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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

353-355

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Burbach, Christiane [Hg.]

Titel/Untertitel:

Handbuch Personzentrierte Seelsorge und Beratung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Rup-recht 2019. 500 S. m. 6 Abb. u. 1 Tab. Kart. EUR 40,00. ISBN 9783525616277.

Rezensent:

Gunther Schendel

Seit der Seelsorgebewegung der 1970er Jahre sind Carl J. Rogers (1902–1987) und sein personzentrierter Ansatz in der kirchlichen Seelsorge und Beratung beheimatet (vgl. Matthias von Kriegstein, Gesprächspsychotherapie in der Seelsorge, Stuttgart 1977). An diese Tradition der Humanistischen Psychologie knüpft jetzt das um­fangreiche »Handbuch Personzentrierte Seelsorge und Beratung« an, das die emeritierte Praktische Theologin Christiane Burbach herausgegeben hat. Dezidiertes Anliegen dieses Werks ist es, auch mehr als dreißig Jahre nach Rogers’ Tod »die Aktualität, die An­schlussfähigkeit und die Gesprächsfähigkeit des Personzentrierten Ansatzes (PzA) darzustellen« (so Burbach, 9). In insgesamt 39 Beiträgen schlagen Autorinnen und Autoren aus verschiedenen Fachrichtungen sowie kirchlichen und außerkirchlichen Handlungsfeldern einen weiten Bogen.
Im ersten Hauptteil des Buches werden »Grundlagen Personzentrierter Seelsorge und Beratung« vermittelt. In ihrem einleitenden Beitrag vergegenwärtigt die Herausgeberin Grundannahmen des PzA; dabei orientiert sie sich an Rogers’ Kernbegriffen wie der »Aktualisierungstendenz« oder der Erfahrung von »Kongruenz und Inkongruenz«. Kennzeichen des PzA ist danach die »Zentrierung auf das Erleben des Gegenübers« (21). Der Ausgangspunkt besteht in der im Organismus angelegten Wachstumsdynamik jedes Menschen und im Blick auf die »Faszination der Lebenskraft, die in allem Lebenden, auch in dem Menschen, wirksam ist« (20). Ziel der Beratung ist es, etwaige Inkongruenzen zwischen Erfahrungen und dem bisherigen Selbstkonzept durch Empathie dergestalt bewusst zu machen, dass es den Klientinnen und Klienten möglich ist, ihr Selbstkonzept konstruktiv zu verändern (28).
Die weiteren Beiträge dieses ersten Hauptteils unternehmen es, den PzA zu vertiefen und seine bereits erwähnte Anschlussfähigkeit zu diskutieren. Der Akzent gilt dabei dem Menschenbild Rogers’, das der Theologe und Coach Tilman Kingreen von der Me­tapher des »Klangkörpers« her entfaltet (der Mensch als »schwingungsfähiges System«, das aufs Erklingen der »Eigenresonanzen« angelegt ist, 50). Das hier entfaltete Menschenbild wird in den anschließenden Beiträgen sowohl naturwissenschaftlich als auch theologisch kontextualisiert. Den Konvergenzen zwischen der von Rogers hervorgehobenen Bedeutung des personzentrierten Beziehungsangebots zu neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, z. B. über Spiegelneurone, geht der Psychologe Michael Lux nach (82–95). Besonders interessant sind jedoch die weiteren Beiträge dieses ersten Hauptteils, die aus multidisziplinärer Perspektive nicht nur Konvergenzen, sondern auch Spannungen zu anderen Ansätzen aufzeigen. Zwei Beiträge sollen hier kurz herausgegriffen werden: der Artikel des Systematischen Theologen Diederik Noordveld und der Beitrag des Psychotherapeuten Ernst Kern. In beiden Texten wird das spezifische Profil des PzA besonders deutlich.
Der Beitrag von Ernst Kern ist auch deshalb aufschlussreich, weil Kern beide Ansätze aus eigener Praxis kennt: Ursprünglich in der Personzentrierten Therapie ausgebildet, praktiziert er heute eine aktuelle Form der Verhaltenstherapie (Dialektisch Behavoriale Therapie). In seinem Text geht er zunächst auf die ursprünglichen Versionen beider Ansätze zurück und kontrastiert sie miteinander. Während die klassische Form der Verhaltenstherapie von extern induzierten Lernprozessen nach dem Modell des Konditionierens ausgeht, steht im Mittelpunkt des PzA die Selbstaktualisierung. Kern stellt eindrücklich heraus, dass hier Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung das Zentrum des Menschenbildes ausmachen (174). Von daher spricht er von einem klaren »Wertbezug« des PzA, den er in der Autonomie- und Bindungsorientierung der Menschen sieht (175). Das Kontaktangebot, das die Therapeutin bzw. der Therapeut macht, ist dann auch der eigentliche Motor personzentrierter Therapieansätze; denn nach der Grundüberzeugung dieser Ansätze eröffnet eine gelungene Beziehung neue Zu­gänge zu Selbst und Welt.
