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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

349-351

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Pattison, George

Titel/Untertitel:

A Rhetorics of the Word. A Philosophy of Christian Life, Part II.

Verlag:

London u. a.: Oxford University Press 2020. 288 S. Geb. US$ 85,00. ISBN 9780198813514.

Rezensent:

Claudia Welz

Das zu besprechende Buch ist der zweite Band einer Trilogie zur Philosophie des christlichen Lebens. Unter den Motto-Texten, die George Pattison seinem Buch voranstellt, ist Søren Kierkegaards Aussage, eine neue Wissenschaft müsse eingeführt werden: »the Christian art of speaking, to be constructed admodum Aristotle’s Rhetoric«. Die schöpferische, befreiende und sinngebende Macht der Sprache, insbesondere des Wortes Gottes, steht im Zentrum dieses Bandes. Nicht nur Werke von Christen werden einbezogen; vielmehr ist die Entwicklung einer christlichen Rhetorik auch von Juden wie Martin Buber, Franz Rosenzweig und Emmanuel Levinas inspiriert. Dazu passend entstand P.s jüngstes Buch teils am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien in Erfurt, teils am Center for the Study of Jewish Thought in Modern Culture an der Universität Kopenhagen.
Wie schon im ersten Band der Trilogie begegnen wir Philothea, der Gott liebenden, beispielhaft frommen Christin, deren Vorbild die Leser durch die Dynamik von göttlichem Ruf und menschlicher Respons leiten soll. Der Ruf (call) wird als göttliches Wortereignis definiert (word-event), und dementsprechend hat die Berufung (vocation) im Doppelsinn des Von-Gott-gerufen-Werdens und des Gott-Anrufens verbalen Charakter (7 f.). Die christliche Rhetorik P.s steht im Spannungsfeld zwischen dem Poetischen und Politischen (10). »The issue here is not language in general but the specific language-form of the word-event of Christian calling and what this word-event does in the world – or, to be precise, how it does what it does.« (11) Diese Betonung des Wie, der Modalität dessen, was göttliche Sprachformen und menschliche Sprechhandlungen in der Welt ausrichten können, findet sich bereits bei Kierkegaard, z. B. in Der Liebe Tun (1847), seinem Entwurf einer christlichen Ethik, die, wie Ulrich Lincoln in Äußerung (2000) gezeigt hat, als eine Kommunikationstheorie auf der Grundlage der Liebe Gottes als expressiver Realität verstanden werden kann.
P.s Buch ist folgendermaßen aufgebaut: »Introduction« und »Conclusion« rahmen sieben Hauptkapitel ein, deren erstes (»A Crisis of Vocation«) den Zusammenhang von Berufung und Beruf ausgehend von Luther, Kierkegaard, Weber und Heidegger skizziert. In Heideggers Sein und Zeit spielt der Ruf des Gewissens als Bezeugung authentischen Selbstseins, das all unseren sozialen Rollen zu­grunde liegt, eine wichtige Rolle (25–31), worauf P. in Kapitel 6 (»The Call of Conscience«) zurückkommt. Während die vocatio universalis klar und deutlich aus den biblischen Schriften hervorgeht, ist es im Ausgangspunkt weniger deutlich, was Gott von uns als Einzelnen jeweils fordert, weshalb das Gebet als aufmerksames Hören auf Gott essentiell ist (33 f.). Kierkegaards Berufung als religiöser Dichter ist es, »to portray what Christianity is […] in poetic form« (39) – ein Motiv, das P. in Kapitel 7 (»Poetic Vocation«) wieder aufnimmt.
Dass die Frage der Berufung nicht nur existentielle, sondern auch politische Dimensionen hat, zeigt sich in Kapitel 2 (»Political Calling in an Age of Technology«). Sofern die spezifisch christliche Berufung nicht nur Gefühlssache ist, sondern sprachlich artikulierbar ist, wird die »crisis of vocation« eine »crisis of language itself« (41). Mithilfe des russischen Linguisten Valentin Voloshinov argumentiert P. für den sozialen Charakter sprachlicher Interaktion, d. h. die Bedeutung der Berufung kann nicht auf eine subjektive, verborgene Innerlichkeit reduziert werden, sondern muss sich auch in der öffentlichen Sphäre zeigen und bewähren (45). Die Verbindung zwischen Sprache und Politik wird dann im Rückgriff auf Han-nah Arendts The Human Condition verdeutlicht, sofern Reden eine Form des politischen Handelns ist (47 f.), sowie auf Jürgen Habermas’ Theorie kommunikativen Handelns, sofern sie eine Kritik rein strategischen (und damit undemokratischen) Handelns enthält. P.s Hauptfrage lautet: »In an age shaped by digitally mediated strategic thinking, how can we speak any words that might reveal the countenance, the voice, and the name that make us human?« (69)
