Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2021

Spalte:

345-346

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Mitscherlich-Schönherr, Olivia [Hg.]

Titel/Untertitel:

Gelingendes Sterben. Zeitgenössische Theorien im interdisziplinären Dialog.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2019. VII, 352 S. = Grenzgänge, 1. Geb. EUR 109,95. ISBN 9783110600766.

Rezensent:

Jochen Schmidt

Der von der Münchner Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr herausgegebene Band »Gelingendes Sterben. Zeitgenössische Theorien im interdisziplinären Dialog« bildet den Auftakt der beim Verlag de Gruyter erscheinenden Reihe »Grenzgänge. Studien in Philosophischer Anthropologie«, die von Rainer Anselm, Martin Heinze und der Herausgeberin des vorliegenden Bandes verantwortet wird; ein zweiter Band zum Thema der »gelingenden Geburt« ist für 2021 angekündigt. Die Rede vom »Gelingen« soll anzeigen, dass neben den Aspekten der Selbstbestimmung auch die pathischen Aspekte des Sterbens im Fokus des im Band dokumentierten Nachdenkens stehen. Zum großen Teil gehen die Beiträge auf Vorträge zurück, die 2017 im Rahmen einer Tagung über Gelingendes Sterben gehalten wurden.
Eröffnet wird der Band durch Beiträge zu einem nicht-reduktionistischen Verständnis des menschlichen Sterbens (Teil I). Die Überwindung von leerer Abstraktion in der Beschäftigung mit Fragen des Sterbens prägt nicht nur die Beiträge dieses ersten Teils, sondern ist für den gesamten Band kennzeichnend. Die leitenden Themen der weiteren drei Teile sind individualethische Aspekte des gelingenden Sterbens (Teil II), Sterbebegleitung (Teil III) und die ethische Beurteilung rechtlicher Regelungen von Suizidassistenz und Sterbehilfe (Teil IV). Drei der Beiträge werden im Folgenden vorgestellt.
Andrea Essers Aufsatz »›Übrigens sterben immer die Anderen …‹. Kann man die eigene Sterblichkeit verstehen?« (33–50) ringt mit der Frage, was es bedeutet, tatsächlich zu verstehen, was wir in abstracto bloß wissen: dass wir sterben werden. Das titelgebende Zitat, das auf Marcel Duchamps Geheiß hin auf seinem Grabstein zu lesen ist, markiert den zu überwindenden Hiatus zwischen dem allgemeinen Wissen um die eigene Sterblichkeit und der Herausforderung, sich dieses allgemeine Wissen zu eigen zu machen. Es handelt sich bei dem Zitat, so Esser, um einen ästhetisch-praktischen Satz, der durch seine ironische Brechung zu denken aufgibt. Das, wie Esser es im Rückgriff auf einen Aufsatz von Dolf Sternberger beschreibt, plötzliche »Gewahrwerden« der eigenen Sterblichkeit setzt einen »Moduswechsel« voraus, i. e. den Einbezug emotionaler, leiblicher, sozialer und kommunikativer Dimensionen. Was es bedeutet, nicht-reduktiv, nicht abstrahierend, sondern in einer dem personalen und leibhaften Dasein des Menschen gerecht werdenden Art und Weise vom Tod – oder mit Bezug auf das von Esser gewählte Beispiel: vom Leichnam eines Menschen – zu sprechen, verdeutlicht Esser mit einem Beispiel aus dem Roman Nothing to be frightened of von Julian Barnes. Dass am Leichnam Spuren stattgehabter Lebenspraxis fortbestehen, vermag Barnes’ literarische Inszenierung der Begegnung zweier Romanfiguren mit dem Leichnam ihrer verstorbenen Mutter auszudrücken, während dies in rein begrifflicher Rede nicht möglich wäre. Ästhetisch-praktische Sätze, Kunstwerke vermögen den besagten Moduswechsel, der sich in innerhalb der Grenzen rein begrifflicher Rede kaum ereignen kann, anzustoßen.
