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Ausgabe:

Mai/2021

Spalte:

390–392

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Edelmann-Singer, Babett, Nicklas, Tobias, Spittler, Janet E., and Luigi Walt [Eds.]

Titel/Untertitel:

Sceptic and Believer in Ancient Mediterranean Religions.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2020. XIV, 335 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 443. Lw. EUR 134,00. ISBN 9783161563058.

Rezensent:

Stefan Krauter

Lange Zeit beherrschte das Konzept civic religion die Forschung zu antiker Religion. Sie wurde als kollektives Ritual zur Erzeugung von Gruppenidentität verstanden. Die Suche nach religiösen Vorstellungen oder persönlichem Glauben galt als verfehlt. Nun brö-ckelt dieser Konsens. Einerseits wird schon die Kategorie »Religion« für unangemessen gehalten (Brent Nongbri, Carlin Barton, Daniel Boyarin), andererseits wird wieder nach individueller Religiosität gefragt (Jörg Rüpke u. a.). Der vorliegende Band ist auf letzterer Seite zu verorten. Die Beiträge fragen nach Skepsis (»insider doubt«) in ägyptischer, griechischer, römischer und christlicher Religion der Antike. Dabei gelingt es ihnen einerseits, zu zeigen, dass diese Fragestellung produktiv ist, andererseits wird deutlich, dass man sich methodisch und konzeptionell mit ihr auf einem schmalen Grat bewegt.
Der Beitrag von Clifford Ando »Disbelief and Cognate Concepts in Roman Antiquity« (1–19) ist eher ein Beispiel für Letzteres. Der Vergleich zwischen Ciceros De natura deorum und Augustinus’ Contra Academicos bleibt diffus. Die Wertung des Platonismus als »idiotisch« ist irritierend unwissenschaftlich.
Aufschlussreich ist hingegen Jan Assmanns »Ancient Egyptian Disbelief in the Promises of Eternity« (21–35). Er stellt ägyptische Auffassungen über verschiedene Formen von postmortaler »Ewigkeit« dar. Diese seien komplementär, würden aber in wenigen Texten gegeneinandergestellt oder insgesamt bezweifelt.
Tim Whitmarsh gehört in »The Invention of Atheism and the Invention of Religion in Classical Athens« (37–51) zu denjenigen, die Kritik an Nongbri, Barton und Boyarin üben. Die Destruktion von »Religion« zur Beschreibung antiker Phänomene bringe nichts, außer dass man eine Antimoderne in die Antike projiziere. Es gebe in Griechenland durchaus Möglichkeiten, die Interaktion zwischen Menschen und Göttern auf einen Begriff zu bringen.
Jan Bremmer untersucht in »Youth, Atheism, and (Un)Belief in Late Fifth-Century Athens« (53–68) Texte, in denen es um Skepsis oder Indifferenz gegenüber Kulten geht. Er hält die Fragestellung (gegen Nongbri) für berechtigt, Atheismus als reflektierte Ablehnung von Religion jedoch nicht für nachweisbar (gegen Whitmarsh).
Matthew Fox geht in »Disbelief in Rome« (69–91) zunächst auf die Forschungsgeschichte ein. Römische Religion werde meist als reiner Ritualismus aufgefasst. Anhand von Texten von Varro, Cicero, Lukrez, Vergil und Ovid möchte er dagegen zeigen, dass es einen römischen Diskurs über religiöse Skepsis gab. Christliche und neuzeitlich säkulare Diskurse über dieses Thema seien in Auseinandersetzung mit diesen klassischen Texten entstanden.
Babett Edelmann-Singer widmet sich in »Who Will Worship This Man as a God, Who Will Believe in Him« (93–110) einem schwierigen Thema: Glaube bzw. Zweifel im Kaiserkult. Dazu analysiert sie Senecas Apocolocyntosis, die Verurteilung des Thrasea Paetus, die jüdische Delegation zu Gaius und die Verehrung von Kaiserbildern in häuslichen Lararien. Es gelingt ihr zu zeigen, dass man auch im Kaiserkult religiöse Vorstellungsgehalte und emotionale Beteiligung nicht ausschließen kann, doch bleibt unbefriedigend, dass sie politische Aspekte (Kult als Loyalitätserweis und als Mittel politischer Kommunikation) ausblendet.
