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Ausgabe:

April/2021

Spalte:

347-348

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Nausner, Michael

Titel/Untertitel:

Eine Theologie der Teilhabe.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. 328 S. = Reutlinger Beiträge zur Theologie, 2. Kart. EUR 52,00. ISBN 9783374062164.

Rezensent:

Markus Schmidt

Der evangelisch-methodistische Theologe Michael Nausner hat eine – wohlmöglich die überhaupt erste – Theologie der Teilhabe vorgelegt. »Teilhabe« ist gegenwärtig in aller Munde, spätestens seitdem die UN-Behindertenrechtskonvention dieses Thema 2006 menschenrechtspolitisch verordnet und im selben Jahr die EKD-Armutsdenkschrift »Gerechte Teilhabe« den Terminus in den kirchlichen Diskurs eingeführt haben. Inzwischen prägt er weite Diskussionen im Sozial- und Gesundheitswesen und in der Politik sowie den dazugehörigen Wissenschaften, während er mehr und mehr juristische und fachliche Standards in der Sozialen Arbeit (Diversität und Teilhabe), in Pflege und Therapie (Inklusion und Teilhabe), in der Sozialpolitik und der Pädagogik (Migration und Teilhabe, Bildung und Teilhabe) bestimmt. »Teilhabe« ist die eine Seite der Medaille, auf deren anderer »Inklusion« zu lesen ist. Dabei widerspräche es dem Begriff, ihn allein auf bestimmte marginalisierte Gruppen anzuwenden. Innerhalb einer Gesellschaft der Teilhabe gehören nämlich alle Menschen als Teilnehmende und Teilgebende zu den Teilhabenden. Sozialität und Kommunikativität sind grundlegend für das, was unter Teilhabe verstanden werden soll, und diese sind eng verknüpft mit den Wurzeln einer frei-heitlich-demokratischen Gesellschaftsanschauung. Der allgemeine Ge­brauch des Begriffes »Teilhabe« geschieht häufig einseitig, wie der Vf. treffend herausstellt: Teilhabe steht in der Gefahr, als passives Gut, als Zustand, als methodisch (z. B. sozialpolitisch) zu erlangendes Ziel missverstanden zu werden. Der Schritt zur Ideologie der Teilhabe ist dann nicht mehr weit.
Auf Seiten der theologischen Fächer wird »Teilhabe« bislang in der Diakoniewissenschaft und der Religionspädagogik rezipiert. Allerdings fällt dabei auf, dass überwiegend die sozialpolitische, menschenrechtsbasierte Rede von Teilhabe den Ausgangspunkt bildet und eine eigenständige, über die bloße Rezeption hinausgehende theologische Begründung bislang ausstand. Dem Vf. kommt das Verdienst zu, mit seinem systematisch-theologischen Entwurf Teilhabe umfassend theologisch zu begründen. Dabei versteht und entwickelt er »Teilhabe« als einen theologischen Schlüsselbegriff, aus dessen Perspektive er sowohl dogmatische und ethische Themen bearbeitet als auch spiritualitätstheologisch relevante Praxisformen beleuchtet und damit den Anschluss an die Praktische Theologie zu zeigen weiß.
Der Vf. entwirft die Perspektive genuin theologisch: Teilhabe ist vom Heil her gedacht. Entfaltet wird ein partizipatorisches Heilsverständnis, das von der Anteilhabe des Menschen am Wirken Gottes ausgeht. Heil ist kein von Gott verschiedenes Gut. Gott aber gibt Anteil an sich selbst. Das macht es unmöglich, Gott statisch zu denken. Von der Prozesstheologie herkommend, sieht der Vf. Gottes Wesen, Gottes Macht, Gottes Wahrheit dynamisch und relational. Somit stellt Teilhabe nicht nur eine Grundgegebenheit des ge­schöpflichen Seins dar, so im Anschluss an Paul Tillich, sondern ein Wesensmerkmal Gottes selbst – wenn nicht sogar das Merkmal Gottes, im gekreuzigten Sohn erkennbar. Gott ist Teilhaber: Seine inkarnatorische Bewegung auf die von ihm geschaffene Welt zu und seine radikale Teilhabe an deren Endlichkeit ist Teilnahme und Teilgabe zugleich. An dieser Stelle hätte sich der Rezensent einen ausgeführten trinitätstheologischen Gedankengang ge­wünscht, mit dem die Teilhabe der drei göttlichen Personen aneinander entfaltet worden wäre (vergleichbar mit Augustins Konzeption der immanenten Trinität als dreifacher Liebesbeziehung). Sehr gut macht der Vf. deutlich, dass sich die Spannung zwischen schöpfungstheologischen und christologischen Begründungen, die immer noch in diversen diakoniewissenschaftlichen und reli-gionspädagogischen Entwürfen aufgemacht wird, als Scheinalternative erweist und beide Betrachtungsweisen theologisch keineswegs auseinander dividiert werden können.