Auch wenn Kern ausführlich nachzeichnet, wie die Verhaltenstherapie sich weiterentwickelt und in den letzten Jahrzehnten mehr oder weniger stillschweigend zahlreiche Aspekte des PzA in­tegriert hat, betont er die bleibende Bedeutung des humanistischen Anliegens: Ausdrücklich versteht er dies als »Gegenpol gegen einen Zeitgeist der Be- und Vernutzung von sich selbst und von anderen« (185), also eine Verzweckung der Menschen.
Der evangelische Theologe Diederik Noordveld stellt sich in seinem Beitrag einer besonderen Herausforderung: Ihm geht es darum, »die theologische Anschlussfähigkeit« von Rogers’ Menschenbild zu eruieren (97). Klar ist, dass dieses Menschenbild ohne Transzendenz- bzw. Gottesbezug konzipiert ist; plausibel ist die von Noordveld angeführte biographische Spur, die zu Rogers’ »streng calvinistische[r] Kindheit« führt (107). Offensichtlich hat er seine »optimistische«, potenzialorientierte Sicht der Menschen auch im Gegensatz zu einem Menschenbild formuliert, das sich im Wesentlichen auf eine (womöglich auch schlicht moralistisch verstandene) Sündigkeit der Menschen konzentriert. Noordvelds Beitrag ist deshalb weiterführend, weil er sich solchen einfachen Entgegensetzungen entzieht (die es auf christlicher Seite auch gegenüber dem PzA gibt). Als Konvergenzpunkte arbeitet er die »fundamentale Relationalität« (103) und die Prozesshaftigkeit der Menschen heraus, auch wenn beides bei Rogers und in der evangelischen Theologie unterschiedlich gerahmt wird. Hier spielt dann die Haltung zum Gottesbezug tatsächlich eine zentrale Rolle, wenn Rogers von der Selbstaktualisierung ausgeht und die Theologie von der auf Gott ausgerichteten Ebenbildbestimmung der Menschen spricht.
Erhellend ist, wie Noordveld in diesem Zusammenhang einen dezidiert nichtmoralistischen Sündenbegriff formuliert: Sünde ist für ihn im Anklang an Paul Tillich »eine Störung der Selbstverwirklichungstendenz« (106). Insofern verbindet er eine theologische Würdigung der Selbstverwirklichungstendenz (nach der »Gott gerade in der Selbstaktualisierung […] zur Welt kommt«, 111) mit dem Hinweis auf die Grenzen der von Rogers betonten Selbstkongruenz. Sein Leitbild ist die von Henning Luther formulierte Fragmentarität menschlicher Existenz – eine hilfreiche Differenzierung des manchmal recht »glatten« Menschenbildes von Rogers.
Zum Abschluss soll noch auf zwei weitere Beiträge des Handbuchs eingegangen werden. Der emeritierte Gemeindepastor Ulrich Schweingel, Ausbilder für Personzentrierte Seelsorge und Beratung, gibt autobiographisch geprägte Einblicke in eine Ge­meindepraxis, die durch den PzA geprägt ist. Besonders eindrücklich sind seine Bemerkungen zur Organisationsentwicklung, in denen er das Potenzial des humanistischen Ansatzes stark macht. Ausgehend vom entwicklungsorientierten Menschenbild betont er die Bedeutung von Strukturen, die Raum für Entfaltung und den Austausch unterschiedlicher Positionen eröffnen; gerade darin sieht er die »Möglichkeiten einer sachbezogen dienenden Arbeit« (309). Dieses Schlaglicht aus der Praxis liest sich wie eine Kritik an einer einseitigen Organisationsorientierung; möglicherweise kann hier eine Erinnerung an die humanwissenschaftliche Wende der Siebziger- und Achtzigerjahre tatsächlich als Korrektiv dienen.
Aufschlussreich ist schließlich auch ein Beitrag von Christiane Burbach und Tilman Kingreen, in dem sie »Eckpunkte zu den Ausbildungsstandards in Personzentriertem Coaching« skizzieren (431). Dieser Beitrag dokumentiert eine Professionalisierung in der Cochingausbildung, indem relevante Ausbildungsinhalte und Kompetenzen sowie eine entsprechende Professionsethik formuliert werden. Dieser Ansatz zur Professionalisierung und damit zur Qualitätssicherung lässt sich als Versuch verstehen, Rogers’ Anliegen für die Bedingungen der heutigen Arbeitswelt zu aktualisieren. In dieser Arbeitswelt, in der Einzelne und Teams zunehmende Autonomie und Verantwortung bekommen (Agilität), wächst die Bedeutung von Coaching und damit auch die Relevanz eines personzentrierten Ansatzes. Das gilt vor allem, wenn Coaching nicht nur die potenzielle Leistungssteigerung in den Blick nimmt, sondern vor allem auf »berufliche Selbstgestaltungspotenziale« schaut (432).
Insgesamt bietet das Handbuch einen guten und differenzierten Überblick zum aktuellen Stand des PzA in Beratung und Seelsorge. Eine Herausforderung für den PzA bleibt jedoch die Weiterarbeit am Menschenbild. Hierfür scheint der oben erwähnte theologische Beitrag z. B. mit seinem Hinweis auf die Fragmentarität des Menschen hilfreiche Anregungen zu bieten.