Göde (Nr. 42), die Grabplatte für Friedrich den Weisen (Nr. 50) sowie ein Enkomion auf ihn (Nr. 51), desgleichen eine Grabplatte für und ein Enkomion auf seinen Bruder Johann (Nr. 58 und 59), ein Epitaph für Luther, ebenfalls 1760 zerstört (Nr. 78), zwei Messingtafeln mit einem Enkomion auf Melanchthon (Nr. 128), die schöne Grabplatte (?) für Johannes Bugenhagen, die sich noch immer in der Stadtkirche befindet (Nr. 119) und ein (wiederum verlorenes) Epitaph für denselben (Nr. 129), dazu zahlreiche weitere Gedenktafeln für die Wittenberger Reformatoren und ihre Angehörigen; ein Schmuckstück unter diesen ist das Epitaph für Paul Eber mit der bekannten Darstellung des Weinbergs des Herrn (Nr. 216). Aber es gibt auch Wappen von Studenten im Melanchthonhaus (Nr. 65) und Inschriften aus dem Wohnhaus von Samuel Selfisch (Nr. 390), dessen Epitaph (Nr. 446) für die Geschichte des Buchhandels ebenso bedeutsam ist wie das für Bartholomäus Vogel (Nr. 174).
Bei der Benutzung muss man sich klar machen, dass die Edition den Buchstabenbestand der Inschriften nach der Überlieferung wiedergibt, ggf. also auch mit Fehlern, die dann in den Anmerkungen korrigiert werden. Für die lateinischen Inschriften, vor allem die in Versen, ist zu beachten, dass diese Texte in der Regel von Autoren verfasst wurden, die im Lateinischen wie im Deutschen gleichermaßen zuhause waren. Entsprechend dem Anspruch der Texte sind die lateinischen Verse auch in elegantes Deutsch zu übersetzen und nicht in eine »deutsche« Fassung, die der Eigenart der Zielsprache nicht entspricht oder gar zuwider ist.
Die lateinischen Texte scheinen mir korrekt wiedergegeben. Die Übersetzungen aus dem Lateinischen sind dagegen häufiger ziemlich ungelenk (so etwa Nr. 75) und auch nicht immer ganz korrekt. Wollen die Bearbeiter eine Übersetzung bieten? Oder wollen sie den Text möglichst nah am Ausgangstext glossieren um den Preis, kein gutes Deutsch hervorzubringen?
Oft sind es kleine Ungenauigkeiten, die die Übersetzung als nicht zuverlässig erscheinen lassen, Adjektive und Adverbien werden verwechselt, oro statt opto übersetzt u. a. m. – Eine Anmerkung mit Bezug auf den Georges (248 f.) ist ebenso unzünftig wie der Verweis auf Stotz’ Handbuch bei »Quicunque« (679 Nr. 394), das allenthalben vorkommt. – Ein paar Beispiele: 297 Zeile 27 lies (mit Mentzius) »Deo (nicht: Dei) […] seruante«, d. h. durch Gottes Rettung / Hilfe. – 304 f. Nr. 79 wäre besser zu übersetzen: »der stark im Reden, im Tun und im Raten war«. – 359 f. Nr. 127 wird »studio purae et caute religionis« mit »Fleiß in der reinen und makellosen Religion« wiedergegeben. Was soll das sein? – 581 Nr. 307 lies richtig: »ein Holsate bzw. Holste aus Husum«. – 582 Nr. 309 B lies: »… was ich durch mich (selbst) verloren habe …«. – 622 f. Nr. 344: igitur ist nicht zu übersetzen, und wenn schon, dann nicht mit »folglich«; »ich heiße des Vornamens« ist kein Deutsch, »quas opto benigne / Augeat atque sua Jova secundet ope« heißt auf Deutsch nicht »für die ich reichlich bete, möge Jehova (sie) mit seiner Kraft fördern und begünstigen«, sondern: »denen ich von Herzen wünsche, dass Gott sie in seiner Macht fördere und ihnen beistehe«. An »Jehova« hat weder die Verstorbene geglaubt noch die Hinterbliebenen. – 639 Nr. 359 B lies: »mit bewundernswertem Glauben«. – Im Deutschen gibt es falsche Konjunktive (252 Nr. 38 »läge« statt »liege«, 270 Nr. 52 »wäre« statt »sei«), und die Bezüge der Kasus in den Übersetzungen sind unsicher (falscher Nominativ anstelle des korrekten Genitivs oder Dativs, Nr. 137, 138, 146, 171).
Auch in den Anmerkungen und Literaturangaben lassen sich Ergänzungen und Korrekturen anbringen. Bedauerlich ist, dass bei den historischen Drucken die Nummern von VD16 und VD17 nicht mitgeteilt werden – sonst wüsste man z. B. schon aus dem Buch selbst, dass Mentzius’ Syntagma online verfügbar ist. – Stigel übernahm nicht die »sogenannte zweite Professur« (303), sondern die zweite. – 394 kann keine Rede von »längst« verstorbenen Reformatoren sein: Melanchthon war erst seit fünf Jahren, Bugenhagen seit sieben, nur Luther seit 19 Jahren tot. – Zum Croy-Teppich vgl. Heimo Reinitzer, Tapetum Concordiae, Berlin u. a. 2012. – 412 Anm. 4: Die Legenda aurea sollte nicht mehr nach der alten Ausgabe (zuerst 1917!) von Richard Benz, sondern nach der von Bruno W. Häuptli (2014) zitiert werden. – Unter den zahlreichen konsultierten Wissenschaftlern findet sich kein Vertreter der Universitätstheologie. Der hätte da und dort Hinweise geben können und müssen, denn die theologische Kompetenz der Bearbeiter ist ziemlich bescheiden.