Dazu gehört die uralte Frage, wie Gottes Wort sich in unserer Sprache kenntlich machen kann, damit wir es hören wollen. Diese Frage führt P. im 3. Kapitel (»Prophetic Calling: At the Burning Bush«) zu Mose (Ex 3,2–15) und der prophetischen Tradition in der Hebräischen Bibel mit den dort geschilderten Berufungsgeschichten: »divine communication« erschöpft sich nicht in »human language« (75). Gott kann auch durch Wetterphänomene und Visionen zu uns ›sprechen‹. Die Übersetzung des Gottesnamens nach Buber-Rosenzweig enthält das göttliche Versprechen, da zu sein (88 f.). In Verlängerung dessen widmet sich das 4. Kapitel (»In the Beginning was the Word«) dem Johannesprolog und damit der christlichen Rezeption und Transformation des hebräischen Gottesnamens im inkarnierten Logos Gottes. Dessen Deutung wird minutiös von Philo, den Kirchenvätern über Meister Eckhart, Fichte, Coleridge bis zu Bultmann, Ebner und Michel Henry nachgezeichnet und kulminiert in P.s eigener Konklusion: »For John, there is no God where there is no Word« (137). Der göttliche Logos sei nicht identisch mit der Ratio (142). Als machtvolles, ins Leben rufendes »word of calling« erinnere das johanneische Wort an Gen 1,1; wirksam werde es in Jesu logoi, die Menschenleben verändern (142 f.). So ist es nur konsequent, dass Kapitel 5 (»At the Name of Jesus«) sich mit dem Gebet als Ruf und Antwort befasst, z. B. der hesychastischen Praxis der Anbetung des Namens Jesu. Hier kommen russisch-orthodoxe Theologen wie Pavel Florensky, Sergius Bulgakov, A. S. Losev sowie Gustav Shpet und Bakthin zu Wort, und P. schlägt vor, dass »a sense of divine calling« gerade »in the realm of everyday prosaics« zu entdecken sei (185).
Die letzten beiden Kapitel widmen sich zunächst der Ethik und dann der Poetik. Kapitel 6 will das Gewissen als »receptor organ for hearing and understanding the Word of God« (188) verständlich machen und beruft sich hierzu auf Röm 2,15. Dort ist allerdings nicht vom Gewissen als einem Organ, sondern von einem Beurteilungs- und Bezeugungsprozess die Rede. P. kritisiert, dass viele einflussreiche Beschreibungen des Gewissens dessen Charakter als Wortereignis verdunkeln, z. B. wenn Joseph Butler es als »moral sense«, »sentiment« und »perception« definiert (192). Stattdessen will P. es nach einem dialogischen Modell definieren und stützt sich, Ricœur folgend, auf Gerhard Ebelings Terminus des »Wort-geschehens« als eines im Gewissen erlebbaren ›Heilsgeschehens‹. Allerdings können wir Ebeling zufolge nicht, wie P. meint, »be saved through attending to the voice of conscience« (201), da diese Stimme nicht ohne Weiteres identisch mit Gottes Stimme ist, sondern auch menschliche Gefühle enthält und Gottes Wort nicht nur erlösendes Evangelium, sondern auch anklagendes Gesetz ist. Unbestritten ist, dass sich im Gewissen das Gottesverhältnis des Menschen manifestiert – und die ethische Forderung. Dass Letztere laut K. E. Løgstrup »silent«, laut Levinas aber »calling« (202) sei »in the medium of sound« (210), lässt sich nur dann behaupten, wenn der von Levinas betonte non-verbale Appell im Angesicht des Anderen ignoriert wird. Im Anschluss an Kants Definition des Gewissens als innerer Gerichtshof, d. h. als »multi-voiced scenario«, argumentiert P., dass im Gewissen auch die Stimmen anderer hörbar werden und es insofern als »vocalized receptivity« zu verstehen sei (196). Hier stellt sich die Frage, ob das Gewissen dann nicht doch nach der Wahrnehmung modelliert wird, was P. eigentlich ausschließen wollte. Im 7. Kapitel zitiert P. Dichter von Vergil über Hölderlin und Dostojewski bis zu Hermann Broch, um zu zeigen, »how, in the event of poetic vocation, language itself may yield possibilities of hope and a new beginning« (244) – und wie Dichter Bibelworte aufnehmen und in ihrer jeweiligen Gegenwart als prophetische, ja messianische, lebenserneuernde Worte hörbar machen können (249).
Der zweite Band der Trilogie P.s diskutiert eine beeindruckende Bandbreite philosophischer, theologischer und literarischer Zu­gänge zu einer christlichen Rhetorik des Gottesworts. An einzelnen Stellen wird P. polemisch. So schießt er ein wenig zu schnell gegen die dialektische Tradition: »Theologies that operate in the tradition of Karl Barth and his theology of the Word of God regard any concern for the hearer of the Word as irrelevant« (69, vgl. 187), kann doch Barths Einführung in die evangelische Theologie (1962) als theologische Phänomenologie des Hörens auf das göttliche Wort gelesen werden (s. den Vortragsband der Emdener Barth-Tagung 2019). Auch überrascht, dass P. sowohl in den Fußnoten (215) als auch in der Bibliographie Beyond the Verse von Levinas in Beyond the Name umtauft, nachdem er die Bedeutung des Na­mens nicht zuletzt in der jüdischen Tradition (92 f.) so sehr hervorgehoben hatte. Dessen ungeachtet bietet auch Band II seiner Trilogie eine Vielzahl aufschlussreicher Einblicke in unterschiedlichste Denktraditionen, die unter dem Leitwort vocation kunstvoll miteinander verwoben und voneinander differenziert werden.