Thomas Fuchs arbeitet in seinem Beitrag »Versöhnung mit dem Ungelebten. Zum Gelingen des Lebens im Sterben« (85–100) Facetten »ungelebten Lebens« heraus und fragt, was im Angesicht desselben Trost spenden kann. Ungelebtes Leben ist eine unvermeidliche Dimension der conditio humana. Die Fülle der Möglichkeiten, die sich einem Leben bieten, übersteigt unweigerlich das Maß dessen, was sich in einem endlichen Leben verwirklichen lässt. Die Modi des ungelebten Lebens umfassen das, was Menschen versagt geblieben ist, worauf sie Verzicht geleistet haben, was sie versäumt haben, also unterlassen und mithin verpasst zu haben sie nun be­dauern. Neben oder über diesen konkreten Formen ungelebten Lebens steht diejenige Form des ungelebten Lebens, die sich in dem Gefühl manifestiert, am eigenen Leben vorbeigelebt, das eigene »eigentliche« Leben verfehlt, die gewährte Lebenszeit insgesamt nicht in einer Weise ausgefüllt zu haben, die der Fülle ihrer Möglichkeiten gerecht zu werden vermöchte. Möglichkeiten des Um­gangs mit dem leidvollen Bedauern ungelebter Lebenszeit umfassen auf der einen Seite die therapeutische und praktisch-philo- sophische Intervention, die ggf. auf depressive Momente der ne­gativen Lebensbilanz reagiert, zur Milde mit sich selbst aufruft und übersteigerte Erwartungen an die Kohärenz des eigenen Lebens einzuhegen sucht. Ferner nennt Fuchs drei Grundtypen von »persönlichen Antworten«: (1.) die trotzige Aneignung des gelebten Lebens als einem Versuch, der seine Grenzen und seine eigene Würde hat, (2.) die »Erweiterung des Selbst« durch die Einzeichnung des je eigenen Lebens in übergeordnete Zusammenhänge (politische Ideale, Generativität), (3.) die »mystische« Antwort, die in der Endlichkeit gerade den Impuls zur radikalen Bejahung des Endlichen findet.
Nina Streeck setzt sich in ihrem Beitrag »Der eigene Tod. Anfragen an ein populäres Sterbeideal« (235–254) mit der ihrer Darstellung nach faktisch selbstwidersprüchlichen Aufforderung aus-einander, dass Menschen ihren eigenen Tod sterben, genauer: ihr Sterben selbstbestimmt gestalten sollen. Die Vorstellung eines selbstbestimmten Sterbens leitet sowohl die Palliative Care, die die Selbstbestimmung im Arrangement der situativen Umstände des Sterbens sieht, als auch die Sterbehilfebewegung, die die Würde des Menschen darin gewahrt sieht, dass der Mensch selbst es in der Hand habe, ein in den eigenen Augen unwürdiges Leben in der Sterbephase zu beenden. Palliativversorger »liefern die Mittel zur biopsychosozialspirituellen Sterbegestaltung«, der Patient »dirigiert die individuell zu ihm passende Anwendung des palliativen Programms« (242). Die Sterbehilfebewegung sieht in der Bestimmung über den Zeitpunkt des eigenen Todes einen Akt letzter Selbstbehauptung, eine »Rebellion gegen den körperlichen Verfall« (246), die es den Sterbenden ermöglicht, Kontrolle auszuüben und so ihre Würde zu bewahren. Beide, Palliative Care und Sterbehilfebewegung, eint eine Leidenschaft für Autonomie und Kontrolle, der das Lebensende als zu managendes Projekt gilt – hier kommt der Sinn der Formel vom gelingenden Sterben besonders klar zur Geltung, wobei die Kritik, die Streeck an dem von ihr referierten Ideal übt, zugleich damit zusammenstimmt, dass die Rede vom gelingenden Sterben das Moment des Pathischen nicht ausblenden sollte (s. o.): Die völlig berechtigten emanzipatorischen Anliegen, von denen sowohl die Palliative Care als auch die Sterbehilfebewegung geleitet werden, laufen ihren ursprünglichen Bestrebungen zuwider, wenn der Imperativ, sich um den eigenen Tod zu kümmern, einen Sterbegestaltungszwang nach sich zieht, wenn sich eine Vorstellung festsetzt, wie zu sterben gut sei, oder, um es noch härter zu formulieren, als Streeck es tut: wie gestorben werden muss.
Der Band leuchtet wichtige Facetten seines Themas profund und feinfühlig aus. Auffällig ist die intensive Beschäftigung mit hermeneutischen Dimensionen der Ethik, die zu der Letzteren Schaden oft zu wenig zur Geltung kommen (Erzählung, Literatur, Ästhetik, Verstehen, Interpretation). Man kann sich nur wünschen, dass der Band gerade auch durch diese Weitung der Perspektive das zukünftige Nachdenken über das gelingende Sterben befruchtet.