Kai Trampedach befasst sich mit »Plutarch als Apologet des Orakels von Delphi« (111–126). Plutarch wolle den Kult in Delphi verteidigen. Doch gerade dabei weiche er von der traditionellen Vorstellung, die Pythia sei Sprachrohr des Gottes, ab und nehme »skeptische« Erklärungen für Orakel auf, dass die Pythia selbst die Sprüche formuliere und dass der Gott nur indirekt durch Dämonen oder Erdkräfte wirke.
Janet Downie untersucht »Belief and Doubt in Aelius Aristides’s Isthmian Oration: To Poseidon« (127–146). Sie zeigt, dass Aristeides in seinen Prosahymnen (or. 37–46) nicht in Traditionen stehenbleibt. Er formt sie vielmehr um, und zwar durchaus kritisch. Da­bei sind philosophische Ideen (Unterscheidung von etwas abstrakt Göttlichem von den Göttern) und auch narrative Kohärenz Kriterien.
Lukian von Samosata gilt seit der Antike und vor allem bei Chris-ten als scharfer Kritiker der griechischen Götter bzw. von Religion generell. Inger Kuin weist in »Loukianos Atheos? Humour and Religious Doubt in Lucian of Samosata« (147–164) darauf hin, dass man nicht die Figuren, die in den Texten auftreten, mit Lukian gleichsetzen darf. Er artikuliere verschiedene Formen und Grade von Skepsis und Kultkritik, aber nicht als seine eigene Ansicht, sondern immer als Möglichkeit zur Stellungnahme.
Mit Tobias Nicklas’ Beitrag »Skepsis und Christusglaube. Funktionen, Räume und Impulse des Zweifels bei Paulus« (165–183) kommt das Christentum in den Blick. Nicklas nimmt als Ausgangspunkt die These von Whitmarsh, es habe eine antike Tradition von Skepsis gegeben, die mit dem Christentum, das Glauben fordere, geendet habe. Er versucht an Paulus zu zeigen, dass es so eindeutig nicht ist. Dessen Briefe belegten, dass es in den Gemeinden Zweifel und Debatten über Paulus als Person und seine Botschaft gab. Nicklas weist auf die Entwicklungen im paulinischen Denken hin. Er scheine auf kritische Anfragen eingegangen zu sein oder selbst seine Ansichten angepasst zu haben.
David P. Moessner bezeichnet in »Luke as Sceptical ›Insider‹. Re-configuring the ›Tradition‹ by Re-figuring the ›Synoptic‹ Plot« (185–201) das lukanische Doppelwerk als konzeptionelle Umgestaltung des Markusevangeliums. Der Bezug zum Thema des Bandes wird nicht klar.
Benjamin Schliesser widmet sich in »The Gospel for Sceptics. Doubting Thomas (John 20:24–29) and Early Christian Identiy Formation« (203–225) dem sprichwörtlichen zweifelnden Thomas. Thomas werde nicht kritisiert und er fasse Jesus in der berühmten Schlussszene tatsächlich an. Der Beiname Didymos sei ein symbolischer Name: Thomas sei der »Zwillingsbruder« der zweifelnden Leser. Zweifel würden im Evangelium aufgenommen und in einer narrativen Strategie zum Glauben hingeführt.
In Anna Van den Kerchoves »›Why Did You Doubt?‹ Scepticism and Some Nag Hammadi Writings« (227–241) wird unter Skeptizismus (anders als im Rest des Bandes) die philosophische Schule verstanden. Direkte Einflüsse finde man in den gnostisch-christlichen Texten kaum. Skepsis diene als Vorwurf und Kontrastbild: So werfe Clemens Alexandrinus den Gnostikern Uneinigkeit und endloses Suchen vor – ein typisches Argument konkurrierender philosophischer Schulen gegen den Skeptizismus. Die gnostischen Texte selbst präsentierten sich als offenbarte Wahrheit gegenüber der Vielheit an Meinungen und als Ende der Suche.
Richard L. Gordon, »Evading Doubt. Astrology and Magic in the Greco-Roman Period« (243–267), ordnet noch einmal hilfreich das Thema des Bandes in Trends der Erforschung antiker Religionen ein. Dann analysiert er Texte zu Astrologie und Magie aus der Insider-Perspektive. Er arbeitet heraus, mit welchen Strategien Zweifel vermieden werden, z. B. durch Komplexitätssteigerung oder dadurch, dass offensichtliche Misserfolge uminterpretiert werden.
Insgesamt zeigt der Band überzeugend die Relevanz und Fruchtbarkeit der Fragestellung auf. Wie das Vorwort verrät, ist er auf Fortsetzung angelegt. Man darf gespannt sein.