Den katholischen Kampfbegriff »Kirchenspaltung« (7) sollte man als Epochenbegriff nicht länger gebrauchen. – Der Begriff »Bibelzitat« (passim) kennzeichnet die wörtliche Übernahme eines Textes, nicht aber seine Funktion der entsprechenden Worte im öffentlichen Raum.
Die Ausführungen über die Heiligen (47) sind nicht sachgemäß, entsprechend auch die Bemerkungen 678 Nr. 393 irreführend. – »Eine persönliche Deutung des von Luther als Devise geführten Jesaja-Zitats gibt es nicht« (289). Doch, es gibt sie, vgl. WA 48, 99 f. Nr. 131, und 285 Nr. 10. – Die Ausführungen über Melanchthon (362 f.) lassen erkennen, dass die Bearbeiter keine rechte Kenntnis des großen Reformators haben, und auch die Bugenhagenbiographie (Nr. 129) vermag nicht wirklich zu befriedigen. Ob man es bei den Biographica bei Hinweisen auf die einschlägige Literatur belassen sollte? Oder nur Angaben machen, die in unmittelbarem Zusammenhang zu den betreffenden Denkmälern stehen? – Zu den Anm. auf S. 364: Scheibles Biographie ist in überarbeiteter und aktualisierter Fassung 2016 erschienen. Anm. 13: Camerarius’ Biographie ist in deutscher Übersetzung 2010 erschienen. – Helmar Junghans’ Buch Wittenberg als Lutherstadt von 1979 liegt in einer Neuausgabe u. d. T. Luther und Wittenberg (Spröda 2016) vor. – Zu Luthers Siegel vgl. Dietrich Korsch, Luthers Siegel. Eine elementare Deutung seiner Theologie, in: Luther 67 (1996), 66–87. – 396 Übersetzung von Röm 1,16 lies: Ich schäme mich … – 408 f. Nr. 162: Abwegig ist die Deutung des Distichons, in dem keine Rede ist von »phantasievollen Gleichnissen«, es geht vielmehr um das Gesetz und die Propheten und also um das Verhältnis von Gesetz und Evangelium. Zu übersetzen ist: »und in der Verhüllung des Mose Christus suchte«. Entsprechend irreführend ist ebd. Anm. 2. – 411: Die Mutter Johannes des Täufers ist nicht die »hl. Elisabeth«, die Heilige ist vielmehr Elisabeth von Thüringen (1207–1231). – Luther hat auch Paulus nicht als »vorbildhaften Exegeten« (289) angesehen. – Jes 7,14 ist keineswegs eine »mariologische Akzentuierung« (422), sondern eine christologische. – Ein heikles Denkmal wie die »Judensau« (Nr. 187) verdiente besondere Aufmerksamkeit. Dass »Rabini« ein Genitiv sein soll, ist unwahrscheinlich, sind die beiden Inschriften doch schon architektonisch getrennt. Vielmehr ist wohl zu übersetzen: »Die Rabbiner« [gebrauchen] Schem Ha M phoras [für den un­aussprechlichen Namen Gottes]. Die Spekulation, beim Anbringen des Steins habe man sich ausdrücklich auf vorhandene Schlusssteine bezogen, halte ich für abwegig. Mentzius weiß nichts davon, er meint, der Stein sei zur Schmähung der Rabbiner und Juden »a viro quodam pio et cordato ad Templi hujus murum antiquitus positam esse« (III, 15), also von einem frommen und beherzten Mann in alter Zeit an die Mauer dieser Kirche angebracht worden. (Nach Abschluss des Bandes erschien: Die »Wittenberger Sau«. Entstehung, Bedeutung und Wirkungsgeschichte des Reliefs der sogenannten »Judensau« an der Stadtkirche Wittenberg. Hgg. von Jörg Bielig u. a. [Kleines Heft zur Denkmalpflege 15], Halle: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt 2020) Nach Lektüre dieses Buches würde man den Text zu diesem Stück anders fassen.) – »Agnus Dei« ist keine »christliche Gottesmetapher«, sondern eine Bezeichnung für Jesus Christus.
Schließlich: Warum zitiert man die Lutherbibel von 1545 nach »Volz 1972«, wo sie doch digital (VD16 B 2719) online verfügbar ist? Befremdlich ist zudem die Praxis, die biblischen Bücher im Register nach dem Alphabet und nicht nach dem Kanon anzuordnen (117 f.).
Die Qualität der Abbildungen ist gut, Druck und Bindung sind es auch, obwohl die Bände vielleicht nicht so lange halten wie die In­schriften. Oder doch? Sollten diese zerstört werden, werden sie in den gedruckten Büchern weltweit aufgehoben sein. Gerade angesichts dieser Langlebigkeit und des Charakters der Bände als Monumenta historica bedarf es höchster Anstrengungen, um dieser Zielsetzung zu entsprechen. In diesem Sinne: ad multos annos.