»Teilhabe widerfährt einem Menschen zunächst und es ist dieses Widerfahrnis, das ihn dann zu einem aktiv Teilnehmenden werden lässt« (49, Hervorhebung im Original). Teilhabe ist keine Einbahnstraße und mehr als ein passiver Habitus. Es geht um die Teilhabe aller. In diakonischer Sicht bedeutete dies beispielsweise: Teilhabe ist nicht beschränkt, weder auf bestimmte Personen oder Gruppen noch deren Interessen. Auch die gehören zu den Teilhabenden, die nicht herkömmlicherweise zu den Klienten gerechnet werden, sogar jene, die keine Klienten sind. Teilgabe ist nicht identisch mit Fürsorge, sondern beruht auf Partnerschaft. Entsprechend sollen Teilnehmende auch nicht einfach die Rolle der Empfangenden, sondern der in größtmöglicher Autonomie Beteiligten übernehmen. In diesem Sinne stellt der Vf. die ungebrochene se­mantische Bedeutung der lateinischen participatio heraus. »Partizipation« kommt gegenüber »Teilhabe« der Vorteil zu, auch die Aktivität der Teilnahme ausdrücken zu können. Aus der schwedischen Sprache entwickelt der Vf. als Äquivalent das deutsche Substantiv Teilhaftigkeit. Dieser Um­weg wäre gar nicht nötig, ist doch dieses Nomen im Deutschen nur in Vergessenheit geraten, wie das Grimmsche Wörterbuch (Theilhaftigkeit) ausweist. Ich plädiere dafür, in den deutschsprachigen Diskursen vermehrt »Partizipation« zu verwenden, um »Teilhabe« als undeutlichen Modebegriff zu entlasten.
Die theologischen Linien zieht der Vf. in viele verschiedene Richtungen aus: Teilhabe als Grundmerkmal menschlicher Exis-tenz und menschlicher Lebensvollzüge (wie gemeinsam zu essen und zu singen), Teilhabe als Glaubenserfahrung und Glaubenspraxis (Beten als Teilhabe, Abendmahl als Teilhabe), auch hinsichtlich der sozialethischen Dimension der vita christiana (Abendmahl als Quelle der theoretischen und praktischen Ethik). Nicht zuletzt werden in dieser »Theologie der Teilhabe« Gesundheit und Heilung ins Verhältnis gesetzt. Gesundheit versteht der Vf. sozial als die Inklusion unvollkommener – d. h. aller – Menschen. Gegen den einseitigen Heilungsoptimismus (aber nicht gegen Heilungshoffnung), wie er die historische (methodistisch geprägte) Heiligungsbewegung und den gegenwärtigen (Neo-)Pentekostalismus kennzeichnet, stellt der Vf. Heilung wiederum als Prozess heraus, indem er sie von der Anteilhabe an der neuen Schöpfung – und nicht als eigene (spirituelle o. a.) Leistung – interpretiert. So führe die regelmäßige Teilnahme am Abendmahl zur »Teilhabe an der heilenden Anwesenheit Gottes in der Welt« (224) und an Gottes kosmischem Heilungsprozess. »Heilung« umfassend soteriologisch und spiritualitätstheologisch zu definieren, holt sie aus einer technisierten sowie individualistischen Engführung heraus und schützt zu­gleich den Gesundheitsbegriff vor der Fokussierung auf physische Heilung.
Dem methodistischen Theologen fällt es leichter, als es für Protestanten in der Tradition der lutherischen Reformation üblicherweise möglich ist, Rechtfertigung und Heiligung aufeinander zu beziehen. So lassen sich Gnade und Verantwortung nicht nur nicht trennen, sondern müssen sich gegenseitig interpretieren. Die harmlose protestantische Predigt von der Rechtfertigung des Sünders quasi als einer Habe, vergleichbar mit der Problematik eines passiven Teilhabe-Begriffes, wirkt letztlich sowohl sozial schwächend als auch Gemeinde tötend. Rechtfertigung bzw. Gnade ist wie Teilhabe kein individuelles Gut, das man haben oder nicht haben kann. Beide sind Befähigung und Aufgabe, Gemeinschaft zu verwirklichen.